T 0727/89 13-03-1991
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Vorrichtung zum Bilden einer Fadenreservewicklung
Novelty (affirmed)
inventive step (affirmed)
referral to the Enlarged Board of Appeal (refused)
Neuheit (bejaht)
erfinderische Tätigkeit (bejaht)
Vorlage an die Große Beschwerdekammer (abgelehnt)
I. Die Beschwerdegegnerin ist Inhaberin des am 22. Juli 1987 mit acht Ansprüchen erteilten Patents 0 148 419, dessen einziger unabhängiger Anspruch 1 wie folgt lautet:
"Vorrichtung zum Bilden einer Fadenreservewicklung mit einem mit der Spulenhülse (3) umlaufenden Spulenteller (4), der mit einer Zentrierschulter (41) in den inneren Durchmesser der Spulenhülse (3) eingreift und mit Schlitzen (40) zum Fangen des Fadens (f) versehen ist, die vom Umfang des Spulentellers (4) aus in einem der Drehrichtung der Hülse (3) entgegengesetzten Sinn schräg nach einwärts verlaufen, dadurch gekennzeichnet, daß die Schlitze (40) bis auf die innere Zentrierschulter (41) reichen."
II. Mit der am 15. September 1989 zur Post gegebenen Entscheidung hat die Einspruchsabteilung den von der Beschwerdeführerin gegen dieses Patent eingelegten Einspruch zurückgewiesen. Die Zurückweisung wurde im wesentlichen damit begründet, daß das Dokument CH-A- 625 766 (D1) in seinen Figuren 4 und 5 zwar eine Vorrichtung mit sämtlichen Merkmalen des Oberbegriffs von Anspruch 1 zeige, das einzige kennzeichnende Merkmal durch den Stand der Technik jedoch nicht nahegelegt sei, so daß diesem Anspruch die erforderliche Neuheit und erfinderische Tätigkeit zuzuerkennen sei.
III. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin am 15. November 1989 unter gleichzeitiger Entrichtung der Gebühr Beschwerde eingelegt. Die Begründung wurde am 12. Januar 1990 eingereicht.
IV. Es wurde am 13. März 1991 mündlich verhandelt.
V. Die Beschwerdeführerin führte in ihrer Beschwerdebegründung und in der mündlichen Verhandlung im wesentlichen folgendes aus:
Das kennzeichnende Merkmal des erteilten Anspruchs 1 sei zwar durch die Entgegenhaltung D1 nicht explizit offenbart. Um aber die dort angegebene Klemmwirkung auch bei unterschiedlichen Wandstärken der zum Einsatz gelangenden Spulenhülse zu gewährleisten, müsse der Fangschlitz aber zwangsläufig bis mindestens auf die innere Zentrierschulter reichen. Somit sei auch dieses Merkmal implizit mit offenbart und der Gegenstand dieses Anspruchs nicht mehr neu. Auch in der angefochtenen Entscheidung sei festgestellt worden, daß zwischen der gegenständlichen Ausführung gemäß Figur 3 des angefochtenen Patents und den Figuren 4, 5 und 6 der Entgegenhaltung D1 Übereinstimmung bestehe. Es stelle sich daher die grundsätzliche Frage, ob durch die bloße Angabe einer neuen Wirkung (nämlich das Einziehen des Fadenendes in das Innere der Hülse infolge der dem Fachmann bekannten Voreilung des Spulenhalters gegenüber der Hülse) die Patentfähigkeit begründet werden könne.
Im übrigen werde die gestellte Aufgabe, die sich lediglich auf das Fangen und Klemmen des Fadens beziehe, auch durch die aus der DE-A-2 506 291 (D2) bekannte Vorrichtung gelöst.
VI. Die Beschwerdegegnerin macht demgegenüber geltend, die Entgegenhaltung D1 gebe keinen Hinweis auf die beanspruchte Schlitztiefe. Der Effekt des Voreilens des Spulentellers gegenüber der Hülse sei dem Stand der Technik nicht entnehmbar, sondern stelle vielmehr eine Entdeckung der Beschwerdegegnerin dar, die erst durch die beanspruchte Wahl der Schlitztiefe die Lösung der gestellten Aufgabe ermögliche.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragt:
i) gemäß Artikel 112 EPÜ der Großen Beschwerdekammer die Frage vorzulegen, "ob durch eine Beschreibung der sich (zwangsläufig) ergebenden Wirkungen, die einer Zeichnung einer vorveröffentlichten Druckschrift nicht zu entnehmen sind, eine Erfindung begründet werden kann. Dies insbesondere, wenn der Wortlaut des Anspruchs 1, des Hauptanspruchs, die bekannte Konstruktion gemäß der Figuren der Entgegenhaltung umfaßt".
ii) die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die im Zuge des Prüfungsverfahrens vorgenommenen Änderungen beschränken sich im wesentlichen auf die Angabe der Neigungsrichtung der Fangschlitze in Anspruch 1 und der Beschreibung und sind durch die ursprünglich eingereichten Zeichnungen gestützt.
Einwände unter Artikel 123 (2) EPÜ liegen somit nicht vor.
3. Auslegung von Anspruch 1 Aus dem Wortlaut von Anspruch 1 sowie aus der Beschreibung und den Zeichnungen ergibt sich nach Auffassung der Kammer nichts anderes, als daß die Schlitze bis genau auf die innere Zentrierschulter reichen. Eine Auslegung dahingehend, daß diese Schlitze bis mindestens auf die innere Zentrierschulter reichen, d. h. daß der Schlitzgrund auch tiefer liegen könne, ist auszuschließen.
4. Neuheit
4.1. Zunächst ist festzuhalten, daß die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung keineswegs eine gegenständliche Übereinstimmung zwischen der Ausführungsform gemäß Figur 3 des angefochtenen Patents und der Ausführungsform gemäß den Figuren 4 bis 6 der Entgegenhaltung D1 festgestellt hat. Sie hat vielmehr ausdrücklich festgestellt, daß die Figuren 4 bis 6 der Entgegenhaltung D1 eine Vorrichtung mit lediglich den Merkmalen des Oberbegriffs des erteilten Anspruchs 1 zeigen, daß ferner aus Figur 4 erkennbar sei, daß der Schlitzgrund auf einem kleineren Durchmesser des Spulentellers liegt als der Außendurchmesser der Spulenhülse, daß aber der Entgegenhaltung D1 kein Hinweis auf die Schlitztiefe zu entnehmen sei. Sie kommt daher in Nr. 6 der Entscheidungsgründe u. a. zur Auffassung, daß der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 neu sei im Sinne von Artikel 54 EPÜ.
4.2. Die Kammer schließt sich dieser Auffassung an, da die von der Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren vorgetragene Begründung nicht zu überzeugen vermag: auch die Berücksichtigung der Verwendung von Spulenhülsen unterschiedlicher Wandstärke führt nicht zwangsläufig zur beanspruchten Schlitztiefe. Die in der Beschreibung der Entgegenhaltung D1 genannte Wirkungsweise (Seite 4, rechte Spalte, erster Absatz) tritt auch ein, wenn die Schlitztiefe etwas geringer oder - wie die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung selbst einräumte - größer ist als die beanspruchte. Eine implizite Offenbarung der kennzeichnenden Merkmale von Anspruch 1 ist somit in der Entgegenhaltung D1 nicht enthalten.
4.3. Auch der Inhalt der Entgegenhaltung D2 steht dem Gegenstand von Anspruch 1 nicht neuheitsschädlich entgegen, da bei der von der Beschwerdeführerin in Betracht gezogenen Vorrichtung gemäß den Figuren 11 bis 16 eine Zentrierschulter nicht vorhanden ist.
4.4. Der Gegenstand des Anspruchs 1 gilt daher als neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ.
5. Aufgabe und Lösung In der Beschreibung des angefochtenen Patents wird zunächst die Problematik der freien Fadenenden angesprochen, die während der Bewicklung der Spule herumgeschleudert werden, sich dabei auflösen und ggf. die Reservewicklung lockern. Gemäß Spalte 6, Zeilen 4 bis 14, ist dieser Effekt darauf zurückzuführen, daß infolge der festgestellten Voreilung des Spulentellers gegenüber der Spulenhülse das im Fangschlitz hängende Fadenende aus dem Schlitz herausgezogen wird und somit freikommt.
Die Aufgabe wird demgemäß in der Weise formuliert, "eine Vorrichtung zu schaffen, die das sichere Fangen und Festlegen des Fadenendes bei der Herstellung der Reservewicklung ermöglicht" (Spalte 2, Zeilen 3 bis 6).
Durch die beanspruchte Lösung wird erreicht, daß die Voreilung des Spulenhalters gegenüber der Spulenhülse einen anderen Effekt zeitigt, nämlich den, daß das Fadenende an der Stirnwand der Hülse vorbei ins Innere der Hülse gelangt und dort während des Spulvorganges verbleibt (Spalte 2, Zeilen 12 bis 30 und Spalte 6, Zeilen 15 bis 29). Daß dies auch tatsächlich erreicht wird, wurde von der Beschwerdeführerin nicht bestritten.
Aus diesem Zusammenhang ergibt sich im übrigen auch, daß unter "Festlegen des Fadenendes" nicht das an sich bekannte Klemmen des Fadenendes zu verstehen ist, sondern das kontrollierte Festhalten des Fadenendes in einer Lage, in der es nicht herumgeschleudert wird. Die von der Beschwerdeführerin vertretene Auffassung, der Verbleib des Fadenendes nach dem Festklemmen sei unerheblich für die gestellte Aufgabe, ist somit nicht haltbar.
6. Erfinderische Tätigkeit
6.1. Nach Auffassung der Kammer besteht die oben umrissene Aufgabe auch hinsichtlich des durch die Entgegenhaltung D1 offenbarten nächstkommenden Standes der Technik. Die Entgegenhaltung enthält weder Hinweise auf diese Aufgabe noch Anhaltspunkte zu deren Lösung. Der Figur 4 ist lediglich zu entnehmen, daß der Fangschlitz über den Außendurchmesser der Spulenhülse hinabreicht. Wie weit er reichen soll, ist nicht angegeben und - wie oben ausgeführt - stehen mehrere Möglichkeiten offen. In dieser Situation kann der Fachmann nicht in naheliegender Weise erkennen, daß durch die Wahl der beanspruchten Schlitztiefe der bekannte Effekt des herumschleudernden freien Fadenendes ausbleibt und sich der die gestellte Aufgabe lösende Effekt das Hineinziehen des Fadenende in das Hülseninnere einstellt.
6.2. Die Beschwerdeführerin hat auch geltend gemacht, daß dieser Effekt sich ja zwangsläufig aus der sich ohnehin einstellenden Voreilung des Spulentellers gegenüber der Spulenhülse ergebe und daß dieser Effekt im angefochtenen Patent nun als Aufgabe formuliert werde, um die Erfindung in ein besseres Licht zu rücken.
Dem vermag die Kammer nicht zu folgen. Selbst wenn man die Aufgabe lediglich darin sehen würde, die hinsichtlich der Schlitztiefe unvollständige Lehre der Entgegenhaltung D1 zu komplettieren, ergäbe sich keine andere Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit. Wie bereits erwähnt, ist der Entgegenhaltung D1 lediglich zu entnehmen, daß der Schlitzgrund tiefer liegt als der Außendurchmesser der Hülse. Ansonsten ist der Fachmann aber frei in der Wahl der Schlitztiefe.
Wenn auch einzuräumen ist, daß gegen die beanspruchte Schlitztiefe weder ein technisches Vorurteil noch sonst ein Hemmnis besteht, so wäre doch anzuerkennen, daß der durch die getroffene Wahl sich ergebende, unerwartete und ein nicht unerhebliches technisches Problem lösende Effekt als Indiz für das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit zu werten wäre.
6.3. In der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdeführerin zwar darauf hingewiesen, daß sie Vorrichtungen entsprechend dem aus ihrem Hause stammenden Entgegenhaltung D1 und mit bis auf die Zentrierschulter reichenden Fangschlitz durch Verkauf der Öffentlichkeit zugänglich gemacht habe. Da sie aber keinerlei Beweis angetreten hat, kann die Kammer darauf nicht eingehen.
Darüber hinaus hat die Beschwerdeführerin auch nichts vorgebracht, um zu beweisen, daß das Voreilen des Spulentellers an sich dem Fachmann bereits bekannt war.
6.4. Die Lehre des Dokuments D2 ist vom Gegenstand von Anspruch 1 weiter entfernt als diejenige der Entgegenhaltung D1.
Die dort (Figur 15 und 16) gezeigte Vorrichtung ist nicht gattungsgemäß. Die Hülse liegt auf der Konusfläche eines Zentrierkonus 194 auf (eine Zentrierschulter ist nicht vorhanden), der zusammen mit einem scheibenförmigen Spannteil 195 eine Klemmvorrichtung bildet, in die der Faden durch die Fangnase 185 eingezogen wird (Seite 23 (handschriftlich 32), 1. Absatz). Hierzu muß der durch die Fangnase 185 und das Spannteil 195 gebildete Fangschlitz 198 bis unter den Zentrierkonus reichen. Würde er nur bis zu dessen äußerer Kontur reichen, d. h. etwa entsprechend dem Streitpatent, so könnte die Klemmvorrichtung nicht mehr so wie beschrieben funktionieren.
Im übrigen wird die Erfindungsaufgabe durch diese Vorrichtung nicht gelöst, wie den Figuren 14 und 16 zu entnehmen ist, wo das freie Fadenende deutlich eingezeichnet ist. Die gegenteilige Auffassung der Beschwerdeführerin beruht denn auch auf ihrer unkorrekten Interpretation der Aufgabenstellung.
6.5. Der Gegenstand von Anspruch 1 beruht somit auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.
7. Der unabhängige Anspruch 1 und die abhängigen Ansprüche 2 bis 4, die sich auf besondere Ausführungsformen der Vorrichtung nach Anspruch 1 beziehen, haben daher Bestand.
8. Die von der Beschwerdeführerin genannten Einspruchsgründe nach Artikel 100 EPÜ stehen somit der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung nicht entgegen.
9. Die von der Beschwerdeführerin zur Vorlage an die Große Beschwerdekammer vorgeschlagene Rechtsfrage (Ziffer VIII oben) beruht auf der Auffassung, dem Gegenstand von Anspruch 1 mangele die Neuheit. Nachdem die Kammer aber festgestellt hat, daß der Gegenstand dieses Anspruchs neu ist im Sinne von Artikel 54 EPÜ, konnte die Frage der Patentfähigkeit auch ohne die Beantwortung dieser Rechtsfrage entschieden werden. Zur Vorlage dieser Frage an die Große Beschwerdekammer besteht somit kein Anlaß.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Der Antrag zur Vorlage an die Große Beschwerdekammer wird zurückgewiesen.
2. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.