T 2344/13 14-08-2015
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Bolzennaben eines Kolbens für einen Verbrennungsmotor
Zulässigkeit neuer Einspruchsgrund (nein)
Erfinderische Tätigkeit (ja)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 002 159 zurückzuweisen.
Mit dem Einspruch war das gesamte Patent im Hinblick auf Artikel 100 a) i.V.m. 52 (1) und 56 EPÜ 1973 angegriffen worden.
Die Einspruchsabteilung hat insbesondere folgende Druckschriften berücksichtigt:
D1: DE 4441450 A1;
D3: DE 3036062 A1.
II. Am 14. August 2015 hat eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer stattgefunden.
III. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
IV. Anspruch 1 des erteilten Patents lautet wie folgt; die Kammer übernimmt die Merkmalsgliederung durch die Einspruchsabteilung (nachfolgend in eckigen Klammern):
"[a] Bolzennaben (1,21) eines Kolbens (2) für einen Verbrennungsmotor [b] mit je einer Bolzenbohrung (3,22) zum Lagern eines kreiszylindrisch ausgebildeten Kolbenbolzens (17,18,19), [c] die im Bereich (15,15') der Bohrungsmitte (7) eine Ovalität aufweist, wobei [d] die Ovalität der Bolzenbohrung (3,22) von der
Bohrungsmitte (7) ausgehend nach radial außen und
[d1] nach radial innen zunimmt,
dadurch gekennzeichnet, dass [e] die Bolzenbohrung (3,22) im Bereich (15,15') der Bohrungsmitte (7) eine zenitseitige Längsovalität in Richtung der Kolbenachse aufweist, dass [f] die zenitseitige Längsovalität in Richtung der Kolbenachse der Bolzenbohrung (3,22) von der Bohrungsmitte (7) ausgehend nach radial außen und [f1] nach radial innen und [g] die nadirseitige Längsovalität in Richtung der Kolbenachse der Bolzenbohrung (3,22) von der Bohrungsmitte (7) ausgehend nach radial innen zunehmen, und dass [h] der Nadir (8) der Bolzenbohrung (3) einen radial außen liegenden Bereich (9) aufweist, der im Schnitt quer zur Bolzenbohrung (3) halbkreisförmig ausgebildet ist."
V. Die Beschwerdeführerin hat vorgetragen, die Druckschrift D1 stehe dem Anspruch 1 neuheitsschädlich entgegen und der Anspruchsgegenstand beruhe jedenfalls nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit gegenüber einer Kombination der Druckschriften D1 und D3.
Es sei nicht definiert, was genau unter 'Zenit' und 'Nadir' zu verstehen sei, bzw. wo 'oben' und 'unten' sei. Das hänge beim Kolben aber von der Lage ab, in der der Zylinder im Betrieb verwendet wird. Die Erklärung, dies sei als 'dem Brennraum zu/abgewandt' auszulegen, habe keine Grundlage im Streitpatent.
Die Merkmale [f1] und [g] seien in der Druckschrift D1 offenbart. Dazu sei zu beachten, dass der Ausdruck "in Richtung der Kolbenachse" nicht definiert sei. Daher seien alle Verläufe der Ovalität in Richtung der Kolbenachse, also entlang der Kolbenachse oder auf sie zu oder von ihr weg, zu betrachten. Im Merkmal [f1] werde ein Bezug zur Kolbenachse hergestellt, aber dieser Bezug sei ganz allgemein. Irgendetwas müsse in Richtung der Kolbenachse weisen. Aufgrund dieser breiten Formulierung sei das Merkmal [f1] in der Druckschrift D1 offenbart. In den Figuren 5-7 habe man auch eine zenitseitige Längsovalität, die nach radial innen zunimmt, in Richtung der Kolbenachse:
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
"In Richtung der Achse" könne parallel zur Achse sein, aber ein Betrachter, der den Blick auf die Achse richtet, schaue auch in Richtung der Achse. Deshalb ließe dieser Ausdruck unterschiedliche Deutungen zu und die Ovalität der Fig. 6 der Druckschrift D1 entspreche den Merkmalen [f1] und [g]. Dort sei eine Längsovalität offenbart (der Bereich um die Referenzzahl 28).
Zum Merkmal [h] sei zu sagen, dass das Streitpatent weder Wirkung noch Vorteil des Merkmals offenbare. Das Merkmal definiere die Form der Bolzenbohrung am Nadir, also am unteren Scheitelpunkt. Darüber hinaus sei der in der Figur 5 offenbarte Sicherungsring kreisförmig. Die entsprechende Nut sei also auch kreisförmig und entspreche damit dem halbkreisförmigen Bereich, der von Merkmal [h] gefordert wird.
Selbst wenn man darin keine Offenbarung des Merkmals sehe, sei für den Fachmann aus der Druckschrift D1 (Spalte 1, Zeilen 51-56) klar, dass im unteren Bereich der Bolzenbohrung die Probleme geringer seien. Der Fachmann wisse auch, dass eine ovale Bohrung aufwendiger und teurer sei als eine zylinderförmige Bohrung. Er sei sich daher bewusst, dass der Aufwand der Ovalität sich in diesem Bereich nicht lohne. Auf der Suche nach Lösungen für den unteren Bereich würde er z.B. auf die Lösung der Druckschrift D3 stoßen, in der der untere Bereich halbkreisförmig geformt ist.
VI. Die Beschwerdegegnerin hat sich gegen die Einführung des Einspruchsgrunds der mangelnden Neuheit ausgesprochen. Die Beschwerdeführerin habe zur erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes nichts vorgebracht.
Die Begriffe 'Zenit' und 'Nadir' wären in der Beschreibung erklärt; der darauf fußende Einwand sei bestenfalls ein nicht maßgeblicher Klarheitseinwand. 'Zenitseitig' sei als 'dem Brennraum zugewandt' zu verstehen, und 'nadirseitig' als 'dem Brennraum abgewandt', das Merkmal sei somit unabhängig von der Lage, in der der Zylinder im Betrieb verwendet wird.
In der Figur 5 der Druckschrift D1 sei der innere Bereich queroval ausgeführt und nicht längsoval. Längsoval sei nur der Bereich 20. "Längsoval" bedeute, dass die lange Achse des Ovals entlang der Kolbenachse verlaufe. Der Begriff "Längsovalität in Richtung der Kolbenachse" sei in gewisser Weise überbestimmt. Der Fachmann lese das Streitpatent mit dem Willen, es zu verstehen, und betrachte dazu auch die entsprechenden Abbildungen. Er gehe auch davon aus, das die Ausführungsbeispiele den Anspruch verkörpern, und würde so ganz zwanglos zur obigen Auslegung des Begriffs "Längsovalität in Richtung der Kolbenachse" gelangen.
Das Merkmal [h] sei auch nicht offenbart, da die Nut des Sicherungsrings sich nicht (ganz) außen befinde. Die Wirkung des Merkmals bestehe darin, dass die technisch aufwendige Ovalität dort nicht realisiert werde, wo kein Bedarf dazu bestehe.
Deshalb unterscheide sich der Gegenstand von Anspruch 1 in drei der vier 'Quadranten' (oben-unten/innen-außen) von der Offenbarung der Druckschrift D1; nur einer davon sei zufällig gleich. Die Beschwerdeführerin hätte nicht erklärt, wie der Fachmann zu einer derartigen Umgestaltung dieser Merkmale käme und somit den angeblichen Mangel erfinderischer Tätigkeit der Merkmale [f1] und [g] nicht begründet. Nicht einmal eine willkürliche und mosaikartige Kombination der Offenbarung der Druckschriften D1 und D3 würde zum Merkmal [g] führen.
Die Druckschrift D1 (Spalte 1, Zeilen 32-41) beschreibe Risse im Scheitelbereich der Nabe. In einer solchen Lage würde der Fachmann sicher kein Hochoval - also einen kleineren Krümmungsradius - an dieser Stelle vorsehen. Angesichts des Hohlraums im Zenit würde der Bolzen, zumindest im kalten Zustand, an zwei Stellen anliegen und einen Keileffekt erzeugen, was den Zenitbereich belasten würde. Das ginge gerade gegen die Lehre der Druckschrift D1. Das Streitpatent beruht auf der Entdeckung, dass durch die Ovalität Risse im Kolbenboden verhindert werden können, da der Bolzen im heißen Zustand passend anliegt: um die Risse im Nabenzenit zu vermeiden, beschränke man die Ovalität auf den inneren Bereich. Die Belastung werde so auf die Mitte der Bohrung verlagert.
Entscheidungsgründe
1. Die Anmeldung, auf der das Streitpatent beruht, wurde am 23. März 2007 eingereicht. Deshalb ist im vorliegenden Fall in Anwendung von Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 (Sonderausgabe Nr. 4, ABl. EPA 2007, 217) und des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 (Sonderausgabe Nr. 4 ABl. EPA 2007, 219) die Artikel 56 EPÜ 1973 anzuwenden.
2. Anspruchsauslegung
Die Begriffe 'Zenit' und 'Nadir' sind zwar erklärungsbedürftig, aber der Fachmann würde beim Studium der Patentschrift zum Verständnis gelangen, dass es sich um den dem Brennraum (und damit dem Kolbenboden) zugewandten bzw. abgewandten Bohrungsbereich handelt. Er würde auch verstehen, dass diese Begriffe nicht punktförmig zu verstehen sind, da z.B. das Merkmal [h] von Anspruch 1 klar macht, dass der Nadir einen halbkreisförmig ausgebildeten Bereich aufweisen kann.
Die breite Auslegung des Begriffs "in Richtung der Kolbenachse", die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagen wurde, hat die Kammer nicht überzeugt.
Der Fachmann, der sich angesichts des Wortlauts von Anspruch 1 die Frage stellt, was mit "Längsovalität in Richtung der Kolbenachse" gemeint ist, würde ohne Schwierigkeiten verstehen, was die Richtung der Kolbenachse ist, nämlich die Richtung entlang der Kolbenachse, und nicht auf sie zu oder von ihr weg. Auch der Begriff der Längsovalität als solcher ist unproblematisch und würde vom Fachmann so verstanden werden, dass die Bohrung oval ist, also eine lange Achse aufweist. Er würde daher zum Schluss gelangen, dass das Merkmal der "Längsovalität in Richtung der Kolbenachse" dann erfüllt ist, wenn die lange Achse der Bohrungsovalität parallel zur Kolbenachse verläuft.
3. Neuheit
Da die Beschwerdegegnerin sich gegen die Einführung des Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit ausgesprochen hat, sieht sich die Kammer außerstande, diesen Einspruchsgrund in das Verfahren einzuführen.
In diesem Zusammenhang ist der Leitsatz der Entscheidung G 7/95 der Grossen Beschwerdekammer (ABl. EPA 1996, 626) entscheidend:
"Ist gegen ein Patent gemäß Artikel 100 a) EPÜ mit der Begründung Einspruch eingelegt worden, dass die Patentansprüche gegenüber den in der Einspruchsschrift angeführten Entgegenhaltungen keine erfinderische Tätigkeit aufweisen, so gilt ein auf die Artikel 52 (1) und 54 EPÜ gestützter Einwand wegen mangelnder Neuheit als neuer Einspruchsgrund und darf daher nicht ohne das Einverständnis des Patentinhabers in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden. Die Behauptung, dass die nächstliegende Entgegenhaltung für die Patentansprüche neuheitsschädlich ist, kann jedoch bei der Entscheidung über den Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit geprüft werden."
Die Frage der Neuheit des Anspruchsgegenstands gegenüber der Offenbarung der Druckschrift D1, die den nächstliegenden Stand der Technik darstellt (siehe weiter unten, Punkt 4.14.1 ) kann demnach bei der Entscheidung über den Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit geprüft werden.
4. Erfinderische Tätigkeit
4.1 Nächstliegender Stand der Technik
Die Einspruchsabteilung und die Beschwerdeführerin haben die Druckschrift D1 als nächstliegenden Stand der Technik angesehen. Die Kammer sieht keinen Grund, eine andere Wahl zu treffen.
4.2 Unterschiede
Es ist unbestritten, dass die Druckschrift D1 die Merkmale [a] bis [f] offenbart. Strittig ist jedoch, ob auch die Merkmale [f1], [g] und [h] aus der Druckschrift D1 und insbesondere aus deren Ausführungsform der Figuren 4 bis 7 bekannt sind.
4.2.1 Merkmal [f1]
Das Merkmal [f1] verlangt, dass die zenitseitige Längsovalität in Richtung der Kolbenachse der Bolzenbohrung von der Bohrungsmitte ausgehend nach radial innen zunimmt.
Dies ist in der Druckschrift D1 nicht offenbart. Dort ist die Bolzenbohrung von der Bohrungsmitte ausgehend nach radial innen (in der Fig. 5 nach links) zwar oval, aber die lange Achse der Bohrungsovalität verläuft nicht parallel zur Kolbenachse, sondern steht im rechten Winkel dazu. Dies wird besonders deutlich in der Fig. 6 gezeigt.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
4.2.2 Merkmal [g]
Dieses Merkmal verlangt, dass die nadirseitige Längsovalität in Richtung der Kolbenachse der Bolzenbohrung von der Bohrungsmitte ausgehend nach radial innen zunimmt. Auch dieses Merkmal ist in der Druckschrift D1 nicht offenbart. Die Bolzenbohrung ist, von der Bohrungsmitte ausgehend nach radial innen (in der Fig. 5 nach links) zwar oval, aber die lange Achse der Bohrungsovalität ist wiederum nicht parallel zur Kolbenachse, sondern steht im rechten Winkel dazu (siehe Fig. 6).
4.2.3 Merkmal [h]
Gemäß diesem Merkmal muss der Nadir der Bolzenbohrung einen radial außen liegenden Bereich aufweisen, der im Schnitt quer zur Bolzenbohrung halbkreisförmig ausgebildet ist.
Die Bolzenbohrung der Figur 5, auf die sich die Druckschrift D1 (Spalte 3, Zeilen 43 bis 47) bezieht, besitzt im Übergangsbereich 23 eine kreiszylindrische Form: in diesem Bereich ist der Nadir im Schnitt quer zur Bolzenbohrung halbkreisförmig ausgebildet. Allerdings befindet sich dieser Übergangsbereich nicht radial außen ; er kann daher das Merkmal [h] nicht offenbaren.
Da die Kammer zum Schluss gelangt, dass nicht gezeigt wurde, dass die Merkmale [f1] und [g] sich für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergeben (siehe unten, Punkte 4.34.3 und 4.44.4 ), kann dahingestellt bleiben, ob die Nut für den Sicherungsring, die in Fig. 5 vorgesehen ist, das Merkmal [h] offenbart oder nicht.
4.3 Naheliegen
Der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit beruht entscheidend auf der Überzeugung der Beschwerdeführerin, dass die Druckschrift D1 die Merkmale [f1] und [g] offenbart. Diese Auffassung fußt in einer sehr breiten Deutung des Begriffs "Längsovalität in Richtung der Kolbenachse", der die Beschwerdekammer nicht folgt (siehe Punkt 2.2. ).
Die Beschwerdeführerin hat aber nicht dargelegt, weshalb der Fachmann die Bolzenbohrung gemäß der Druckschrift D1 derart verändern würde, dass sie die Merkmale [f1] und [g] - unter Zugrundelegung der von der Kammer bestimmten Auslegung des Begriffs "Längsovalität in Richtung der Kolbenachse"; siehe Punkt 2.2. - aufweist.
4.4 Die Kammer gelangt daher zum Schluss, dass die Beschwerdeführerin nicht überzeugend dargelegt hat, dass sich die Erfindung in nahe liegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt.
Daher hat die Erfindung als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend - im Sinne von Artikel 56 EPÜ 1973 - zu gelten.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.