T 2348/16 (Objekterkennung/BOSCH) 10-05-2021
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VERFAHREN UND VORRICHTUNG ZUR ERKENNUNG VON OBJEKTEN IN EINEM UMFELD EINES FAHRZEUGS
Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus - Hauptantrag (ja)
Patentansprüche - Klarheit (nein)
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
I. Mit der Beschwerde wird die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die Anmeldung zurückzuweisen, angefochten.
II. Die Prüfungsabteilung war der Ansicht, dass die zur Entscheidung stehenden Anträge nicht den Erfordernissen der Artikel 123 (2), 82, 84 und 56 EPÜ entsprächen. In der Entscheidung wurde auf mehrere Dokumente verwiesen, aber nur die folgenden beiden wurden tatsächlich zur Begründung herangezogen:
D1: EP 1513103 B1
D7: US 2003/0138132 A1.
III. Mit der Beschwerdebegründung beantragte die Beschwerdeführerin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf Basis eines Hauptantrags oder eines von zwei Hilfsanträgen. Alle Anträge wurden mit der Beschwerdebegründung eingereicht.
IV. Die Kammer lud zu einer mündlichen Verhandlung und teilte der Beschwerdeführerin ihre vorläufige Meinung mit, dass alle Anträge nicht den Erfordernisse der Artikel 84 und 56 EPÜ entsprächen. Außerdem erfülle der Hauptantrag nicht die Erfordernisse des Artikels 123 (2).
V. Die Beschwerdeführerin zog ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück (mit Schreiben vom 30. April 2021), so dass die Beschwerdekammer weiterführend im schriftlichen Verfahren entscheiden könne.
VI. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet:
Verfahren (500) zur Erkennung von Objekten (240, 250) in einem Umfeld ( 130) eines Fahrzeugs (100), wobei das Verfahren (500) die folgenden Schritte aufweist:
- Einlesen (510) eines ersten Bildes (210) einer Fahrzeugkamera (110),das das Umfeld (130) des Fahrzeugs (100) repräsentiert und das mit einer ersten Belichtungszeit aufgenommen wurde und Einlesen eines zweiten Bildes (220) der Fahrzeugkamera (110), das nach dem ersten Bild (210) und mit einer zweiten Belichtungszeit aufgenommen wurde, wobei die zweite Belichtungszeit größer als die erste Belichtungszeit ist;
- Extrahieren (520) eines Bildausschnittes (230) aus dem zweiten Bild (220) der Fahrzeugkamera (110), wobei der Bildausschnitt (230) einen kleineren Bereich des Umfeldes (130) des Fahrzeugs (100) repräsentiert, als das erste Bild (210), wobei der Bildausschnitt (230) im zweiten Bild (220) unter Verwendung einer Positionsinformation, welche abhängig von zumindest einer Geschwindigkeit des Fahrzeugs und/oder von einer Information über einen angenommenen Straßenverlauf, welcher aus einem Navigationsgerät ausgelesen wurde, ist, extrahiert wird;
- Anwenden (530) eines ersten Objekterkennungsalgorithmus auf das erste Bild (210), um zumindest ein Objekt (240) in dem ersten Bild (210) zu erkennen und Anwenden eines zweiten Objekterkennungsalgorithmus auf den Bildausschnitt (230), um zumindest ein weiteres Objekt (250) in dem Bildausschnitt (230) zu erkennen .
VII. Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass die und- Konjunktion von der und/oder-Verknüpfung gestrichen wurde:
...abhängig von zumindest einer Geschwindigkeit des Fahrzeugs [deleted: und/]oder von einer Information....
VIII. Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass die zweite Abhängigkeit im Ganzen gestrichen wurde:
...welche abhängig von zumindest einer Geschwindigkeit des Fahrzeugs [deleted: und/oder von einer Information über einen angenommenen Straßenverlauf, welcher aus einem Navigationsgerät ausgelesen wurde,] ist, extrahiert wird;
Die Erfindung
1. Die Erfindung bezieht sich auf die bildgestützte Erkennung von Objekten im Umfeld eines Fahrzeugs, insbesondere bei Nacht (Seite 1 der Beschreibung). Um eine "Überlichtung" des Bildes durch nahe, entgegenkommende Fahrzeugen zu verhindern, werden zwei Bilder mit unterschiedlichen Belichtungszeiten aufgenommen (Seite 11, Zeile 20 ff.). Das erste, kürzer belichtete Bild dient der Erkennung von Objekten, die Licht hoher Intensität aussenden, also der Erkennung von nahen, entgegenkommenden Fahrzeugen. Das zweite Bild dient der Erkennung von Objekten, die schwächer beleuchtet sind oder leuchten oder die weiter entfernt sind. Der Objekterkennungsalgorithmus wird auf das ganze erste, aber nur einen Ausschnitt des zweiten Bildes angewendet. Dieser Bildausschnitt soll so bestimmt werden, dass der dargestellte Bereich für die zukünftige Position des Fahrzeugs bei der Fahrt von Bedeutung ist (Seite 6, Zeilen 5-9).
Hauptantrag
Artikel 123 (2) EPÜ
2. Der Einwand der Prüfungsabteilung (Entscheidungsgründe 3.1) hatte sich auf die und-Verknüpfung in der Definition des Parameters zur Bestimmung des Bildausschnitts bezogen. Diese lautete:
der [...] eine Information eines Sensors ist, welcher eine Bewegung des eigenen Fahrzeugs und/oder eine Einstellung von Bedienungselementen zur Steuerung des Fahrzeugs repräsentiert und/oder eine Information über einen angenommenen Straßenverlauf ist.
Im jetzigen Hauptantrag wird die Verwendung
einer Positionsinformation, welche abhängig von zumindest einer Geschwindigkeit des Fahrzeugs und/oder von einer Information über einen angenommenen Straßenverlauf, welcher aus einem Navigationsgerät ausgelesen wurde
definiert.
3. Obwohl die Definitionen unterschiedlich sind, kann die Argumentation der Prüfungsabteilung auf die jetzige Formulierung übertragen werden: Die beanspruchten Merkmale seien ursprünglich nur als Alternativen (oder) offenbart, nicht hingegen in Kombination.
4. Die Beschwerdeführerin argumentiert (Beschwerdebegründung, Seiten 2-3), dass die Definition der Konjunktion oder im Duden auch ein einschließendes oder zulasse, und dass deshalb eine technische Interpretation der Anmeldung als Ganze vorgenommen werden müsse. Zwar würden die beiden Beispiele zur Anpassung des Bildausschnitts auf Seiten 7 bzw. 15 jeweils nur einen Parameter berücksichtigen, jedoch würde im ersten die Größe des Bildausschnitts anhand der Geschwindigkeit, im zweiten seine Position anhand einer erkannten Kurvenfahrt angepasst. Der Beschwerdeführerin zufolge würde ein Fachmann versuchen, um einen optimalen Bildausschnitt zu bestimmen, sowohl die Größe des Bildausschnitts auf Basis der Geschwindigkeit, als auch seine Position auf Basis des Straßenverlaufs anzupassen.
5. Die Kammer ist der Ansicht, dass diese Schlussfolgerung, obwohl sie grundsätzlich richtig sein mag, nicht belegt, dass ein solcher Gegenstand unmittelbar und eindeutig Teil der ursprünglichen Anmeldung ist, sondern nur, dass er auf Basis der ursprünglichen Anmeldung für den Fachmann naheliegen würde.
6. Auch der Verweis auf die Textpassage aus Seite 15, dergemäß "unterschiedlichste Informationen" zur Bestimmung des Bildausschnitts verwendet werden können, impliziert nach Ansicht der Kammer nicht unmittelbar und eindeutig, dass diese Informationen in Kombination verwendet werden sollten.
7. Die und-Verknüpfung geht daher über den ursprünglichen Anmeldungsinhalt hinaus. Der Hauptantrag erfüllt somit nicht die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ.
Artikel 84 EPÜ
8. Die Prüfungsabteilung erhob Einwände gegen die Formulierung:
wobei der Bildausschnitt (230) im zweiten Bild (220) unter Verwendung einer Positionsinformation, welche abhängig von zumindest einer Geschwindigkeit des Fahrzeugs und/oder von einer Information über einen angenommenen Straßenverlauf, welcher aus einem Navigationsgerät ausgelesen wurde, ist, extrahiert wird.
9. Die Verschachtelung der Abstraktionsebenen (unter Verwendung [...], welche abhängig von einer [...] Information über) führe zu einer Unklarheit in der Grenze des beanspruchten Schutzbereiches (Entscheidungsgründe 3.2, 5.1, 6.1).
10. Der Beschwerdeführerin zufolge (Beschwerdebegründung Seite 6, Zeile 5-10), geht aus Anspruch 1 klar hervor, dass ein Bildausschnitt aus einem zweiten Bild in Abhängigkeit einer Geschwindigkeit und/oder einer Information über einen angenommenen Straßenverlauf extrahiert wird.
11. Die Kammer merkt an, dass dies nicht der Wortlaut des Anspruch ist, welcher sich auf eine Positionsinformation bezieht. Es ist nach Ansicht der Kammer nicht klar, ob diese Positionsinformation eine Bildposition, eine Weltposition, oder sogar die Größe des Bildausschnitts (Beschreibung Seite 7, Reihe 4 - 6) bezeichnen soll.
12. Anspruch 1 des Hauptantrags ist daher nicht klar (Artikel 84 EPÜ).
Artikel 56 EPÜ
13. Die Prüfungsabteilung war der Auffassung (Entscheidungsgründe 3.4, 5.2, 6.2), dass der beanspruchte Gegenstand, ausgehend von D1, nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Wie die vorliegende Anmeldung offenbart D1 ein Verfahren zur Erkennung von Objekten (Frontscheinwerfer und Rücklichter) in der Umgebung eines Fahrzeugs, bei welchem zwei Bilder mit unterschiedlichen Belichtungszeiten aufgenommen werden (Absätze 24 und 27). Im zweiten Bild wird ein Bildausschnitt links oder rechts extrahiert, abhängig davon, ob Links- oder Rechtsverkehr herrscht (Absatz 31).
14. Der Prüfungsabteilung zufolge ist die Maskierung in D1 eine Extraktion auf Basis einer Positionsinformation, welche abhängig von einer Information über einen angenommenen Straßenverlauf ist. Der einzige Unterschied im Bezug auf diese beanspruchte Alternative liege darin, dass die Information aus einem Navigationsgerät ausgelesen werde, was für den Fachmann naheliegend sei.
15. Die Beschwerdeführerin bestreitet (Beschwerdebegründung Seite 9, oben), dass die Information, ob Links- oder Rechtsverkehr herrscht, eine Information über einen angenommenen Straßenverlauf sei. Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin zu: der Fachmann würde mit "Straßenverlauf" die Topologie der Strasse bezeichnen. Die Information, ob darauf links oder rechts gefahren werden muss, ist davon unabhängig. Die Kammer ist auch der Ansicht, dass die Beschreibung diese Interpretation stützt, da darin "Kurven" als Beispiel für den Straßenverlauf genannt werden (Absatz 39).
16. Der Unterschied zwischen dem beanspruchten Gegenstand und D1 liegt daher darin, wie der Bildschnitt extrahiert wird (siehe auch die Beschwerdebegründung Seite 8, 3. Absatz), d.h., unter Verwendung einer Positionsinformation, welche abhängig von zumindest einer Geschwindigkeit des Fahrzeugs
(und/) oder von einer Information über einen angenommenen Straßenverlauf, welcher aus einem Navigationsgerät ausgelesen wurde, ist.
17. Die Beschwerdeführerin schlägt als objektive technische Aufgabe vor (Beschwerdebegründung Seite 11, oben), eine zuverlässige, schnelle und rechenkapazitätsschonende Erkennung von im Vergleich zu Frontscheinwerfern intensitätsschwachen Rücklichtern zu ermöglichen.
18. Nach Ansicht der Kammer muss sich die objektive technische Aufgabe nicht auf alle Wirkungen beziehen, die die beanspruchte Erfindung gegenüber D1 erzielt. Schließlich ist der Fachmann daran interessiert, die Probleme in D1 zu lösen, und nicht, die beanspruchte Erfindung zu machen; Letzteres wäre ohne rückschauende Betrachtung nicht denkbar.
19. Der Fachmann hätte sich zum Beispiel der von der Prüfungsabteilung vorgeschlagenen technischen Aufgabe gewidmet, nämlich eine (verbesserte, oder sogar optimale) Alternative für die Auswahl des Bildausschnitts zu finden (Entscheidungsgründe 6.2.1, und Beschwerdegründe, Seite 12, Mitte).
20. Dazu muss zuerst bemerkt werden, dass die beanspruchte Parametrisierung des Bildausschnitts, in dem Objekte erkannt werden sollen, nicht über eine Automatisierung des entsprechenden Verhaltens eines Fahrers hinausgeht. Der Fahrer sucht andere Fahrzeuge dort, wo sie zu erwarten sind, d.h. auf der Straße, wobei der Straßenverlauf unzweifelhaft berücksichtigt wird, und er wird seine Aufmerksamkeit aus Sicherheitsgründen bei schnellerer Fahrt weiter voraus richten. Schon deshalb ist die beanspruchte Erfindung gegenüber der D1 in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen als naheliegend anzusehen.
21. Das Dokument D7, welches von der Prüfungsabteilung zitiert wurde, lehrt, dass für eine zuverlässige Erkennung das Sichtfeld bei Geschwindigkeitsänderungen und beim Drehen variiert wird (Absätze 137 bzw. 142, 143). Die Anwendung dieser Lehre im Kontext von D1, wo das Sichtfeld der Kamera konstant ist, führt dazu, den Bildausschnitt für die Erkennung von Rücklichtern entsprechend zu variieren. Dass, wie von der Beschwerdeführerin argumentiert (Beschwerdebegründung Seite 12, 1. Absatz, Seite 13), D7 eine andere Lösung als D1 für die separate Erkennung von Frontscheinwerfern und Rücklichtern vorschlägt, ist hier unerheblich: Die Variierung des Sichtfelds erfolgt unabhängig davon. Die beanspruchte Erfindung ist daher gegenüber D1 im Lichte von D7 als naheliegend anzusehen.
22. Anspruch 1 des Hauptantrags beruht demzufolge nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.
Hilfsanträge
23. Die vorgenommenen Änderungen haben keinen Einfluss auf die Schlussfolgerungen bezüglich mangelnder Klarheit und erfinderischer Tätigkeit für die Hilfsanträge.
23.1 Der Klarheitseinwand (Punkt 11) gilt auch für beide Hilfsanträge, da Anspruch 1 der Anträge weiter, und ohne Erläuterung, den Begriff "Positionsinformation" beinhaltet.
23.2 Auch der Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Punkte 20 und 21) bleibt bestehen. Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags ist breiter als Anspruch 1 des Hauptantrags, und in Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags ist zwar eine Alternative zur Bestimmung der Positionsinformation gestrichen (Straßenverlauf), aber nach Ansicht der Kammer waren beide Alternativen für den Fachmann naheliegend, also auch die verbleibende, die Positionsinformation anhand des Fahrzeuggeschwindigkeit zu bestimmen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.