Neue Wege in der regenerativen Medizin: Eileen Ingham und John Fisher als Finalisten für Europäischen Erfinderpreis 2018 nominiert
- Europäisches Patentamt (EPA) nominiert die Immunologin Eileen Ingham und den Bioingenieur John Fisher CBE (UK) für ihre Entwicklung von abstossungsfreiem Spendergewebe
- Wissenschaftler-Ehepaar gründete Spin-Off-Unternehmen zur Vermarktung
- Methode wird aktuell in der Wundbehandlung genutzt und ist im Zulassungsverfahren für den Herzklappenersatz und weitere Anwendungen
- EPA-Präsident Battistelli: „Die Arbeiten von Ingham und Fisher zeigen, dass die medizinische Forschung in Europa im Bereich regenerative Medizin wichtige Fortschritte erzielt - mit dem Potential, die Lebensqualität unserer immer älter werdenden Bevölkerung zu verbessern. "
München, 24. April 2018 - Die allgemein steigende Lebenserwartung und Zunahme chronischer Leiden wie Diabetes, Herzerkrankungen und Fettleibigkeit belasten unsere Körper. Gelenke, Sehnen und Herzklappen werden stärker und länger denn je beansprucht. Die Immunologin Eileen Ingham und der Bioingenieur John Fisher haben gemeinsam einen neuen Ansatz für die regenerative Medizin entwickelt, der nicht nur das Problem von Überbeanspruchung und Verschleiß lösen könnte, sondern auch bedeutendes Potential für die Behandlung von Komplikationen bei bestimmten Krankheiten bietet: Das britische Forscher-Ehepaar arbeitet mit einem Verfahren, das nahezu alles Zellmaterial und DNA aus Gewebe „herauswäscht". Übrig bleibt nur eine extrazelluläre Matrix, die der Körper mit eigenen Zellen besiedeln kann. Der Prozess wird derzeit für die Entwicklung von neuer Haut sowie neuen Herzklappen und Sehnen genutzt, um die negativen Reaktionen des Immunsystems zu verhindern, die bei fremdem Gewebe normalerweise typisch sind. Möglicherweise können mit Hilfe des Verfahrens in Zukunft sogar komplette Ersatzorgane vom Körper selbst gebildet werden.
Für diese Leistung wurden Ingham und Fisher nun als Finalisten für den Europäischen Erfinderpreis 2018 in der Kategorie „Forschung" nominiert. Der Innovationspreis des EPA wird am 7. Juni 2018 im Rahmen eines Festakts in Paris, Saint-Germain-en-Laye verliehen.
„Die Arbeiten von Ingham und Fisher zeigen, dass die medizinische Forschung in Europa im Bereich regenerative Medizin wichtige Fortschritte erzielt", so EPA-Präsident Benoît Battistelli bei der Bekanntgabe der Finalisten für den Europäischen Erfinderpreis 2018. „In der Kombination ihrer immunologischen und biotechnischen Expertise hat die Methode der beiden Wissenschaftler das Potenzial, die Lebensqualität unserer immer älter werdenden Bevölkerung zu verbessern."
Entwicklung biologischer Stützgerüste
Ingham und Fisher entwickelten einen neuartigen und durch europäische Patente geschützten Dezellularisierungsprozess, mit dem ein zellbasiertes, biokompatibles Gerüst außerhalb des menschlichen Körpers hergestellt werden kann. Diese Gerüststruktur kann dann entweder transplantiert oder auf die Wunde eines Patienten verpflanzt werden, damit körpereigene Zellen sie neu besiedeln. Grundlage dafür ist die Herstellung einer organischen Struktur, die in physischer Form und Funktion dem Originalgewebe gleicht, dabei allerdings zellenfrei ist. Diese Struktur wird durch das Waschen des Spendergewebes geschaffen.
„Dieser Prozess ist neu und unterscheidet sich von anderen, da er das Stützgerüst in einer gewebespezifischen Form herstellen kann, die bei einer Implantation den Eigenschaften des Gewebes entspricht, das geheilt oder ersetzt werden soll", erklärt Fisher.
Als Plattformtechnologie ist die Technik der beiden Wissenschaftler für eine Vielzahl medizinischer Anwendungen nutzbar. Das Verfahren hat sich bereits im Rahmen der Herstellung von spezifischen Ersatzgewebetypen bewährt, wie Haut, Herzklappen und Sehnen. Es wird außerdem für den Ersatz weiterer Gewebearten fortentwickelt, die sowohl aus harten Substanzen wie Knochen als auch aus weichem Gewebe wie Bänder, Meniskus oder Knorpel bestehen. Die Arbeit von Ingham und Fisher hat andere Wissenschaftler dazu angeregt, das Potenzial der Technologie zu erweitern. Dabei stehen noch komplexere Zellstrukturen im Fokus, beispielsweise Nerven.
Das Forscher-Paar entwickelte seine Technologie an der Universität Leeds im Norden Großbritanniens. 2006 gründeten sie gemeinsam das Unternehmen Tissue Regenix (jetzt: Tissue Regenix Group PLC) als Spin-Off der Universität, um ihre Erfindung zu vermarkten. Das Unternehmen hat die Schlüsselpatente der Universität lizenziert und eigene weitere hinzugefügt. Es vermarktet die Technologie inzwischen unter dem Namen dCELL®. Die Methode wird bereits für die Herstellung und Entwicklung einer Reihe medizinischer Implantate und Anwendungen in den Bereichen Wundbehandlung, Herzklappenersatz sowie in der Orthopädie und Chirurgie genutzt.
Bessere Lebensqualität
Die derzeit vielversprechendste Anwendung des Dezellularisierungsverfahrens ist die Behandlung von diabetischen Fußgeschwüren, die bei geschätzt sechs Prozent der rund 415 Millionen Diabetiker weltweit auftreten. Zellfreie menschliche Haut wird genutzt, um die durch Diabetes mellitus verursachten Wunden zu heilen. Diese Behandlung ist sowohl in den USA als auch in Großbritannien zugelassen.
Auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen besteht viel Anwendungspotenzial, wie zum Beispiel beim Herzklappenersatz, einem Spezialgebiet von Fisher: Menschliche Spenderklappen können mittels der Dezellularisierungstechnik fast komplett von ihrem Zellmaterial befreit werden. Das von den Wissenschaftlern entwickelte Waschverfahren stellt sicher, dass es bei Patienten keine Abwehrreaktion des Immunsystems gibt. Herkömmliche mechanische Klappen hingegen erfordern nach der Operation die Einnahme von Medikamenten und herkömmliche biologische Klappen verkalken im Laufe der Zeit. Vorteil der zellfreien Klappen ist, dass sie offenbar geringere Mengen von Kalkablagerungen erzeugen. Nachdem die Anwendung mehr als zehn Jahre lang in Brasilien erfolgreich klinisch getestet worden ist, befindet sie sich jetzt auch bei deutschen Behörden im Zulassungsverfahren für die Nutzung in der EU.
Um Belastung und Schmerzen bei Verletzungen von weichem Gelenkgewebe in Knien und Fußknöcheln zu mindern, hat die Tissue Regenix Group auch Anwendungen für Sehnen entwickelt, die für regenerative orthopädische Behandlungen entweder aus menschlichem oder Gewebe vom Schwein hergestellt werden. Hierzu werden aktuell klinische Studien durchgeführt und das Unternehmen geht davon aus, die Zulassung für seine ersten orthopädischen Sehnen noch in diesem Jahr zu erhalten.
Tissue Regenix ist im Markt für Wundbehandlung aktiv, der derzeit auf 15,8 Milliarden Euro geschätzt wird. Bis 2022 wird zudem erhebliches Wachstum auf 19 Milliarden Euro prognostiziert. Zwischen 2014 und 2016 stieg der jährliche Umsatz des Unternehmens von 6.700 Euro auf 1,6 Millionen Euro stark an. Diese Entwicklung wurde vor allem von dem für die Wundbehandlung entwickelten Produkt getragen, das in den USA von der Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) zugelassen ist. Laut Jahresbericht der Unternehmensgruppe ist der Umsatz für das Jahr 2017 auf rund 6 Millionen Euro gestiegen.
Innovative Partnerschaft
Es war ein Telefonanruf, der vor 25 Jahren die Partnerschaft zwischen Ingham und Fisher initiierte und so das naturwissenschaftliche Knowhow des Bioingenieurs Fisher und Inghams biologische Expertise zusammenbrachte. Ihre Kooperation resultierte in weltweit anerkannter Forschungsarbeit, und gemeinsam haben sie über 700 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht.
Eileen Ingham kam 1972 als Biochemie- und Mikrobiologiestudentin an die Universität Leeds, wo sie später in Immunologie doktorierte und im Jahr 2000 an der biowissenschaftlichen Fakultät der Universität Professorin für medizinische Immunologie wurde. Als Verfechterin und Förderin der Arbeit von Frauen in der Wissenschaft wurde sie von der britischen „Suffrage Science" Initiative gewürdigt. Das Programm stellt die Leistungen von Wissenschaftlerinnen und deren Fähigkeiten, andere zu inspirieren, in den Mittelpunkt seiner Arbeit. 2012 wurde Ingham außerdem mit dem „Queen's Anniversary Prize for Higher and Further Education" ausgezeichnet. Ein Jahr zuvor wurde sie vom „UK Resource Centre for Women in Science, Engineering and Technology" als „Woman of Outstanding Achievement" geehrt. Als angesehene Wissenschaftlerin und Innovatorin wird Ingham in zehn Patenten als Erfinderin aufgeführt. Fünf davon stehen im Zusammenhang mit azellulären biologischen Stützgerüsten.
John Fisher hat mehr als 40 Jahre Erfahrung im Bereich Innovation und Entwicklung medizintechnischer Forschung. 2012 wurde er für seine Leistungen im Sektor der Biomedizintechnik mit der Ernennung zum „Commander of the Order of the British Empire" (CBE) gewürdigt. Er promovierte in Bioingenieurwesen an der Universität Glasgow und wurde 1988 an der Universität Leeds Dozent für Biomedizintechnik. Bis zu seinem Rücktritt 2016 war er 15 Jahre lang Pro-Vize-Kanzler und Stellvertretender Vizekanzler der Universität Leeds.
Ingham und Fisher waren Mitbegründer des Instituts für Medizin- und Biotechnik an der Universität Leeds (Institute of Medical & Biological Engineering - iMBE), das weltweit als eines der führenden Zentren für Forschung und Innovation im Bereich Medizintechnik gilt. Es zählt rund 100 Wissenschaftler und verfügt über ein Einkommen von 57 Millonen Euro aus externen Zuschüssen.
Der Erfolg der beiden Wissenschaftler beschränkt sich nicht nur auf die gemeinsame Laborarbeit: Ingham und Fisher sind seit 1995 verheiratet. Zu den gemeinsamen Interessen gehört ein gesunder Lebensstil, den sie mit Spazierengehen, Joggen und Besuchen im Fitnessstudio pflegen. Obwohl sie in Leeds leben, spielt Inghams Heimatsstadt Manchester beim Fußball noch eine wichtige Rolle: Beide sind leidenschaftliche Anhänger von Manchester United - Dauerkarte inklusive.
Ingham und Fisher haben zwar ein international erfolgreiches Unternehmen gegründet, verbringen aber nach wie vor den Großteil ihrer Zeit im Labor, um die Forschung im Bereich Dezellularisierung weiter voranzutreiben und bahnbrechende Innovationen zu entwickeln: „Im Herzen sind wir Wissenschaftler", so Fisher. „Wenn etwas tatsächlich Realität wird, wovon wir bereits geglaubt hatten, dass es möglich sein könnte, dann sind dies für uns Momente der Freude." Und seine Frau bestätigt: „Etwas Neues zu entdecken, ist einfach unglaublich aufregend, und dieses Gefühl werden wir für ein Leben als Geschäftsleute nicht aufgeben."
Medien- und Servicepaket
Laden Sie unsere App „Innovation TV" auf Ihrem Smart-TV und schauen Sie sich Videoporträts aller Finalisten auf Ihrem TV-Bildschirm an.
Blick auf die Patente: EP1392372 , EP2094325 , EP1624922
Erfolgreiche Ehepaare
Als Team, das sowohl im Privat- als auch Berufsleben erfolgreich ist, sind Ingham und Fisher nicht das erste Ehepaar, das mit einer Nominierung für den Europäischen Erfinderpreis gewürdig wird: Die lebenslange Partnerschaft von Erwin und Ingeborg Hochmair (Finalisten 2014) machte die österreichischen Wissenschaftler zum einzigen Ehepaar, das je für den Preis in der Kategorie „Lebenswerk" nominiert wurde (Ingeborg Hochmair war im Nachgang drei Jahre lang Jurymitglied). In der Kategorie „Forschung" wurde 2016 zudem ein portugiesisches Ehepaar - Elvira Fortunato und Rodrigo Martins - als Finalisten nominiert.
Pressekontakt:
Jana Mittermaier
Direktorin Externe Kommunikation
Rainer Osterwalder
Pressesprecher
EPO Press
Desk
Tel. +49
(0)89 2399 1833
Mobil: +49
(0)163 8399527
press@epo.org