T 0093/89 (Polyvinylester-Dispersion) 15-11-1990
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1. Ist eine behauptete offenkundige Vorbenutzung nicht ausreichend substantiiert, so ist sie nicht relevant und kann, falls verspätet, nach Artikel 114 (2) EPU unberücksichtigt bleiben.
2. Eine offenkundige Vorbenutzung ist nur dann ausreichend substantiiert, wenn konkrete Umstände angegeben sind, was, wo, wann, wie, durch wen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.
3. Kann die Zusammensetzung eines Handelsproduktes nur durch chemische Analyse festgestellt werden, so sind die Bestandteile des Produkts der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht, wenn für Sachverständige kein Anlaß zur Untersuchung bestand.1
Neuheit (ja)
Offenkundige Vorbenutzung nicht substantiiert und verspätet
Offenkundige Vorbenutzung eines chemischen Handelsprodukts
Handelsprodukt, Anlaß zur chemischen Analyse
Erfinderische Tätigkeit (bestätigt)
Sachverhalt und Anträge
I. Auf die europäische Patentanmeldung Nr. 83 106 782.2, die am
11. Juli 1983 unter Inanspruchnahme der Priorität aus der Voranmeldung vom 16. Juli 1982 (DE 3 226 681) angemeldet worden war, ist am 12. März 1986 das europäische Patent Nr. 100 892 auf der Grundlage von drei Ansprüchen erteilt worden.
Anspruch 1 des ersten Anspruchssatzes für die Vertragsstaaten CH, DE, GB und LI lautete:
"Wässerige Polyvinylester-Dispersion mit einem Feststoffgehalt von 35 bis 65 Gew.-%, dadurch gekennzeichnet, daß 3 bis 60 Gew.-% der dispergierten Partikel einen Durchmesser von kleiner 1 µm aufweisen und zu 95 bis 100 Gew.-% aus Polyvinylacetat oder einem Vinylacetatmischpolymerisat und zu 0 bis 5 Gew.-% aus nativer Stärke bestehen, daß 40 bis 97 Gew.-% der dispergierten Partikel einen Durchmesser von 1 bis 40 µm aufweisen und zu 20 bis 95 Gew.-% aus Polyvinylacetat oder einem Vinylacetatmischpolymerisat und zu 5 bis 80 Gew.-% aus nativer Stärke bestehen, und daß die Dispersion 3 bis 12 Gew.-%, bezogen auf die Gesamtmenge der dispergierten Partikel, Polyvinylalkohol enthält."
Anspruch 1 des zweiten Anspruchsatzes für den Vertragsstaat AT war als Verfahren zur Herstellung einer wässerigen Polyvinylester-Dispersion mit einem Feststoffgehalt von 35 bis 65 Gew.-% formuliert.
II. Gegen die Erteilung des europäischen Patents hat die Einsprechende am 11. Dezember 1986 Einspruch eingelegt und dessen Widerruf wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit beantragt. Zur Stütze ihres Vorbringens hat sie auf folgende Dokumente
(1) Deutsche Patentanmeldung S 39 673 IV a/22i
(2) US-A-2 996 462
sowie auf mehrere später genannte Dokumente verwiesen.
III. Durch Entscheidung vom 23. November 1988, zur Post gegeben am 19. Dezember 1988 hat die Einspruchsabteilung entschieden, das genannte Patent könne in geändertem Umfang aufrechterhalten werden. ...
IV. Gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung hat die unterlegene Einsprechende (Beschwerdeführerin) am 4. Februar 1989 unter gleichzeitiger Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde erhoben und hierzu am 14. April 1989 eine Begründung eingereicht. ...
V. In ihren weiteren Stellungnahmen und vor allem in der mündlichen Verhandlung vom 15. November 1990 hat die Beschwerdeführerin - erstmals andeutungsweise in ihrer Eingabe vom 15. März 1988, mehr als 15 Monate nach Ablauf der Einspruchsfrist - offenkundige Vorbenutzung durch eigene Handelsprodukte geltend gemacht und eine diesbezügliche eidesstattliche Erklärung vorgelegt. ...
VI. ...
Das Vorliegen einer offenkundigen Vorbenutzung hat die Beschwerdegegnerin unter Hinweis auf eigene Analysenergebnisse bestritten.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin hingegen beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPU; sie ist daher zulässig.
2. Das Streitpatent betrifft eine wässerige Polyvinylester- Dispersion sowie ein Verfahren zu ihrer Herstellung und ihre Verwendung. Eine gattungsgemäße Dispersion wird im Verfahren gemäß Dokument (1) eingesetzt, das die Kammer als nächsten Stand der Technik ansieht. Dort wird ein Verfahren zum Verkleben von Holzfußböden auf Betonunterlagen beschrieben, worin ein Leim verwendet wird, der aus 33 bis 95 % Polyvinylacetatdispersion, 2,5 bis 33 % Polyvinylalkohollösung und 2,5 bis 33 % Füllmitteln und Hilfsprodukten besteht (Anspruch 1). Als geeignete Füllmittel werden zahlreiche feingemahlene Industriemehle sowie organische und anorganische Produkte genannt; brauchbare Hilfsprodukte sind Weichmacher, Fällungsmittel sowie organische und anorganische Verbindungen, die dem Parkettleim spezifische Eigenschaften verleihen sollen (Seite 2, Zeilen 45 bis 76). Obwohl die Endbindefestigkeit der Verklebungen mit diesem Parkettleim sehr hoch ist und u. a. das Kleben von dünnem Mosaikparkett auf Beton ermöglicht (Seite 2, Zeilen 77 bis 85), wird diese hohe Festigkeit erst nach 1 bis 4 Stunden erreicht, was für die Verwendung des Klebstoffes im maschinellen Betrieb nachteilig ist.
Die dem Streitpatent zugrundeliegende Aufgabe kann daher darin gesehen werden, eine wässerige Polyvinylester-Dispersion bereitzustellen, mit der eine hohe Festigkeit der Verklebung in kürzerer Zeit erreicht wird, ohne die Endbindefestigkeit zu beeinträchtigen.
Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt - vereinfacht dargestellt - das Streitpatent eine solche wässerige Polyvinylester-Dispersion mit einem Feststoffgehalt von 35 bis 65 Gew.-% vor, worin die dispergierten Partikel unter bimodaler Durchmesserverteilung aus Polyvinylacetat und nativer Stärke bestehen, und die ferner 3 bis 12 Gew.-% Polyvinylalkohol mit bestimmten Kenndaten (Esterzahl und Viskosität) enthält.
4. Nach Prüfung der genannten Dokumente ist die Kammer zu dem Ergebnis gekommen, daß der beanspruchte Lösungsvorschlag diesem druckschriftlichen Stand der Technik gegenüber neu ist. Da die Neuheit insoweit unbestritten ist, erübrigen sich nähere Ausführungen hierzu.
5. Es bleibt zu untersuchen, ob die wässerige Polyvinylester- Dispersion nach Anspruch 1 des ersten Anspruchssatzes auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht. ...
5.4 Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Dokumente (1) und (2) den Fachmann nicht zur Lösung der oben genannten Aufgabe führen können, so daß der Gegenstand des Streitpatents nach Anspruch 1 auf erfinderischer Tätigkeit beruht.
8. Die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte offenkundige Vorbenutzung, nämlich, daß sie vor dem Prioritätstag des Patents Polyvinylacetat-Dispersionsklebstoffe auf den Markt gebracht habe, die (native) Stärke im Sinne des angegriffenen Patents enthalten hätten, läßt die Kammer in Anwendung von Artikel 114 (2) EPU als verspätet vorgebracht unberücksichtigt.
Diese Behauptung hat die Beschwerdeführerin erstmals in ihrem Schriftsatz vom 14. März 1988 ohne irgendeine nähere Substantiierung aufgestellt, also mehr als 15 Monate nach Ablauf der Einspruchsfrist. Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung ist die Beschwerdeführerin auf diese Behauptung in der mündlichen Verhandlung vom 23. November 1988 nicht mehr zurückgekommen, so daß die angefochtene Entscheidung sich dementsprechend mit dieser Behauptung auch nicht auseinandersetzt. Auch in ihrer Beschwerdebegründung vom 12. April 1989 erwähnt die Beschwerdeführerin die behauptete offenkundige Vorbenutzung mit keinem Wort. Erstmals mit Schriftsatz vom 29. August 1989 kommt die Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren auf die im Schriftsatz vom 14. März 1988 angedeutete offenkundige Vorbenutzung zurück, von der sie behauptet, daß sie sie auch in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung erwähnt habe, ohne daß allerdings die Offenkundigkeit dieser Vorbenutzung diskutiert worden wäre. Wer jedoch nach Ablauf der Einspruchsfrist eine offenkundige Vorbenutzung lediglich kursorisch behauptet und nähere Angaben dazu erstmals im Laufe des Beschwerdeverfahrens macht, dessen Vorbringen muß im Sinne des Artikels 114 (2) EPU als verspätet angesehen werden, insbesondere dann, wenn es sich wie im vorliegenden Fall um die eigene Vorbenutzung durch die Beschwerdeführerin handelt.
Ist ein Vorbringen verspätet, so kann es nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (T 156/84 ABl. 1988, 372) nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn es der Kammer sachlich nicht relevant erscheint. Zu dieser Uberzeugung ist die Kammer unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung und insbesondere aufgrund des Verhaltens der Beschwerdeführerin im Einspruchs- und Beschwerdeverfahren gelangt.
8.1 Bei der behaupteten Vorbenutzung handelt es sich um eine eigene Vorbenutzung durch die Beschwerdeführerin. Wenn diese Benutzung tatsächlich nach ihrem Inhalt dem vorliegenden europäischen Patent patenthindernd entgegenstünde, so hätte man nach der allgemeinen Lebenserfahrung erwarten können, daß die Beschwerdeführerin ihren Einspruch von vorneherein auf diesen Grund gestützt hätte. Aus der Tatsache, daß die Beschwerdeführerin selbst ihre eigene Benutzung im Verfahren erster Instanz ohne nähere Substantiierung lediglich vorgetragen und auch im Beschwerdeverfahren nicht in der Beschwerdebegründung erwähnt hat, schließt die Kammer, daß die Beschwerdeführerin offensichtlich selbst dieser behaupteten Benutzung keine größere Bedeutung beigemessen hat, denn sonst hätte sie ihre eigene Benutzung schon mit ihrem Einspruch vorgetragen.
In dieser Schlußfolgerung wird die Kammer durch die Unvollständigkeit des Vortrags der behaupteten Vorbenutzung bestärkt. Eine offenkundige Vorbenutzung ist nur dann ausreichend substantiiert, wenn ausreichend konkrete Umstände angegeben sind, was, wo, wann, wie, durch wen in öffentlich zugänglicher Weise benutzt worden ist (T 300/86 vom 28. August 1989, Punkt 2.7, zitiert im Jahresbericht 1989, Beilage zum ABl. EPA 1990, Heft 6, Seite 25; T 194/86 vom 17. Mai 1988, Punkt 2, Rechtsprechungskartei Gewerblicher Rechtsschutz "EPU 54 Nr. 73"). Ein ausreichender Vortrag muß daher die behauptete Benutzung nach Art, Ort, Zeit unter konkreter Schilderung des Gegenstands sowie der öffentlichen Zugänglichkeit mit der Möglichkeit der Nachbenutzung durch andere Sachverständige enthalten.
Schon die Angabe des Zeitraums der Vorbenutzung "bereits im Jahre 1979" ist so vage gehalten, daß sie kaum als eindeutige Angabe über die Zeit der Vorbenutzung gewertet werden kann.
8.2 Darüber hinaus fehlt es an jeder konkreten Angabe über die Offenkundigkeit der Vorbenutzung. Insofern hat die Beschwerdeführerin lediglich vorgetragen, daß es aufgrund des nächsten Standes der Technik, nämlich der Druckschrift (1), für den Fachmann naheliegend gewesen sein dürfte, ihr Produkt "Ponal express" zu untersuchen und dabei festzustellen, daß in ihm erhebliche Mengen sowohl an Polyvinylalkohol als auch an nativer Stärke vorhanden sind. Mit diesem Vortrag führt die Beschwerdeführerin aus, daß sie selbst die Öffentlichkeit über die Zusammensetzung ihres Produkts nicht informiert hat; das ist auch nur natürlich, da ein Wirtschaftsunternehmen üblicherweise seine Mitbewerber im Markt über Art und Weise der Herstellung seiner Produkte aus eigenem wirtschaftlichem Interesse nicht zu unterrichten pflegt. Dem Produkt als solchem - einem Klebstoff - kann ein Fachmann seine Zusammensetzung nicht ansehen. Dazu bedürfte es einer chemischen Analyse. Für eine solche Analyse bestand aber nach Auffassung der Kammer kein Anlaß.
Die bloße Tatsache, daß eine Firma ein neues Handelsprodukt auf den Markt bringt, stellt für die Mitbewerber dieser Firma noch nicht notwendig einen ausreichenden Anlaß dar, dieses Produkt auf seine Bestandteile zu untersuchen. Es gibt keinen Erfahrungssatz, daß im Wettbewerb stehende Unternehmen sämtliche neuen Produkte ihrer Konkurrenten untersuchen; jedenfalls gilt das für die chemische Zusammensetzung von Handelsprodukten, die auf dem Markt neu angeboten werden. Dazu bedürfte es eines konkreten Anlasses, der eine solche Analyse, die immerhin mit einem Kostenaufwand verbunden ist, rechtfertigen würde. Einen solchen Anlaß vermag die Kammer im vorliegenden Fall nicht zu erkennen. Natürlich sind Konkurrenten daran interessiert, neue Produkte mit ihren eigenen zu vergleichen. Dazu bedarf es aber nicht unbedingt einer chemischen Analyse des neuen Produktes; es genügt vielmehr zunächst die Feststellung der Eigenschaften des neuen Produkts, im vorliegenden Fall des neuen Klebstoffs, dessen Eigenschaften ohne eine Analyse feststellbar sind. Daß das neue Handelsprodukt "Ponal express" der Beschwerdeführerin so besondere Eigenschaften aufgewiesen hätte, die einem Mitwettbewerber zur chemischen Analyse hätten Anlaß geben können, ist nicht vorgetragen. Daher vermag die Kammer in dem bloßen Erscheinen des neuen Handelsproduktes keinen Anlaß zur chemischen Untersuchung zu sehen.
Die Beschwerdeführerin meint, daß die Druckschrift (1) als nächster Stand der Technik für den Fachmann ein naheliegender Grund gewesen sei, das Produkt der Beschwerdeführerin zu untersuchen. Diese Uberlegung beruht nach Meinung der Kammer auf einer lebensfremden Betrachtung des Verhaltens von Mitwettbewerbern. Diese beobachten den Markt aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten, nicht aber mit Patentschriften in ihren Händen. Erst wenn ein Produkt wegen seiner besonderen Eigenschaften interessiert und aus diesem Grunde untersucht und analysiert wird, mag man sich für die Frage, ob die Nachahmung erlaubt ist, mit dem bisherigen Stand der Technik befassen.
Aber selbst wenn ein Sachverständiger das Marktprodukt der Beschwerdeführerin analysiert hätte, wäre er keineswegs sicher gewesen, darin native Stärke als Bestandteil festzustellen, da nach der eigenen Bekundung der Beschwerdeführerin ihr Marktprodukt teils mit, teils ohne native Stärke hergestellt worden ist. Das bedeutet, daß eine chemische Analyse des Handelsproduktes nur zufällig zum Nachweis der Anwesenheit von Stärke geführt hätte. Damit dürfte auch das Fehlen von Stärke im Analysenergebnis der Beschwerdegegnerin (vgl. Schriftsatz vom
14. Februar 1990), die Proben des Handelsprodukts aus der Herstellung vor 1979 und von heute untersucht hat, eine natürliche Erklärung finden.
8.3 Aus all diesen Gründen fehlt der behaupteten Vorbenutzung die Relevanz gegenüber dem angegriffenen Patent, die allein zu einer Berücksichtigung der verspätet vorgetragenen Vorbenutzung hätte führen können. Sie bleibt demgemäß bei der Bewertung der Patentfähigkeit des angegriffenen Patents außer Betracht.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.