Stellungnahme G 1/18 über die Unterscheidung zwischen einer als nicht eingelegt geltenden Beschwerde und einer unzulässigen Beschwerde sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen
Haar, 18. Juli 2019
Die Große Beschwerdekammer hat heute die Stellungnahme G 1/18 über die Unterscheidung zwischen einer als nicht eingelegt geltenden Beschwerde und einer unzulässigen Beschwerde sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen erlassen. Die Stellungnahme ergeht auf eine vom Präsidenten des Europäischen Patentamts (EPA) vorgelegte Rechtsfrage hin. Die Große Beschwerdekammer ist die höchste Rechtsprechungsinstanz im Rahmen des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ).
Die Vorlage des Präsidenten des Europäischen Patentamts betraf die Frage, ob eine Beschwerde, wenn die in Artikel 108 EPÜ vorgesehene Frist von zwei Monaten versäumt wird, als nicht eingelegt oder als unzulässig gilt, wobei die Ursache für die Versäumung der zweimonatigen Frist eine verspätete Zahlung der Beschwerdegebühr und/oder eine verspätete Einreichung der Beschwerdeschrift sein kann. Ist eine Beschwerde unzulässig, wird die Beschwerdegebühr nicht zurückgezahlt (Regel 103 (1) EPÜ).
Gemäß Artikel 112 (1) b) EPÜ kann der Präsident des Europäischen Patentamts der Großen Beschwerdekammer eine Rechtsfrage vorlegen, wenn zwei Beschwerdekammern über diese Frage voneinander abweichende Entscheidungen getroffen haben. Im Zusammenhang mit der vorgelegten Rechtsfrage hatten einige Beschwerdekammern die Beschwerde für unzulässig erachtet und somit keinen Anlass für die Rückzahlung der Beschwerdegebühr gesehen. Mehrheitlich wurde in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern jedoch die Auffassung vertreten, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt, was - da keine Beschwerde existiert - eine Rückzahlung der ohne rechtlichen Grund gezahlten Beschwerdegebühr rechtfertigt. Zu klären waren also die Rechtsfrage und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
Die Große Beschwerdekammer hat die ihr vorgelegte Rechtsfrage wie folgt beantwortet (vorläufige Übersetzung für die Zwecke dieser Pressemitteilung):
1. In folgenden Fällen gilt die Beschwerde als nicht eingelegt:
a) wenn die Beschwerdeschrift innerhalb der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr nach Ablauf der Frist von zwei Monaten entrichtet wurde;
b) wenn die Beschwerdeschrift nach Ablauf der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr nach Ablauf der Frist von zwei Monaten entrichtet wurde;
c) wenn die Beschwerdegebühr innerhalb der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ für die Einlegung der Beschwerde vorgesehenen Frist von zwei Monaten entrichtet UND die Beschwerdeschrift nach Ablauf der Frist von zwei Monaten eingereicht wurde.
2. Für die Antworten 1 a) bis 1 c) wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr von Amts wegen angeordnet.
3. Wenn die Beschwerdegebühr innerhalb oder nach Ablauf der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ für die Einlegung der Beschwerde vorgesehenen Frist von zwei Monaten entrichtet UND keine Beschwerdeschrift eingereicht wurde, wird die Beschwerdegebühr zurückgezahlt.
In der Stellungnahme G 1/18 vertritt die Große Beschwerdekammer also die Auffassung, dass die Versäumung der in Artikel 108 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten bewirkt, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt, und nicht, dass sie als unzulässig zurückgewiesen wird. Infolgedessen wird in diesem Fall die gezahlte Beschwerdegebühr zurückerstattet. Damit hat die Große Beschwerdekammer die von den Beschwerdekammern mehrheitlich vertretene Rechtsprechungslinie bestätigt.
Es sei darauf hingewiesen, dass die Antworten auf die vorgelegte Rechtsfrage nicht nur auf Beschwerden, sondern auch auf ähnliche Situationen entsprechend Anwendung finden, so z. B. auf den Einspruch (Artikel 99 (1) EPÜ).
Die Große Beschwerdekammer hat die Stellungnahme in der Besetzung mit sieben Mitgliedern erlassen. Ihr Vorsitzender ist zugleich der Präsident der Beschwerdekammern.
Weitere Informationen:
- Vorlage des Präsidenten des Europäischen Patentamts
- Mitteilung der Großen Beschwerdekammer zum Verfahren G 1/18
- Amicus-curiae-Schriftsätze
- Stellungnahme G 1/18 vom 18. Juli 2019
- frühere Vorlagen zur selben Frage:
Ansprechpartner:
Gérard Weiss
Rechtskundiges Mitglied der Großen Beschwerdekammer und rechtskundiges Mitglied der Beschwerdekammern
Tel.: +49 (0)89 2399 3119
gweiss@epo.org