T 0491/20 04-07-2023
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VERFAHREN ZUM BETREIBEN EINER BEHÄLTNISBEHANDLUNGSANLAGE MIT STÖRUNGSDIAGNOSE
Sachverhalt und Anträge
I. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) legte form- und fristgerecht Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, mit der das europäische Patent Nr. 2 699 477 wegen mangelnder Ausführbarkeit nach Artikel 100 b) EPÜ widerrufen wurde.
II. Mit Mitteilung gemäß Regel 100 (2) EPÜ vom 27. Januar 2022 teilte die Kammer in der damaligen Zusammensetzung den Parteien ihre vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtslage mit, derzufolge der Beschwerde stattzugeben sein dürfte und dass die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung und Entscheidung zurückverweisen sein dürfte.
III. Mit Schriftsatz vom 25. Mai 2022 nahm die Einsprechende zu der Mitteilung der Kammer Stellung und mit Schriftsatz vom 25. Juli 2022 antwortete die Patentinhaberin darauf.
IV. Mit Schriftsatz vom 2. Mai 2023 beantragte die Einsprechende die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung für den Fall, dass die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden sollte.
V. Am 4. Juli 2023 fand die mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
Die zuletzt gestellten Anträge der Parteien lauten wie folgt:
Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt
oder die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrags 1 oder eines der mit Schriftsatz vom 12. August 2021 eingereichten Hilfsanträge 2 oder 3.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Einsprechende beantragte ferner (siehe Schriftsatz vom 25. Mai 2022, letzte Seite, zweiter und dritter Absatz) die folgenden Fragen der großen Beschwerdekammer vorzulegen:
"Referring to sufficiency of disclosure under art 83 EPC, shall the requirement be met only where all embodiments defined by the permutations caused by OR features defined in an independent claim are explicitly discussed in the specification?
If the answer is no, which is the test to be applied to distinguish between non discussed and insufficiently disclosed embodiments and non discussed and sufficiently disclosed ones?",
die von der Kammer wie folgt ins Deutsche übersetzt werden:
"Ist das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung nach Art 83 EPÜ nur dann erfüllt, wenn alle Ausführungsformen, die durch die in einem unabhängigen Anspruch definierten ODER-Merkmale definiert sind, in der Patentschrift ausdrücklich erläutert sind?
Falls die Antwort nein lautet, welcher Test ist anzuwenden, um zwischen nicht erläuterten und unzureichend offenbarten Ausführungsformen und nicht erläuterten und ausreichend offenbarten Ausführungsformen zu unterscheiden?"
Wegen der Einzelheiten des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll verwiesen.
Der Tenor der Entscheidung wurde am Schluss der Verhandlung verkündet.
VI. Anspruch 1 des Patents in erteilter Fassung lautet:
"Verfahren zum Betreiben einer Behältnisbehandlungsanlage (1), wobei Behältnisse mit
einer ersten Behandlungsvorrichtung (2) dieser Behältnisbehandlungsanlage (1) in einer ersten vorgegebenen Weise behandelt werden, anschließend von dieser ersten Behandlungsvorrichtung (2) zu einer zweiten Behandlungsvorrichtung (4) der Behältnisbehandlungsanlage (1) transportiert werden und anschließend von der zweiten Behandlungsvorrichtung (4) in einer zweiten vorgegebenen Weise behandelt werden, wobei mittels ersten Sensoreinrichtungen (22a, 24a) eine erste Vielzahl von ersten Referenzkennwerten (RK1) aufgenommen wird, welche für die Behandlung der Behältnisse (10) mit der ersten Behandlungsvorrichtung (2) charakteristisch sind und mittels zweiten Sensoreinrichtungen (42a, 44a) eine zweite Vielzahl von zweiten Referenzkennwerten (RK2) aufgenommen wird, welche für die Behandlung der Behältnisse (10) mit der zweiten Behandlungsvorrichtung (4) charakteristisch sind, und wobei diese Referenzkennwerte (RK1, RK2) in einer Speichereinrichtung (16) abgespeichert werden, dadurch gekennzeichnet, dass die Referenzkennwerte (RK1, RK2) mit einem Zeitwert erfasst werden, der für das zeitliche Auftreten des jeweiligen Referenzkennwerts (RK1, RK2) charakteristisch ist und eine Vielzahl von Prüfkennwerten (PK1, PK2) aufgenommen wird und aus einem Vergleich zwischen wenigstens einem dieser Prüfkennwerte (PK1, PK2) und wenigstens einem Referenzkennwert (RK1, RK2) wenigstens eine Information (I) ausgegeben wird, welche für die Ermittlung eines zukünftigen Fehlerzustandes der Anlage charakteristisch ist und wobei der Prüfkennwert (PK1, PK2) und der Referenzkennwert (RK1, RK2) mittels einer Sensoreinrichtung ermittelt werden, welche der ersten oder der zweiten Behandlungsvorrichtung (2, 4) zugeordnet ist und die Informationen (I), welche für die Ermittlung des Fehlerzustandes charakteristisch ist, auf die zweite oder erste Behandlungsvorrichtung (4, 2) bezogen ist."
VII. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Parteien wird im Detail in den Entscheidungsgründen diskutiert.
Entscheidungsgründe
1. Mangelnde Ausführbarkeit (Artikel 100 b) und 83 EPÜ)
1.1 Die Kammer stimmt mit der Patentinhaberin darin überein, dass die angefochtene Entscheidung nicht richtig ist und dass, entgegen der Feststellung der Einspruchsabteilung, die Erfindung des Streitpatent so deutlich und vollständig offenbart ist, dass sie ein Fachmann ausführen kann.
1.2 Gemäß der gefestigten Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist eine Erfindung als hinreichend offenbart anzusehen, wenn mindestens ein Weg deutlich aufgezeigt wird, wie der Fachmann die Erfindung ausführen kann (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern (RdB), 10. Auflage 2022, II.C.7.1.2 zweiter Absatz).
Dies ist bei dem Streitpatent der Fall.
1.3 Die Kammer stellt fest, dass Figuren 3a und 3b im Zusammenhang mit Absatz [0075] bis [0078] des Streitpatents ein Ausführungsbeispiel des Verfahrens gemäß Anspruch 1 zeigen, wobei Prüfungskennwerte in einer Vergleichseinrichtung mit gespeicherten Referenzkennwerten verglichen werden, so dass (siehe insbesondere Absatz [0078] des Streitpatents)
"...Bei diesen Vergleichen ... beispielsweise festgestellt werden [kann], dass diese Prüfkennwerte eine gewisse statistische Ähnlichkeit mit Referenzkennwerten aufweisen, welche im Vorfeld einer Störung aufgetreten sind. Entsprechend kann über Prozessoreinrichtung 18 und eine (nicht gezeigte) Anzeigeeinrichtung die Informationen an einen Benutzer ausgegeben werden, dass in Kürze mit dem Auftreten eines bestimmten Fehlers zu rechnen ist. Auch wäre es möglich, dass die Anlage selbsttätig reagiert und beispielsweise eine Leistung der Anlage reduziert...".
Somit ist dem Fachmann verständlich dargelegt, was er unter "Information eines zukünftigen Fehlerzustandes der Anlage" gemäß Anspruch 1 des Streitpatents verstehen kann.
Die Relevanz des beanspruchten Zeitwerts der Erfassung wird ebenfalls in den Absätzen [0075] bis [0078] des Patents diskutiert, sowie z.B. im Absatz [0079] im Zusammenhang mit Figur 4.
Ferner zeigt das Ausführungsbeispiel von Figur 3a und 3b, wie die in der Patentschrift angegebene Aufgabe gelöst werden kann (siehe Absatz [0003] und [0004] des Patents).
Somit ist die beanspruchte Erfindung im Grundsatz als ausführbar anzusehen.
2. Die Einsprechende brachte folgende Einwände vor, um darzulegen, warum dies ihrer Ansicht nach vorliegend doch nicht der Fall sein soll.
Einerseits stelle das Ausführungsbeispiel von Fig. 3a und 3b zusammen mit den Absätze [0075] bis [0078] der Beschreibung des Streitpatents kein ausführbares Beispiel der beanspruchten Erfindung dar (siehe im Folgenden 2.1 bis 2.5). Andererseits genüge das Beispiel auch nicht für die Ausführbarkeit der Vielzahl von anspruchsgemäßen Ausführungsformen (siehe 2.6). Und schließlich seien die Angaben in der Beschreibung aus weiteren Gründen entweder falsch (siehe nachfolgend 2.7) oder angesichts der Breite des Anspruchs unzureichend (siehe 2.8). Daher sei die beanspruchte Erfindung nicht ausführbar.
2.1 Die Einsprechende argumentiert, dass aus Absatz [0078] nicht zu entnehmen sei, zwischen welcher Art von Prüfkennwerten und Referenzkennwerten der Vergleich durchgeführt werden soll (siehe Seite 1, letzter Absatz sowie Seite 2, achter Absatz ihres Schriftsatzes vom 25. Mai 2022) so dass die Erfindung nicht ausgeführt werden könne.
2.2 Ferner bleibe es unbekannt, zu welchem Zeitpunkt die einzelnen Referenzkennwerte mit entsprechenden Prüfkennwerten vergleichen werden sollen (siehe Seite 2, dritter Absatz des Schriftsatzes der Einsprechenden vom 25. Mai 2022).
2.3 Absatz [0076] und [0078] gäben widersprüchliche Angaben zum Zeitpunkt der Aufnahme der Referenzkennwerten (siehe Punkt 3, Seite 3 des Schriftsatzes der Entsprechenden vom 25. Mai 2022)
2.4 Die im Absatz [0078] erwähnte "statistische Ähnlichkeit" zwischen Prüfkennwerten und Referenzkennwerten sei nicht ausreichend offenbart, weil der Fachmann nicht wisse, wie er stabile Werte erzielen könne (siehe Punkt 4, Seite 3 und 4 des Schriftsatzes der Einsprechenden vom 25. Mai 2022).
2.5 Im Anspruch 1 werde nicht angegeben, dass die Kennwerte zusammen mit einer Zeitinformation gespeichert werden sollen, was aber ein wesentliches Merkmal der Erfindung darstellen soll (siehe Seite 4, Punkt 5 des Schriftsatzes vom 25. Mai 2022).
2.6 Im Anspruch 1 seien mehrere Alternativen wegen der "oder" Verknüpfung im kennzeichnenden Teil des Anspruchs enthalten. Da nicht für alle Alternativen ein Ausführungsbeispiel vorhanden sei, sei die Erfindung nicht ausführbar (Punkt 7, Seite 5 und 6 ihres Schriftsatzes vom 25. Mai 2022).
2.7 Es werde bestritten, dass neuronale Netzwerke zur Umsetzung der beanspruchten Erfindung verwendet werden können (siehe Punkt 8 des Schriftsatzes der Einsprechenden vom 25. Mai 2022).
2.8 Die Einsprechende argumentierte in der mündlichen Verhandlung weiter,
- dass der Anspruch zu breit im Vergleich zur Offenbarung des Patents sei, wo nur ein bestimmtes Ausführungsbeispiel angegeben wird,
- dass vom Anspruch 1 des Streitpatents die Ermittlung von zahlreichen bzw. allen Fehlerzuständen der Behältnisbehandlungsanlage umfasst werde, ohne dass erklärt würde, wie eine solche Ermittlung durchgeführt werden könne, und
- dass im Absatz [0028] eine große Menge an Kennwerten erwähnt werde, ohne eine Beziehung zwischen den angegebenen möglichen Kennwerten und spezifischen Fehlerzuständen der Anlage anzugeben.
2.9 Ferner zitierte die Einsprechende in der mündlichen Verhandlung die Entscheidungen T623/16 und T1064/15, um ihre Ansicht zu belegen, wonach die große Anzahl von Kennwerten, die in Absatz [0028] erwähnt werden, zu einer unzureichenden Offenbarung führe.
3. Die Kammer ist aus folgenden Gründen von der Einwänden der Einsprechenden nicht überzeugt.
3.1 Die Kammer schließt sich der Patentinhaberin an, (siehe Seite 2, zweiter und dritter Absatz ihres Schriftsatzes vom 25. Juli 2022), dass der Fachmann mit Hilfe des allgemeinen Fachwissens nur gleichartige physikalische Größen vergleichen würde (siehe Punkt 2.1 oben).
3.2 Die Kammer schließt sich der Patentinhaberin an (siehe Seite 4, zweiter Absatz ihres Schriftsatzes vom 25. Juli 2022), dass es aus den Absätzen [0075] bis [0078] des Streitpatents zu entnehmen ist, dass die Prüfkennwerte mit Referenzkennwerten verglichen werden, die jeweils zum vergleichbaren Zeitpunkt aufgenommen werden (siehe Punkt 2.2 oben).
3.3 Absatz [0076] und [0078] geben keine widersprüchliche Angaben zum Zeitpunkt der Aufnahme der Referenzkennwerten (siehe Punkt 2.3 oben), da kein Widerspruch vorliegt, sondern beide Möglichkeiten vorgesehen sind: die Aufnahme vor oder die Aufnahme während eines Fehlerzustandes, wie von der Patentinhaberin vorgebracht (siehe Seite 5, dritter Absatz - Seite 6, zweiter Absatz ihres Schriftsatzes vom 25. Juli 2022).
3.4 Dass die im Absatz [0078] erwähnte "statistische Ähnlichkeit" zwischen Prüfkennwerten und Referenzkennwerten nicht ausreichend offenbart sei (siehe Punkt 2.4 oben), überzeugt nicht weil die Einsprechende nicht weiter erklärt hat, wieso der Fachmann mit dem allgemeinen Fachwissen eine statistische Analyse der Dateien nicht durchführen könne (siehe auch Schriftsatz der Patentinhaberin vom 22. Juli 2022, Seite 6, dritter bis fünften Absatz)
3.5 Dass ein wesentliche Merkmal im Anspruch 1 fehlt, und daher die Erfindung nicht ausführbar sei (siehe Punkt 2.5 oben) überzeugt nicht, weil nicht weiter erklärt wurde, wieso dies zu einer nicht ausreichende Offenbarung führen sollte (siehe auch Schriftsatz der Patentinhaberin vom 22. Juli 2022, Seite 6, letzter Absatz - Seite 7, dritter Absatz).
Selbst wenn das Merkmal, dass die Kennwerte zusammen mit Zeitinformation zu speichern sind wesentlich für die Erfindung sein sollte, so stellt dies keinen Fall von mangelnder Offenbarung dar. Ob hier ggf. ein Klarheitsmangel vorliegt, kann dahinstehen.
3.6 Das Argument, dass aufgrund der vorhandenen mehreren Alternativen ohne Ausführungsbeispiel (siehe Punkt 2.6 oben) eine fehlende Ausführbarkeit vorliegt, überzeugt nicht, weil die Einsprechende nicht näher begründet hat, wieso die Alternativen, für die ein explizites Ausführungsbeispiel fehlt, nicht mit Hilfe des allgemeinen Fachwissen ausführbar seien (siehe auch Seite 7, vierter und fünften Absatz des Schriftsatzes der Patentinhaberin vom 22. Juli 2022 und RdB, supra, II.C.4.1, insbesondere achter Absatz).
3.7 Das Argument bezüglich der Verwendung der neuronalen Netzwerke (siehe Punkt 2.7) überzeugt nicht, da die neuronalen Netzwerke kein Merkmal des Anspruchs sind.
3.8 Das Argument bezüglich der Breite des Anspruchs im Vergleich zur Offenbarung des Streitpatents (siehe Punkt 2.8 oben) überzeugt nicht, weil es die Erfordernisse der Klarheit betrifft, die in diesem Verfahren nicht zu berücksichtigen sind (siehe die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 3/14).
3.9 Die Entscheidungen T623/16 und T1604/15 (siehe Punkt 2.9 oben) sind für den vorliegenden Fall nicht einschlägig.
In T623/16 (siehe Punkt 3.6.2 der Entscheidungsgründe) hat die Kammer festgestellt, dass der Fachmann eine Vielzahl von Parametern variieren müsste, um die Erfindung auszuführen. Im vorliegenden Fall werden stattdessen mehrere Kennwerten bzw. Parameter derselben Art miteinander verglichen, um einen Fehlerzustand zu identifizieren. In Anbetracht der unterschiedlichen Sachlage ist diese Entscheidung für den vorliegenden Fall nicht relevant.
In T1064/15 stellte die Kammer fest (siehe Punkt 3.9 der Entscheidungsgründe), dass der Fachmann nicht in der Lage ist, zu bestimmen, welche Abmessung mit dem Ausdruck "Durchmesser (SD)" für einen wesentlichen Teil des Anspruchs gemeint ist. Vorliegend mögen viele verschiedene Kennwerte unter den Anspruch fallen, aber es besteht kein Problem betreffend eine Begriffsbestimmung in einem Merkmal des Anspruchs, so dass diese Entscheidung aufgrund der unterschiedlichen Sachlage für den vorliegenden Fall ebenfalls nicht relevant ist.
4. Vorlagenfragen
4.1 Dem Antrag der Einsprechenden die beiden o.g. Fragen (siehe Punkt V oben) der großen Beschwerdekammer vorzulegen wird nicht statt geben.
4.2 Die Einsprechende möchte durch die große Beschwerdekammer geklärt haben, ob alle beanspruchten Ausführungsbeispiele, die sich durch "ODER"-Kombinationen von Merkmalen im Anspruchswortlaut ergeben, ausdrücklich in der Beschreibung erläutert sein müssen, und wenn nicht, welcher Test anzuwenden sei, um zwischen ausreichend offenbarten und nicht ausreichend offenbarten Ausführungen zu unterscheiden.
4.3 Gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ steht es im Ermessen der Kammer, die Große Beschwerdekammer zu befassen, wenn sie eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder zur Klärung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung für erforderlich hält.
Der Antrag auf die Vorlage ist von der Einsprechenden nur mit dem Hinweis gerechtfertigt worden, dass "oder"-Merkmale bereits in der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer behandelt worden seien, so etwa in G1/15, und daher eine spezifische Kategorie bilden würden (siehe Schriftsatz datiert auf 25. Mai 2022, eingegangen am 24. Mai 2022, letzte Seite, zweiter Absatz). Diese pauschale Feststellung genügt allerdings nicht, um die Vorlage der im Punkt V oben gestellten Fragen zu begründen.
In der Tat hat die Einsprechende weder divergierende Rechtsprechung vorgelegt, noch vorgebracht, aus welchen Gründen eine einheitliche Rechtsanwendung gesichert werden sollte. Alleine die Tatsache, dass die Große Beschwerdekammer sich an anderer Stelle bereits mit "oder"-Merkmalen befasst hat, belegt auch weder, dass eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorliegt, noch welche dies wäre, noch warum sie einer Klärung im Sinne der vorgelegten Fragen bedürfte.
Auch sieht die Kammer keine Veranlassung, die Fragen der Grossen Beschwerdekammer vorzulegen, da die möglichen Antworten darauf für den vorliegenden Fall keine Bedeutung haben.
Die Voraussetzungen für eine Vorlage gemäß Artikel 112(1) a) EPÜ sind somit nicht erfüllt.
5. Zurückverweisung
5.1 Die Einsprechende beantragt die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung der Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 a) EPÜ für den Fall, dass die angefochtenen Entscheidung aufgehoben werden sollte.
Die Patentinhaberin hat keine Einwände gegen eine Zurückverweisung.
5.2 Nach Artikel 11 VOBK 2020 verweist eine Kammer die Angelegenheit dann zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurück, wenn besondere Gründe dafür sprechen.
5.3 Von der Einspruchsabteilung wurde über die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes des Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung keine Entscheidung getroffen.
5.4 Vor den obigen Hintergrund gelangt die Kammer nach Abwägung aller relevanten Umstände des vorliegenden Falles zum Ergebnis, dass die Behandlung der im vorliegenden Fall noch offenen relevanten Fragen, nämlich die Prüfung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit, keine gerichtliche Überprüfung einer angefochtenen Entscheidung beinhalten würde, wie sie gemäß Artikel 12(2) VOBK vorrangiges Ziel des Beschwerdeverfahrens ist, sondern eine erstmalige Befassung der Kammer mit völlig neuen Gegenständen bedingte, die einerseits nicht ohne erheblichen Aufwand erfolgen könnte und andererseits eine Entscheidung ohne Überprüfungsmöglichkeit für die Parteien bedeuten würde, so dass besondere Gründe im Sinne von Artikel 11, erster Satz, VOBK 2020 vorliegen, gemäß Artikel 111 (1) EPÜ die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen, wie auch von der Einsprechenden beantragt wird.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Behandlung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.