D 0021/22 01-03-2023
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I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungskommission vom 6. Juli 2022, in der festgestellt wurde, dass die Prüfungsarbeit der Beschwerdeführerin zur Aufgabe A der europäischen Eignungsprüfung 2022 (im Folgenden: Aufgabe A) mit 43 Punkten und damit mit der Note "NICHT BESTANDEN" bewertet wurde.
II. Mit Schreiben vom 3. August 2022, das am 4. August 2022 beim EPA einging, legte die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidung der Prüfungskommission vom 6. Juli 2022 Beschwerde ein und begründete diese. Sie entrichtete die vorgeschriebene Beschwerdegebühr.
III. Das Prüfungssekretariat legte die Beschwerde der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten (Beschwerdekammer) mit Schreiben vom 15. September 2022 vor und teilte mit, dass die Prüfungskommission beschlossen habe, der Beschwerde nicht abzuhelfen.
IV. Weder der Präsident des Europäischen Patentamtes noch der Präsident des Rats des Instituts der zugelassenen Vertreter, denen nach Artikel 24 (4) Satz 1 VEP in Verbindung mit Artikel 12 VDV Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden war, äußerten sich schriftlich zur Beschwerde.
V. Zur Begründung ihrer Beschwerde machte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen Folgendes geltend:
a) Es seien zwar keine Ansprüche formuliert worden, die auf die Herstellung von Papierpulpe oder die Papierpulpe als Zwischenprodukt gerichtet waren, wie dies erwartet worden war. Dennoch habe die Beschwerdeführerin zwei Verfahrensansprüche formuliert, die auf die Herstellung von Papier gerichtet waren. Die Bewertung der auf die Herstellung von Papier gerichteten Verfahren mit 0 Punkten verstoße gegen das Verbot der Doppelbestrafung der fairen Bewertung. Die Schritte c) bis f) der Herstellungsverfahren entsprächen den Schritten a) bis d) des Verfahrens zur Herstellung von Papier(bögen) gemäß Prüferbericht (Punkt 3.4). Der Unterschied läge in der Bereitstellung der Pulpe, die von der Beschwerdeführerin jeweils als Verfahrensschritte a) und b) beansprucht worden seien. Beim zweiten Verfahrensanspruch entsprächen die Schritte a) und b) dem Verfahren zur Herstellung von Papierpulpe der Musterlösung. Abweichend habe die Beschwerdeführerin im Schritt b) das Schlagstampfen durch die Verwendung des Stampfwerks nach einem der Vorrichtungsansprüche charakterisiert. Soweit wegen diesen Abweichungen von der Musterlösung dem von der Beschwerdeführerin formulierten Herstellungsverfahren von Papier keine Punkte zuerkannt wurden, liege eine Doppelbestrafung vor. Denn etwaige Unzulänglichkeiten der Schritte a) und b) seien schon durch den Abzug von 28 Punkten wegen des Fehlens eines auf die Herstellung von Papierpulpe oder auf die Papierpulpe als Zwischenprodukt gerichteten Anspruchs abgegolten.
b) Der Punkteabzug für den unabhängigen Vorrichtungsanspruch betreffend ein Stampfwerk zum Schlagen von Pulpe sei rechtsfehlerhaft. Der von der Beschwerdeführerin formulierte Anspruch habe sich in drei Punkten von der Musterlösung unterschieden:
i) Durch die Angabe der Eignung der Vorrichtung als "Schlagen von Pulpe" statt "Herstellung von Pulpe" im Oberbegriff;
ii) durch das Merkmal "Kopf-Schaft-Winkel (alpha) unter 90 Grad" statt "Kopf-Schaft-Winkel (alpha) ... ungleich 90 Grad"; und
iii) durch das zusätzliche Merkmal "sodass das Volumen an Pulpe im Bottich (1), das bewegt wird, wenn der Hammerkopf (2) sich hebt und senkt, zunimmt".
Der Unterschied i) rechtfertige keinen Abzug. Ein Abzug wegen Klarheitsmangel für den Unterschied ii) sei auch nicht berechtigt, da inhaltlich kein Unterschied zur Musterlösung auszumachen sei. Unterschied iii) allein rechtfertige keinen Abzug von 11 Punkten, jedenfalls aber keinen Abzug von 6 Punkten, da dieses Merkmal zu keiner unnötigen Einschränkung des Schutzumfangs führe und auch zu keinem schwerwiegenden Klarheitseinwand Anlass gäbe. Die Bewertung sei daher unfair.
VI. Die Beschwerdeführerin beantragte,
a) dass die angefochtene Entscheidung der Prüfungskommission vom 6. Juli 2022 aufgehoben und der Aufgabe A der Beschwerdeführerin mindestens die Note "NICHT BESTANDEN MIT AUSGLEICHSMÖGLICHKEIT" in einer direkten Entscheidung zugesprochen wird;
b) hilfsweise, dass die angefochtene Entscheidung der Prüfungskommission vom 6. Juli 2022 aufgehoben, die Aufgabe A der Beschwerdeführerin an die Prüfungskommission zur erneuten Prüfung zurückverwiesen und der Aufgabe A der Beschwerdeführerin mindestens die Note "NICHT BESTANDEN MIT AUSGLEICHSMÖGLICHKEIT" zugesprochen wird;
c) dass die Beschwerdegebühr zurückerstattet wird;
d) dass die Anmelde- und Prüfungsgebühr, die von der Beschwerdeführerin für die Aufgabe A der EEP 2023 bereits gezahlt wurde, zurückerstattet wird, falls der Aufgabe A der Beschwerdeführerin mindestens die Note "NICHT BESTANDEN MIT AUSGLEICHSMÖGLICHKEIT" zugesprochen wird.
VII. Für die Einzelheiten der streitigen Prüfungsaufgabe wird auf die veröffentlichte Prüfungsaufgabe und den entsprechenden Prüferbericht verwiesen, die auf der Website des Europäischen Patentamts unter https://www.epo.org/learning/eqe/compendium_de.html abrufbar sind.
1. Verfahren zur Herstellung von Papier
1.1 Die Beschwerdeführerin hat keinen unabhängigen Anspruch formuliert, der auf die Herstellung von Papierpulpe gerichtet ist, und auch keinen Anspruch, der auf die durch das Verfahren erhaltene Papierpulpe als Zwischenprodukt gerichtet ist. Insoweit blieb die Arbeit unbestrittenermaßen hinter den Erwartungen des Prüferberichts zurück.
1.2 Der Anspruch 9 der Arbeit der Beschwerdeführerin richtet sich indes auf ein Verfahren zur Herstellung von Papier(bögen) und schließt Verfahrensschritte der Herstellung von Papierpulpe ein. Der vorliegenden Situation trägt der Prüferbericht wie folgt Rechnung (Punkt 3.4, letzter Absatz): "Einige Bewerber formulierten keinen Anspruch auf die Herstellung von Papierpulpe, sondern präsentierten ein Verfahren zur Herstellung von Papier, das auch alle Schritte zur Herstellung von Papierpulpe umfasste. In solchen Fällen wurden diese Ansprüche als falsch formulierte Ansprüche für ein Verfahren zur Herstellung der Papierpulpe angesehen, und die Benotung erfolgte für ein Verfahren zur Herstellung der Papierpulpe, wofür nur maximal 22 Punkte vergeben werden konnten."
1.3 Anstatt 32 Punkte für zwei unabhängige Verfahrensansprüche (gerichtet auf die Herstellung von Papierpulpe einerseits und von Papierbögen unter Verwendung der erfindungsgemäßen Papierpulpe andererseits) konnten laut Prüferbericht somit maximal 22 Punkte erreicht werden. Dieser Abzug von 10 Punkten stellt keine Doppelbetraftung dar.
1.4 Der Anspruch der Beschwerdeführerin wurde mit 0 Punkten bewertet. Die Beschwerdeführerin räumte ein, dass die Bezugnahme auf die Ansprüche betreffend das Schlagwerk laut Prüferbericht als gravierende unnötige Beschränkungen zu einem Abzug von 10 Punkten geführt habe. Der Abzug von weiteren 12 Punkten ließe sich indes nicht erklären und sei ungerechtfertigt.
1.5 Wie mit der Beschwerdeführerin anlässlich der mündlichen Verhandlung erörtert wurde, weichen die Schritte a) und b) in dem von der Beschwerdeführerin formulierten Anspruch 9 von den Schritten a) bis c) der Musterlösung in verschiedener Hinsicht ab. Eine Prüfung dieser Abweichungen dahingehend, ob sie einen Punkteabzug (z.B. wegen eines Klarheitsmangels oder als unnötige Einschränkung) rechtfertigen und gegebenenfalls in welcher Höhe, liefe auf eine Neubewertung der Arbeit der Beschwerdeführerin und damit auf eine sachliche Überprüfung der Wertungen der Prüfer hinaus, die nach Artikel 24(1) VEP nicht Aufgabe der Beschwerdekammer ist (D 1/92, ABl. EPA 1993, 357).
1.6 Es war auch nicht ohne weiteres erkennbar, dass ein Abzug von weiteren 12 Punkten in Anbetracht der Abweichungen rechts- oder ermessensfehlerhaft war. Wiewohl die Beschwerdeführerin eine abweichende Meinung hinsichtlich der Bedeutsamkeit der Unterschiede in ihrer Lösung vertrat und diese teilweise als vorteilhaft darstellte, folgte aus ihrem Sachvortrag kein schwerwiegender und eindeutiger Fehler, der ohne sachliche Überprüfung der Bewertung der Arbeit der Beschwerdeführerin hätte festgestellt werden können.
1.7 Die Beschwerde hatte daher keinen Erfolg, soweit darin ein Fehler bei der Bewertung ihrer Ansprüche betreffend ein Verfahren zur Herstellung von Papier geltend gemacht wurde.
2. Anspruch auf ein Stampfwerk
2.1 Im vorliegenden Fall machte die Beschwerdeführerin drei Abweichungen von der Musterlösung geltend (siehe Punkt V b)). Der Abzug von 11 Punkten lässt sich nach Auffassung der Beschwerdekammer nur damit erklären, dass alle drei Abweichungen beanstandet wurden und zu einem Punkteabzug führten.
2.2 Aufgrund der Aussage im Prüferbericht (Seite 7, zweiter vollständiger Absatz), dass bei einem Anspruch auf einen Winkel von "weniger als 90 Grad" statt "ungleich 90 Grad", wegen eines Klarheitsmangels Punkte abgezogen wurden, muss die Beschwerdekammer davon ausgehen, dass das Merkmal "Kopf-Schaft-Winkel (alpha) unter 90 Grad" im Anspruch der Beschwerdeführerin als unklar und nicht etwa als unnötige Einschränkung angesehen wurde. Dem Prüferbericht ist jedenfalls an keiner Stelle zu entnehmen, dass erwartet wurde, dass auch ein Kopf-Schaft-Winkel (alpha) größer als 90 Grad beansprucht werden sollte, soweit dieser zu einer Schrägstellung des Hammerkopfs führt. Wiewohl bei Winkeln üblich ist, von "kleiner" (bzw. "größer") zu sprechen und nicht von "unter" (bzw. "über") oder "weniger" (bzw. "mehr"), dürfte der Klarheitseinwand nicht auf diesen semantischen Unterschieden beruhen, sondern vermutungsweise darauf, dass diese relativen Angaben Werte einschließen könnten, die nahe an 90 Grad liegen. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Beschwerdekammer aber nicht erkennen, weshalb dieser Einwand nicht auch auf die erwartete Lösung ("ungleich 90 Grad") zutrifft. Auch wenn der Prüferbericht dahin zu verstehen ist, dass die Anspruchsformulierung, dass der Kopf-Schaft-Winkel (alpha) ein fixer Winkel ungleich 90 Grad ist, zu Gunsten der Bewerber als Alternative zur erwarteten Definition, dass der Hammerkopf (2) in einer Schrägstellung zum Hammerschaft (3) angeordnet ist, akzeptiert wurde, ist ein Abzug wegen eines Klarheitsmangels bei der Beschwerdeführerin nicht gerechtfertigt. Denn ihre Lösung entspricht (mit Ausnahme des Ausschlusses von Kopf-Schaft-Winkel größer 90 Grad, der allerdings im Prüferbericht nicht abgesprochen wird) der alternativen Musterlösung.
2.3 Es liegt mithin ein schwerwiegender und eindeutiger Fehler bei der Bewertung der Prüfungsarbeit vor, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führt.
3. Antrag auf Zuerkennung einer Note
3.1 Im Falle der Gutheißung einer Beschwerde verweist die Beschwerdekammer die Angelegenheit in aller Regel an die Prüfungskommission zurück und ordnet die Neubewertung der betreffenden Arbeit an. Somit sind Anträge auf eine "direkte Entscheidung", die auf Zuerkennung zusätzlicher Punkte oder Festlegung einer bestimmten Note gerichtet sind, im Grundsatz unzulässig. Nur ausnahmsweise, bei Vorliegen besonderer Gründe, die gegen eine Zurückverweisung sprechen, könnte sich ein solcher Antrag rechtfertigen. Dies ist etwa denkbar, wenn der Prüfungskommission kein Ermessen bleibt oder wenn die Bindungswirkung einer Zurückverweisungsentscheidung nicht beachtet wäre (D 1/86, Punkt 2 der Entscheidungsgründe; zur ersten Fallgruppe siehe etwa D 3/14 betreffend die Vorprüfung; zur zweiten Fallgruppe siehe D 14/17 und D 20/17).
3.2 Solche außerordentlichen Gründe sind nach Auffassung der Beschwerdekammer vorliegend nicht gegeben. Der Beschwerdeführerin fehlten zwar nur zwei Punkte für die Note "NICHT BESTANDEN MIT AUSGLEICHSMÖGLICHKEIT". Allerdings konnte die Beschwerdekammer vorliegend nicht ohne wertende Neubetrachtung des von der Beschwerdeführerin formulierten Anspruchs auf ein Stampfwerk feststellen, wie sich der Abzug von insgesamt 11 Punkten auf die drei Differenzen zur Musterlösung verteilte. Gerade was den als fehlerhaft erkannten Abzug in Bezug auf das Merkmal "Kopf-Schaft-Winkel (alpha) unter 90 Grad" anbelangt, führt der Prüferbericht aus (Seite 7, zweiter vollständiger Absatz), dass ein Klarheitsmangel zu einem Punkteabzug von "bis zu" fünf Punkten führen konnte. Folglich hatten die Prüfer einen Wertungsspielraum von einem Punkt bis fünf Punkten. Es bestand vorliegend daher keine Situation, in der eine Neubewertung bei Zurückverweisung nur ein Ergebnis zuließ. Die Vergabe einer Note durch die Beschwerdekammer war daher nicht ohne Eingriff in das Ermessen der Prüfungskommission bzw. des Prüfungsausschusses möglich. Folglich konnte die Beschwerdekammer dem Antrag auf Vergabe der Note "NICHT BESTANDEN MIT AUSGLEICHSMÖGLICHKEIT" nicht stattgeben.
4. Erstattung der Beschwerdegebühr
Da der vorliegenden Beschwerde stattzugeben ist, entspricht es der Billigkeit, die Rückzahlung der ganzen Beschwerdegebühr gemäß Artikel 24(4) Satz 3 VEP anzuordnen.
5. Erstattung der Gebühren für die Aufgabe A der Europäischen Eignungsprüfung 2023
Für die Erstattung von entrichteten Gebühren für die Teilnahme an der Aufgabe A der Europäischen Eignungsprüfung 2023 ist das Prüfungssekretariat zuständig. Der Beschwerdekammer fehlt hierzu die Entscheidungsbefugnis (D 1/16, Nr. 2.4 der Gründe).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung der Prüfungskommission wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur erneuten Entscheidung an die Prüfungskommission zurückverwiesen.
3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.