T 1729/16 28-04-2021
Download und weitere Informationen:
Schaftfräser
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - rückschauende Betrachtungsweise
Änderung des Beschwerdevorbringens - Ermessensausübung
Änderung des Beschwerdevorbringens - Änderung der Verfahrensökonomie abträglich (ja)
Änderung des Beschwerdevorbringens - Änderung räumt aufgeworfene Fragen aus (nein)
I. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der das Patent N° 2 403 673 widerrufen worden ist, Beschwerde eingelegt. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass die geltend gemachten Einspruchsgründe unter Artikel 100(a) EPÜ in Verbindung mit Artikeln 54 und 56 EPÜ der Aufrechterhaltung des Streitpatents wie erteilt sowie in geänderter Fassung gemäß den Hilfsanträgen 1, 1a und 2 entgegen stehen.
II. Die Neuheit des Gegenstandes des unabhängigen Anspruchs 1 in der erteilten Fassung und das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit des Gegenstandes des unabhängigen Anspruchs 1 gemäß den Hilfsanträgen 1, 1a und 2 wurden von der Einspruchsabteilung in Anbetracht des folgenden Standes der Technik verneint:
E1: US 4 770 567 A
E3: DE 20 2006 016531 U1
E5: DE 37 06 282 A2
III. Am 20. April 2020 erging eine Ladung zur mündlichen Verhandlung. In den am 21. November 2019 sowie am 20. April 2020 versandten Mitteilungen gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020 legte die Kammer ihre vorläufige Meinung dar.
Eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 28. April 2021 als Videokonferenz statt.
IV. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Basis des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrags 1, der im Laufe der mündlichen Verhandlung zum Hauptantrag erhoben wurde, hilfsweise auf Grundlage des mit Schreiben vom 12. Februar 2020 eingereichten Hilfsantrags 1a oder des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrags 2.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
V. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1, der dem der angefochtenen Entscheidung zugrund liegenden Hilfsantrag 1a entspricht, lautet wie folgt (Merkmalsgliederung gemäß dem schriftlichen Beschwerdevorbringen der Parteien hinzugefügt):
M1 Schaftfräser, der im Bereich seines Schneidabschnitts (22) eine Mehrzahl von wendelförmig verlaufenden Umfangsschneidkanten (26-1 bis 26-n) hat,
M2* von denen zumindest eine maßgebliche Anzahl jeweils mit einem im Wesentlichen abgeflachten Schruppprofil (30, 330) mit im Grund (40, 340) abgerundeten Spanteilernuten (32, 332) derart ausgestattet sind, dass die Spanteilernuten in Umfangsrichtung benachbarter Fräserstege (36-1, 36-2, 36-3, 36-4) axial zueinander versetzt sind,
M3* wobei die Spanteilernuten (32, 332) jeweils über einen vorbestimmten Flankenradius (RF1, RF2) in einen im Wesentlichen abgeflachten Zentralabschnitt (34, 334) des Schruppprofils (30) übergehen, dadurch gekennzeichnet, dass
M4 zumindest eine Umfangsschneidkante (26-1) einen Drallwinkel (theta1) hat, der sich von dem Drallwinkel (theta2) einer anderen Umfangsschneidkante (26-2) unterscheidet,
M5 wobei die Drallwinkel (theta1, theta2) benachbarter Umfangsschneidkanten (26-1, 26-2) unterschiedlich sind und
M6 eine gerade Anzahl von Umfangsschneidkanten (26-1 bis 26-4) vorgesehen ist,
M7 von denen jeweils zwei einander diametral gegenüber liegen und denselben Drallwinkel (theta1 und theta3 bzw. theta2 und theta4) haben, und
M8 sich die Drallwinkel (theta) der Umfangsschneidkanten (26) um 1° bis 6°, vorzugsweise um 1 bis 3° unterscheiden, wobei
M9* die Teilung des Fräsers in einer im Bereich des Schneidabschnitts (22) in einem vorbestimmten Abstand AGT von der Fräserstirn und senkrecht zur Fräserachse (21) liegenden Radialebene (V-V) gleich ist.
Neuheit: Artikel 52(1) und 54 EPÜ
1. In der angefochtenen Entscheidung hat die Einspruchsabteilung festgestellt, dass sich der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 des vorliegenden Hilfsantrags 1 (entspricht dem Hilfsantrag 1a des Einspruchsverfahrens) vom technischen Inhalt des Dokuments E3 durch die Merkmale M2* und M3* unterscheide und somit neu sei. Bei der Einschätzung der Neuheit gegenüber E3 folgte die Einspruchsabteilung der Ansicht der Beschwerdegegnerin, wonach unter die Formulierung des Merkmals M9* "in einem vorbestimmten Abstand AGT von der Fräserstirn" auch ein Nullabstand falle, so dass dieses Merkmal vom abhängigen Anspruch 4 des Dokuments E3, der eine Gleichteilung des Fräsers an der Fräserstirn vorschlägt (d.h. AGT=0), vorweggenommen sei.
1.1 Die Kammer kann sich dieser Auslegung des Merkmals M9* des Anspruchs 1 aus folgenden Gründen nicht anschließen:
Obwohl eine reine semantische Auslegung des strittigen Wortlauts "in einem vorbestimmten Abstand AGT von der Fräsestirn" dazu führen könnte, dass auch ein Nullabstand darunter falle, schließt sich die Kammer der Auffassung der Beschwerdeführerin an, dass der Fachmann - in Hinblick auf den technischen Kontext des Anspruchs und auf die gesamte Patentoffenbarung - diesen Wortlaut so verstehen würde, dass die Radialebene in welcher die Teilung des Fräsers gleich ist, von der Fräsestirn tatsächlich beabstandet ist, was einen Abstand AGT > 0 (in absoluten Zahlen) impliziert. Der Fachmann würde somit einen Nullabstand, d.h. eine Gestaltung, wonach die Radialebene von der Stirnseite nicht beabstandet ist (AGT=0), vom Schutzbegehren des Anspruchs 1 ohne weiteres ausschließen.
1.2 Dahingegen führte die Beschwerdegegnerin aus, dass die in einer Patentschrift benutzten Begriffe im Zweifelfall aus der Patentschrift heraus und damit eigenständig auszulegen sind, da jede Patentschrift ihr eigenes Lexikon bilde. Im vorliegenden Fall seien in der Patentschrift neben einer ersten Ausführungsform mit einem "positiven" Abstand AGT > 0 (vgl. Absatz [0030], Zeilen 29-35) auch eine zweite Ausführungsform mit einem "negativen" Abstand AGT (vgl. Absatz [0030], Zeilen 35-41), sowie eine dritte Ausführungsform mit einem Abstand AGT=0 (vgl. Absatz [0033]) offenbart. Demzufolge würde der Fachmann, der den Gegenstand des des Anspruchs 1 im Hinblick auf die vorhandene Patentoffenbarung interpretiert, einen Nullabstand nicht ausschließen. Merkmal M9* sei somit vom Anspruch 4 des Dokuments E3, das einen Nullabstand definiert, vorweggenommen.
1.3 Diese Argumentation ist aus folgen Gründen nicht überzeugend:
Wie von der Beschwerdeführerin zutreffen ausgeführt, bezieht sich die Beschreibung in der Fassung der Patentschrift auf den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1, der die in Anspruch 1 gemäß dem vorliegenden Hilfsantrag 1 eingeführte Klarstellung "in einem vorbestimmten Abstand AGT von der Fräserstirn" nicht enthielt. Die Formulierung des erteilten Anspruchs 1, die den entscheidenden Begriff "Abstand" nicht beinhaltete, konnte tatsächlich alle 3 oben genannten Ausführungsformen unter Schutz stellen. Durch die oben genannte Klarstellung wurde nun der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 ausschließlich auf die im Absatz [0030] der Patentschrift, Zeile 29-35 beschriebene Ausführungsform beschränkt, wonach der Abstand AGT > 0 ist. Dementsprechend wurde die zweite Ausführungsform mit Abstand AGT < 0 aus der Beschreibung entfernt und die dritte Ausführungsform mit Abstand AGT=0 als nicht erfindungsgemäße Lösung bezeichnet. Eine Auslegung des Anspruchs 1, wonach auch einen Nullabstand mitgeschützt wird, ist somit nicht nachvollziehbar. Sie wäre weder aus dem Kontext des Anspruchs her zu begründen, da das Teilmerkmal "in einem vorbestimmten Abstand AGT von der Fräserstirn" in M9* dann keine technische Bedeutung hätte, noch ist sie dies auf der Grundlage der ergänzend hinzugezogenen Beschreibung, da diese nur noch Verweise auf von der Fräserstirn tatsächlich in Richtung des Schaftes beabstandete Ausführungsformen enthält. Im Ergebnis ist daher das Merkmal M9* von Anspruch 4 des Dokuments E3 nicht vorweggenommen.
1.4 Die Beschwerdegegnerin führte weiterhin aus, dass der Fachmann, den Absätzen [0019], [0032] und [0033] von E3 sowie der Lehre des abhängigen Anspruchs 5 eine gegenüber der Figur 3 modifizierte Ausgestaltung des Schaftfräsers entnehmen würde, die zwangläufig eine Teilung des Fräsers gemäß Merkmal M9* aufweise (vgl. Darstellung auf Seite 3 der Erwiderung der Beschwerdegegnerin auf die vorläufige Auffassung der Kammer). Das Merkmal M9* sei somit, auch unter Berücksichtigung der Auslegung des Begriffes Abstand im Anspruch 1 durch die Kammer (d.h. Abstand AGT > 0), dem Dokument E3 zumindest implizit zu entnehmen.
1.5 Demgegenüber teilt die Kammer die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass die von der Beschwerdegegnerin entworfene modifizierte Ausgestaltung des in Figur 3 von E3 gezeigten Schaftfräsers den zitierten Offenbarungsstellen dieser Entgegenhaltung nicht eindeutig und unmittelbar zu entnehmen ist:
1.6 Die Darstellung der Beschwerdegegnerin, wonach die benachbarten Umfangsschneidkanten 8-1 und 8-2 ausgehend von einer ungleichen Teilung an der Fräserstirn ab einer bestimmen axialen Position auseinander gehen, steht in Widerspruch zur Lehre des letzten Satzes des Absatzes [0019] von E3, der besagt "Der Abstand zwischen den Schneiden der Fräsflächen wird in dieser Konfiguration in Richtung auf das Einspannende des Fräsers immer enger, sodass auch hier kürzere Späne erzeugt werden".
1.7 Darüber hinaus ist die Behauptung der Beschwerdegegnerin, dass die axiale Position der dargestellten Radialebene mit gleicher Teilung von 90° zwangläufig im Bereich des Schneidabschnitts liegen wird, nicht nachvollziehbar. Ob eine Radialebene mit gleicher Teilung in einem Bereich des Scheidabschnitts existiert, hängt von der gesamten Geometrie des Schaftfräsers, insbesondere vom Verlauf der Umfangsschneidkanten und von der tatsächlichen axialen Erstreckung des Schneidabschnitts ab. Eine konkrete axiale Dimensionierung des Schneidabschnitts ist jedoch in den zitierten Passagen nicht angegeben. Bei der Umsetzung der Lehre der Absätze [0019], [0032] und [0033] hat die Beschwerdegegnerin die Länge des Schneidabschnitts ab der Fräsestirn genau so ausgewählt, dass die Ebene mit gleicher Teilung von 90° Grad, wie vom Merkmal M9* vorgeschrieben, innerhalb des Schneidabschnitts liegt. Ein Hinweis auf eine solche willkürliche und zum Anspruch 1 passende Dimensionierung der Länge des Schneidabschnitts ist aber in den erwähnten Textstellen nicht zu finden. Die Informationen aus den erwähnten Passagen des Dokuments E3 schließen somit nicht aus, dass bei Auswahl eines kürzeren Schneidabschnitts, z.B. eines Schneidabschnitts, der unmittelbar unterhalb der von der Beschwerdegegnerin dargestellten Ebene mit gleicher Teilung endet, keine Gleichteilung innerhalb des Scheidabschnitts vorliegt. Die von der Beschwerdegegnerin modifizierte Ausgestaltung der Ausführungsform der Figur 3 stellt somit nur eine von mehreren aber nicht die einzig denkbare Ausführungsmöglichkeit dar, die somit dem Offenbarungsinhalt des Dokuments D3 nicht eindeutig und unmittelbar zu entnehmen ist. Es folgt daher, dass das Merkmal M9* des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 von E3 weder explizit noch implizit vorweggenommen wird.
1.8 Da kein weiterer Neuheitsangriff von der Beschwerdegegnerin vorgetragen wurde, ist der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 aus den oben angegebenen Gründen neu im Sinne der Artikel 52(1) und 54 EPÜ.
1.9 Die Beschwerdeführerin behauptete, dass auch die Merkmale M2*, M3*, M4, M5 und M8 des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 in E3 nicht offenbart seien. Diese Offenbarungsfrage kann jedoch dahin stehen, da der Gegenstand des Anspruchs 1 schon aufgrund des unterscheidenden Merkmals M9* neu ist und - wie nachstehend erläutert - auch auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne der Artikel 52(1) und 56 EPÜ beruht.
Erfinderische Tätigkeit: Artikel 52(1) und 56 EPÜ
E3 in Kombination mit E1
2. Im Einklang mit der Begründung der Einspruchsabteilung führte die Beschwerdegegnerin aus, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß dem vorliegenden Hilfsantrag 1 von einer Kombination des Dokuments E3 mit dem Dokument E1, das in Figur 4 eine Gestaltung des Schruppprofils der Umfangsschneidkanten eines Schaftfräsers gemäß den Merkmalen M2* und M3* zeige, nahegelegt sei. Hierzu wurde argumentiert, dass ein Verlegen der Radialebene mit Gleichteilung von der Fräserstirn (Anspruch 4 des E3) bis in den Bereich des Schneidabschnitts, im Hinblick auf die Hinweise in den Absätzen [0019], [0032] und [0033] eine naheliegende Modifizierung der Ausgestaltung der Figur 3 darstelle, die keinen erfinderischen Beitrag begründen könne. Eine Kombination dieser Entgegenhaltungen sei aufgrund der gleichen Aufgabestellung gerechtfertigt und würde somit ohne erfinderisches Zutun zum Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 führen.
2.1 Die Ausführungen der Beschwerdegegnerin zu dieser Kombination von Entgegenhaltungen sind aus folgen Gründen nicht überzeugend:
2.2 Anders als von der Einspruchsabteilung und von der Beschwerdeführerin behauptet, ist in E3 keine Gleichteilung des Fräsers gemäß Merkmal M9* offenbart, also im Schneidbereich, aber beabstandet von der Stirnfläche (siehe vorstehende Punkte 1.4 bis 1.7). Dokument E3 schlägt leidlich entweder eine gleiche Teilung des Fräsers (Anspruch 4) oder eine ungleiche Teilung des Fräsers (Anspruch 5 und Figur 3), in beiden Fällen aber an der Stirnseite vor. Das unterscheidende Merkmal M9* ist auch dem E1 nicht zu entnehmen, was von der Beschwerdegegnerin nicht bestritten wurde. Eine Kombination von E3 mit E1 würde somit nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 führen, weil zumindest das Merkmal M9* immer noch fehlen würde. Eine Modifizierung des aus dem E3 bekannten Schaftfräsers im Sinne des Merkmals M9* kann sich nur aus einer ex-post facto Betrachtung im Kenntnis des Streitpatents ergeben, was einen unzulässigen Ansatz beim Bewerten des Vorliegens einer erfinderischen Tätigkeit darstellt.
2.3 Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 beruht somit auf einer erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf die Kombination der Dokumente E3 und E1 (Artikel 52(1) und 56 EPÜ).
Zulassung der Angrifflinie basierend auf E1 und E5
3. Während der mündlichen Verhandlung kündigte die Beschwerdegegnerin weitere Ausführungen zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit basierend auf einer Kombination der Dokumente E1 und E5 an. Die Beschwerdeführerin trat der Zulassung dieser Ausführungen entgegen, mit der Begründung, dass sie verspätet seien.
3.1 Die Kammer stellt fest, dass die angekündigten Ausführungen zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit des Gegenstandes des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 erstmals nach Einreichung der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung vorgebracht wurden. Diese Ausführungen stellen somit eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Artikel 13(1) VOBK 2020 dar, der gemäß Artikel 25(3) VOBK 2020 auf dieser Beschwerde anzuwenden ist, deren Zulassung im Ermessen der Kammer liegt.
3.2 Gemäß Artikel 13(1) VOBK 2020 berücksichtigt die Kammer bei der Ausübung ihres Ermessens unter anderem, ob die Änderung zur Lösung der von einem anderen Beteiligten oder von der Kammer aufgeworfenen Fragen geeignet ist, ob diese Änderung der Verfahrensökonomie abträglich ist und ob die Patentinhaberin die "prima facie" Eignung zur Ausräumung der Fragen aufgezeigt hat.
3.3 Die Beschwerdegegnerin führte aus, dass die angekündigten Ausführungen als gerechtfertigte Reaktion auf die zum ersten Mal während der mündlicher Verhandlung mitgeteilte und von der vorläufigen Auffassung abweichende Einschätzung der Kammer hinsichtlich des Vorliegens einer erfinderischen Tätigkeit anzusehen seien. Es wurde seitens der Beschwerdegegnerin auch argumentiert, dass diese Angriffslinie bereits im Laufe des schriftlichen Einspruchsverfahrens vorgebracht wurde, und dass sie durch den Verweis auf die "Ausführungen im Einspruchsverfahren" auf Seite 11 der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung ins Beschwerdeverfahren rechtzeitig einbezogen worden seien. Ferner sei diese Angriffslinie im Rahmen der Diskussion der erfinderischen Tätigkeit der Hilfsanträge 1a und 2 bereits schriftlich vorgetragen worden, so dass von einer negativen Auswirkung auf die Verfahrensökonomie nicht die Rede sein könne.
3.4 Die Ausführungen der Beschwerdegegnerin zur Zulassung der auf den Dokumenten E1 und E5 beruhenden Argumentationslinie sind aus folgenden Gründen nicht überzeugend:
Die Kammer merkt an, das die für die Einschätzung der erfinderischen Höhe entscheidende Frage, nämlich ob die Formulierung "in einem vorbestimmten Abstand AGT" des Merkmals M9* auch ein Nullabstand definieren könne, im Laufe des Einspruchsverfahrens, insbesondere während der mündlichen Verhandlung, ausführlich diskutiert wurde (siehe Punkte 17. und 18. des Verhandlungsprotokolls). Obwohl die Einspruchsabteilung im Einklang mit der Beschwerdegegnerin der Auffassung war, dass der Abstand AGT auch ein Nullabstand sein könnte, hätte die Beschwerdegegnerin damit rechen müssen, dass diese Auslegung im Beschwerdeverfahren keinen Bestand haben könnte. Es war somit von der Beschwerdegegnerin zu erwarten, dass sie weitere Angriffslinien als Reaktion auf die Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin, die sich unter anderem mit diesem entscheidenden Punkt auseinandersetzt, vorlegt, um ggf. ihre Position im Beschwerdeverfahren zu untermauern. Wenn sie sich wie vorliegend darauf beschränkt, die Auffassung der Einspruchsabteilung aus den in der Entscheidung genannten Gründen zu verteidigen, ist dies ihr gutes Recht. Die spätere Erweiterung ihres Vortrags durch Einreichung der Angriffslinie basierend auf E1 und E5 erstmals nach der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung ist dann aber angesichts der Umstände des Einspruchsverfahrens und des Inhalts der Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin nicht durch neue Entwicklungen im Verfahren gerechtfertigt.
3.5 Darüber hinaus erscheint die verspätet vorgetragene Angriffslinie aber "prima facie" ohnehin ungeeignet, den Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 nahezulegen. Denn eine Kombination (wie sie die Beschwerdegegnerin auch schon im Hinblick auf den neu eingereichten Hilfsantrag 1a dargelegt hat) der Entgegenhaltungen E1 und E5, die ganz unterschiedlichen Fräserarten betreffen, nämlich einen Schruppfräser (E1) und einen Schlichtfräser (E5) durch den Fachmann dürfte - wie von der Beschwerdeführerin schriftlich ausgeführt - äußerst fraglich sein.
3.6 Ferner ist die Kammer überzeugt, dass die Diskussion der oben genannten und durch diese Angriffslinie aufgeworfenen strittigen Fragen, insbesondere ob der Fachmann die technischen Lehren der Dokumente E1 und E5 überhaupt kombinieren würde (diesbezüglich wurde von der Beschwerdeführerin die Erstellung eines Sachverständigen-Gutachtens beantragt), die Verfahrensökonomie negativ beeinflussen würde.
3.7 Aus den oben angegeben Gründen wird die angekündigte Argumentationslinie basierend auf einer Kombination der Dokumente E1 und E5 in Ausübung des vom Artikel 13(1) VOBK 2020 vorgesehenen Ermessens nicht ins Beschwerdeverfahren zugelassen.
4. Da keine weiteren Angriffe und Ausführungen bezüglich mangelnder erfinderischer Tätigkeit des Hilfsantrags 1 vorgebracht wurden, ist davon auszugehen, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht und somit die Erfordernisse der Artikel 52(1) und 56 EPÜ erfüllt.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten auf der Grundlage der folgenden Dokumente:
- Ansprüche 1-16 des Hilfsantrags 1 wie eingereicht mit der Beschwerdebegründung;
- Beschreibungsseiten 1 bis 14 wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung; und
- Figuren 1 bis 11 wie erteilt.