mRNA-Innovation für personalisierte Therapien gegen Krebs und genetische Defekte: Polnisches Forscherteam als Finalisten für den Europäischen Erfinderpreis 2018 nominiert
- Neue Möglichkeiten der Krebsbehandlung - polnisches Team für Preis des Europäischen Patentamts in der Kategorie „Forschung" nominiert
- Erfindung von mRNA-Kappen ermöglicht effektiveren Einsatz gentherapeutischer Verfahren im menschlichen Körper
- Studie: Melanom-Krebsimpfstoff mit dieser Technik zeigt vielversprechende Ergebnisse
- EPA-Präsident Battistelli: „Diese Erfindung zeigt, wie medizinische Forschung in Europa neue Ansätze zur Behandlung von Krebs und anderen schweren Krankheiten eröffnet, von denen Millionen von Menschen profitieren könnten."
München, 24. April 2018 - Um Medizin tatsächlich zu personalisieren und ihre maximale Wirksamkeit sicherzustellen, müssen Behandlungen auch auf molekularer Ebene individuell auf die Patienten und ihre spezifischen Erkrankungen zugeschnitten sein. Das zu erreichen, ist das Ziel der polnischen Wissenschaftler Jacek Jemielity, Joanna Kowalska, Edward Darżynkiewicz und ihres Teams. Sie haben eine robuste, effektive und einfach herzustellende „Kappe" für diejenigen Moleküle entwickelt, die innerhalb einer Zelle Anweisungen zur Herstellung von Proteinen senden: die mRNA. Die Technik der Wissenschaftler eröffnet Möglichkeiten für medizinische Ansätze, die das genetische Nachrichtensystem des Körpers korrigieren, ohne die DNA eines Patienten direkt zu verändern.
Für ihre Leistungen sind Jacek Jemielity, Joanna Kowalska, Edward Darżynkiewicz und ein Team von Wissenschaftlern der Universität Warschau als Finalisten für den Europäischen Erfinderpreis 2018 in der Kategorie „Forschung" nominiert. Die Gewinner werden am 7. Juni in Paris, Saint-Germain-en-Laye, bekanntgegeben.
„Der von den polnischen Forschern verfolgte Ansatz hat das Potenzial, den Anwendungsbereich personalisierter Medikamente mithilfe der Molekularbiologie zu erweitern", erklärte EPA-Präsident Benoît Battistelli bei der Bekanntgabe der Finalisten des Europäischen Erfinderpreises 2018. „Die Forscher zeigen, wie die medizinische Forschung in Europa dazu beiträgt, neue Ansätze zur Behandlung von Krebs und anderen tödlichen Krankheiten zu entwickeln, von denen Millionen von Menschen profitieren könnten."
Mit persönlichem Bezug zu personalisierter Medizin
Für den bioorganischen Chemiker Jacek Jemielity von der Universität Warschau ist die Suche nach neuen Methoden zur Behandlung von Krankheiten wie Krebs sehr nah mit seiner eigenen Lebensgeschichte verbunden: Während sein Team gerade nach Möglichkeiten suchte, stabilere, chemisch modifizierte mRNA als mögliches Therapiemitel zu entwickeln, erkrankte seine Tochter an Leukämie. „Ich verbrachte viel Zeit im Krankenhaus, wo ich Kinder sah, die um ihr Leben kämpften", erzählt Jemielity. „Das war eine enorm wichtige Motivation für meine Arbeit."
Die Tochter des polnischen Forschers wurde auch ohne die Forschung ihres Vaters wieder vollständig gesund. Weltweit erkranken jedoch über zehn Millionen Menschen pro Jahr an verschiedenen Krebsarten. Zusammengenommen stellen diese Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache dar. Standardbehandlungen wie Operation, Strahlentherapie und Chemotherapie haben bereits erhebliche Verbesserungen erfahren. Prognosen aber, dass heute zwei von fünf Menschen in ihrem Leben an Krebs erkranken sowie die daraus resultierenden Verluste an Menschenleben und wirtschaftlichen Belastungen haben jedoch die Erforschung neuer Ansätze in der Krebstherapie zu einem der wichtigsten Ziele der Medizin gemacht.
Ein vielversprechender Weg zur Behandlung von Krebs liegt im Bereich der personalisierten Medizin, in der Therapien auf der eigenen DNA des Patienten basieren. Das Ziel solcher Behandlungen ist es, die genetischen Ursachen der Krankheit anzugehen, indem die spezifischen, krankheitsverursachenden Teile der DNA lokalisiert werden, oder die genetischen Mutationen aufgespürt werden, die für das bei Krebs typische abnormale Zellwachstum verantwortlich sind.
Ein neuer Ansatz zur Modifizierung von mRNA
Menschliche DNA ist aus rund zwanzigtausend Genen aufgebaut, welche die Anweisungen zum Aufbau von Proteinen, Enzymen und anderer Moleküle liefern, aus denen der menschliche Körper besteht. Bisher waren Verfahren zur Veränderung der DNA teuer, schwierig und riskant, sodass nur eine handvoll Gentherapien zugelassen wurden. Diese Therapien beruhen auf modifizierten Retroviren, die an der Abwehr der Zelle vorbeischlüpfen und die neue Information direkt in den Zellkern implantieren können.
Ein weitaus weniger invasiver Ansatz besteht darin, sich darauf zu konzentrieren, wie die DNA-Information an die Ribosomen der Zelle („Proteinfabriken") weitergegeben wird. Spezifische Moleküle, sogenannte Boten-RNA (mRNA), werden von der DNA im Zellkern kodiert und transportieren die Informationen der DNA aus dem Zellkern ins Zytoplasma der Zelle. Dort veranlasst die mRNA die Produktion von Enzymen und Proteinen. Da mRNA von Natur aus kurzlebig ist, würden die Enzyme und Proteine des menschlichen Körpers meist jede modifizierte, von außen eingeführte mRNA abbauen, bevor sie die therapeutische Information an das Ribosom weitergeben könnte.
Basierend auf Forschungsarbeiten, die fast vier Jahrzehnte zurückliegen, haben Jemielity und sein Team einen anderen Ansatz gewählt, indem sie sich auf die besonders fragilen Enden der Boten-RNA konzentrierten. Diese natürlichen Kappenstrukturen („cap") werden durch künstliche, sogenannte 5' (fünf Strich)-Kappen ersetzt, um die mRNA vor dem Zerfall zu schützen.
„Die Kappen-Struktur ist sehr wichtig für den Stoffwechsel der mRNA", erklärt Jemielity. „Eine mRNA, die keine Kappen-Struktur aufweist, unterliegt einer sehr schnellen Zersetzung, dementsprechend wäre sie nicht imstande, ihre Funktion zu erfüllen. Die Kappe bewahrt die mRNA also vor dem Zerfall."
Die Lösung des Teams bestand darin, eines der etwa 80.000 Atome in einem typischen mRNA-Molekül zu verändern, indem ein einzelnes Sauerstoffatom durch ein Schwefelatom ersetzt wird. Dadurch entsteht anstelle der natürlichen eine synthetische Kappe für die mRNA. Ihr patentierter Ansatz, den die polnischen Forscher Beta-S-ARCA nannten, erzeugt eine stabiliserte mRNA, die fünfmal effektiver und deren Lebensdauer in der Zelle dreimal länger ist als die des natürlichen Moleküls. Das öffnete die Tür für mRNA-basierte Therapeutika.
Vom Labor auf den Markt
Nach Anmeldungen der europäischen Patente im Jahr 2008 hat das Team eine Partnerschaft mit BioNTech geschlossen, einem auf Gentherapien spezialisierten Spin-off-Unternehmen der Universität Mainz. Erste klinische Studien zu Therapien mit den von Jemielity und seinem Team entwickelten mRNA-Kappen begannen zwei Jahre später. BioNTech lizensierte danach die stabilisierte mRNA-Technologie an große Pharmaunternehmen, darunter das französische Unternehmen Sanofi SA (im Jahr 2015) und Genentech Inc (im Jahr 2016). Im Juli 2017 veröffentlichte BioNTech vielversprechende Ergebnisse der ersten klinischen Versuche mit einem mRNA-basierten individualisierten Krebsimpfstoff, der die von Jemielity und seinem Team erfundenen Beta-S-ARCA-Kappen nutzt: Acht der 13 teilnehmenden Patienten, die wiederholt Rückfälle des Melanom-Krebses hatten, blieben während der 23-monatigen Testzeit vollständig tumorfrei. Von den fünf anderen, bei denen sich neue Tumore bildeten, zeigte sich bei einer Testperson ein Rückgang des Krebswachstums.
Der getestete Impfstoff, der für andere Krebsarten angepasst werden kann, beruht auf der DNA-Sequenzierung eines Tumors und einem Kreuzvergleich seiner DNA mit der DNA von gesundem Gewebe. Nachdem die Mutationen identifiziert sind, wird dem Patienten künstlich veränderte mRNA injiziert. Das Immunsystem des Körpers kann dadurch Krebszellen identifizieren, Antikörper herstellen und die erkranken Zellen zerstören. BioNTech plant, die Technologie in Kombination mit dem Anti-Krebs-Medikament Tecentriq zu testen.
Das Forscherteam
Die polnischen Wissenschaftler verbringen unzählige Stunden gemeinsam im Labor und sind durch einen starken Teamgeist verbunden, der sie motiviert, weiter an ihrer bahnbrechenden Forschung zu arbeiten. Bereits in den 80er-Jahren war die Universität Warschau weit voraus, als sie die mRNA-Stabilisierung erforschte, lange bevor diese als potenzieller Baustein für lebensrettende Therapeutika erkannt wurde.
Das leitende Mitglied des Teams, Edward Darżynkiewicz, erwarb 1970 seinen Masterabschluss und promovierte 1976 in organischer Chemie an der Universität Warschau. Seit 2009 ist er dort ordentlicher Professor für Physik und leitet das Genexpressionslabor in der Abteilung für Physik sowie das interdisziplinäre Labor für Molekularbiologie und Biophysik des Zentrums für neue Technologien. 2015 erhielt er die Leon-Marchlewski-Medaille für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Biochemie und Biophysik. Er ist Mitautor von 208 wissenschaftlichen Publikationen, drei europäischen Patenten und einem US-Patent.
Jacek Jemielity ist seit 2013 Professor für Bioorganische Chemie am Zentrum für neue Technologien der Universität Warschau und Leiter des Labors für Bioorganische Chemie. Er hat fast 100 wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht und ist in drei europäischen Patenten als Erfinder genannt. Jemielity wurde mit dem Rektorpreis der Universität Warschau für wissenschaftliche Leistungen und dem Preis der Fakultät für Physik ausgezeichnet.
Joanna Kowalska ist seit 2011 Assistenzprofessorin an der Fakultät für Physik in der Abteilung für Biophysik der Universität Warschau und derzeit auch als Projektleiterin tätig. Sie hat mehr als 50 wissenschaftliche Arbeiten verfasst und ist als Erfinderin in drei europäischen Patenten genannt. Kowalska erhielt den zweiten Grad des Rektorpreises der Universität Warschau, den Preis der Fakultät für Physik sowie den Prof. Pieńkowski-Preis.
Jemielity, Kowalska, Darżynkiewicz und ihr Team wurden 2017 in der Kategorie „Forschung & Entwicklung" mit dem Wirtschaftspreis des polnischen Staatspräsidenten für ihre Erfindungen ausgezeichnet.
Medien- und Servicepaket:
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Der Blick auf die Patente: EP2167523, EP2297175
Die Stärke der mRNA
Jemielity und sein Team entwickelten robuste Enden für mRNA-Moleküle ("caps"), die die Proteinbiosynthese revolutionieren und zu Therapeutika der nächsten Generation führen könnten. Sein Team reiht sich in die Riege anderer Finalisten und Preisträger ein, die für ihre Arbeiten zu mRNA-Molekülen geehrt wurden. Das britisch-australische Team von Jason Chin und Oliver Rackham entwickelte Methoden, die den genetischen Informationstransfer von mRNA zu tRNA zu nutzen, um die Proteinsynthese neu zu gestalten (2012: Forschung - Finalisten). Der deutsche Biochemiker Thomas Tuschl hat eine Methode gefunden, um die mRNA- und Proteinproduktion zum Erliegen zu bringen und damit die Grundlage für viele vielversprechende Therapien gelegt.
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