T 0588/17 21-04-2021
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HANDBETÄTIGBARE ODER AUTOMATISCHE SCHUSSWAFFE
Neuheit
Erfinderische Tätigkeit - naheliegende Alternative
Änderung des Beschwerdevorbringens - Eignung der Änderung zur Lösung der aufgeworfenen Fragen (ja)
I. Mit der angefochtenen Entscheidung hat die Prüfungsabteilung die Europäische Patentanmeldung Nr. 12721255 (die Anmeldung) zurückgewiesen.
II. Gegen diese Entscheidung hat die Anmelderin (Beschwerdeführerin) Beschwerde eingelegt.
III. Am 21. April 2021 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt. Die Schlussanträge lauteten wie folgt:
Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf Basis des Hauptantrags, hilfsweise, auf Basis des Hilfsantrags 1, beide eingereicht mit der Beschwerdebegründung, weiter hilfsweise auf Basis des Hilfsantrags 2, eingereicht mit dem Schreiben vom 26. Juni 2020, zu erteilen.
IV. Die folgenden, bereits in der angefochtenen Entscheidung genannten Druckschriften sind für die Entscheidung relevant:
D1: US 4,388,855 A
D2: DE 2 300 909 A1
D3: US 4,957,033 A
V. Anspruchssätze
a) Der unabhängige Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt (die Nummerierung der Merkmale in "[]" wurde durch die Kammer hinzugefügt und lehnt sich an die Nummerierung gemäß der Beschwerdebegründung an):
"[M1.1] Handbetätigbare oder automatische Schusswaffe (1) mit einem
[Ml.2] klein- Oder mittelkalibrigen Waffenrohr (2) und
[M1.3] einem das Waffenrohr (2) aufnehmenden Waffenrohrträger (4), mit den Merkmalen:
[M1.4] a) das Waffenrohr (2) und der Waffenrohrträger (4) sind durch eine Rücklaufbremse (5) und Vorholeinrichtung (16) miteinander verbunden;
[Ml.5] b) die Rücklaufbremse (5) umfasst mindestens einen Hydraulikzylinder (7) mit einem darin befindlichen -und relativ zu dem Hydraulikzylinder (7)- axial verschiebbaren Kolben (8) mit Kolbenstange (9),
[Ml.6] wobei entweder der Hydraulikzylinder (7) mit dem Waffenrohr (2) und die Kolbenstange (9) mit dem Waffenrohrträger (4) oder
[M1.7] der Hydraulikzylinder (7) mit dem Waffenrohrträger (4) und die Kolbenstange (9) mit dem Waffenrohr (2) verbunden sind;
[M1.8] c) die Innenwandung (11) des Hydraulikzylinders (7) weist mindestens einen axialen Durchlass (13) zum durchgängigen Verbinden eines Zylinderraumes (14) des Hydraulikzylinders (7) vor dem Kolben (8) mit dem Zylinderraum (15) hinter dem Kolben (8) auf."
b) Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 weist folgende fett und durchgestrichen hervorgehobene Änderungen gegenüber dem Hauptantrag auf (Streichung des Merkmals M1.7):
" ...
wobei entweder der Hydraulikzylinder (7) mit dem Waffenrohr (2) und die Kolbenstange (9) mit dem Waffenrohrträger (4) [deleted: oder]
[deleted: der Hydraulikzylinder (7) mit dem Waffenrohrträger (4) und die Kolbenstange (9) mit dem Waffenrohr (2) ]verbunden sind; ..."
c) Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 weist in Merkmal M1.1 folgende fett und durchgestrichen hervorgehobene Änderungen gegenüber dem Hauptantrag auf:
"Handbetätigbare oder automatische Handfeuer[deleted: Schuss]waffe (1) ..."
VI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich, soweit es für diese Entscheidung relevant ist, wie folgt zusammenfassen:
a) Hauptantrag, Anspruch 1 - Neuheit
D2 offenbare lediglich die Merkmale M1.1, M1.2 und 1.8 in Anspruch 1 und zudem eine mehrstufige Vorlaufbremseinrichtung. Eine Rücklaufbremse gemäß der Merkmale M1.4 bis M1.7 sei in D2 nicht vorgesehen. D2 offenbare nämlich keinen Waffenrohrträger. Stattdessen sei hier der Zylinder der Vorlaufbremseinrichtung direkt an einer Lafette angebracht. Eine Lafette gehöre im Sinne der Anmeldung jedoch nicht zur beanspruchten Waffe und sei auch nicht als Waffenrohrträger interpretierbar. Auch zeige D2 nicht, dass der Kolben mit dem Waffenrohr verbunden ist.
b) Hilfsantrag 1, Anspruch 1 - Erfinderische Tätigkeit
D2 offenbare nicht die Einbaurichtung der Rücklaufbremse gemäß Merkmal M1.6 in Anspruch 1. Auch sei diese Einbaurichtung kein zu der in D2 offenbarten Einbaurichtung analoger Einsatz. Durch die im Vergleich zum Kolben höhere Masse des Zylinders sowie der Hydraulikflüssigkeit erhöhe sich die Rücklaufmasse der beweglichen Teile. Dies sei für die Fachperson auch ohne explizite Erwähnung eindeutig erkennbar. Die technische Aufgabe sei somit umzuformulieren und betreffe die Eignung zum Verschießen größerer und schwererer Geschosse mit höherer Fluggeschwindigkeit. Dies erreiche man mit der Einbaurichtung gemäß Merkmal M1.6 und der damit einhergehenden höheren Rücklaufmasse. Weder D3 noch D1 könnten die Umkehrung der Einbaurichtung nahelegen, da diese keine Hinweise auf die Lösung der Aufgabe enthielten. D1 sei zudem lediglich auf eine pneumatische Bremse gerichtet und ziele im Gegensatz zu D2 oder der Anmeldung darauf, die Rückstoßenergie auch beispielsweise zum Nachladen zu nutzen. Somit sei hier keine hohe zusätzliche Dämpfung notwendig.
c) Hilfsantrag 2 - Zulassung, ursprüngliche Offenbarung, Klarheit, und erfinderische Tätigkeit
Mit Hilfsantrag 2 begegne die Beschwerdeführerin in der Ladung aufgeworfenen Klarheitseinwänden. Dieser sei auch prima facie gewährbar und somit in das Verfahren zuzulassen.
Das Merkmal "handbetätigbar" sei breit auszulegen und richte sich auf Waffen, bei denen die Schussabgabe mit der Hand auslösbar sei. Dies sei unter anderem in dem die Seiten 3 und 4 überspannenden Absatz offenbart. Eine Handfeuerwaffe müsse "von einer Person gehalten werden" können, wenn diese abgefeuert wird. Dies schließe lafettierte Waffen wie in D2 aus.
Das Merkmal "automatisch" sei so zu interpretieren, dass die Waffe weiterfeuere, wenn einmal der Auslöser betätigt wurde, wie mit dem "Feuerstoß" auf Seite 4, erster Absatz, offenbart. Eine automatische Waffe könne sowohl handbetätigbar, als auch als Handfeuerwaffe ausgeführt sein.
D1 sei nun der nächstliegende Stand der Technik und offenbare weder den Hydraulikzylinder der Merkmale M1.5 bis M1.7 von Anspruch 1 noch einen axialen Durchlass gemäß Merkmal M1.8. Die Fachperson würde die hydraulische Bremse gemäß D2 oder D3 nicht berücksichtigen, da sich diese Dokumente zum einen auf lafettierte Waffen bezögen, und somit auch baulich andere Anforderungen an die Bremsvorrichtung hätten. Zum anderen sei die Wirkrichtung zwischen D1 und D2 unterschiedlich und nicht in offensichtlicher Weise austauschbar.
1. Hauptantrag - Mangelnde Neuheit
Die Kammer schließt sich der Auffassung der Prüfungsabteilung gemäß der angefochtenen Entscheidung an, dass der Gegenstand von Anspruch 1 nicht neu über die Offenbarung der D2 ist.
Die Beschwerdeführerin hat hierzu ausgeführt, D2 würde eine automatische Schusswaffe mit einem mittelkalibrigen Waffenrohr und einer Vorlaufbremse mit den Merkmalen M1.1, M1.2 und M1.8 offenbaren, nicht jedoch die Merkmale M1.3-M1.7. Diese Merkmale sind jedoch in D2 aus folgenden Gründen offenbart:
1.1 Merkmal M1.3
D2 offenbart einen Waffenrohrträger im Sinne von Merkmal M1.3.
Der Begriff des "Waffenrohrträgers" beschreibt ein Bauteil der Waffe lediglich mit einem funktionellen Merkmal, nämlich der Eignung zum Tragen des Waffenrohrs. Die Anmeldung definiert keinerlei weitere Einschränkungen, etwa, dass der Waffenrohrträger in direktem Kontakt mit dem Waffenrohr stehen müsse.
Gemäß Seite 1, Absatz 1 betrifft D2 eine Dämpfungseinrichtung für ein verschiebbares Rohr einer Feuerwaffe, dessen Gehäuse an einer Lafette befestigt ist. Diese Dämpfungseinrichtung (Figur 1) überträgt bei Schussabgabe die Rückstoßkraft vom Rohr auf die Lafette (Absatz zwischen Seite 4 und 5). Durch diese auch für die Kraftübertragung geeignete Befestigung fällt der Lafette die Funktion eines Waffenrohrträgers zu. Dies gilt unabhängig davon, ob die Lafette direkt mit der Rücklaufbremse verbunden ist oder nicht.
Die Argumentation der Beschwerdeführerin, gemäß der Anmeldung würde eine Lafette nicht zur Waffe gehören und sei somit kein Waffenrohrträger, ist nicht nachvollziehbar. Weder die Anmeldung noch D2 definieren, ob die Lafette direkt oder indirekt mit der Rücklaufbremse verbunden sind. In beiden kommt ihr jedoch die Funktion der Aufnahme der Rückstoßkraft zu. Der Begriff der "Lafette" in D2 beschreibt den unbeweglichen, "ortsfesten" Teil der Waffe (Seite 3, dritter Absatz) und ist somit auf alle Teile des Gestells lesbar einschließlich derer, die unmittelbar das Waffenrohr tragen. Die Lafette in D2 ist im vorliegenden Fall somit als Waffenrohrträger oder Teil eines Waffenrohrträgers zu verstehen.
Selbst wenn man dieser breiten Auslegung nicht folgen würde, so wäre ein Waffenrohrträger zwischen Lafette und Rücklaufbremse zumindest implizit in D2 offenbart. Die Beschwerdeführerin führt selbst aus, dass "die Lafette gemäß D2 lediglich zur Aufnahme eines nicht nicht näher beschriebenes Waffengehäuse [dient], also eine Vorrichtung, in dem das Rohr verschiebbar gelagert ist". Dieses Gehäuse wäre dann jedoch ebenfalls ein Waffenrohrträger, der inhärent erforderlich für die Kraftübertragung und somit implizit offenbart wäre.
Dass der Begriff "Waffenrohrträger" der Fachperson lediglich im Zusammenhang mit Handfeuerwaffen bekannt sein soll und somit in D2 auch nicht implizit offenbart sein kann, wird von der Anmeldung nicht gestützt. Der Begriff wird hier auch in Verbindung mit "schweren automatischen Schusswaffen (beispielsweise Maschinenkanonen)" verwendet (Seite 1, letzter Absatz). Die von der Beschwerdeführerin für lafettierte Waffen angeführten Begriffe "Wiege" bzw. "Wiegerohr" scheinen spezifische Ausführungsformen eines Waffenrohrträgers zu sein, die jedoch in D2 nicht erwähnt sind.
1.2 Merkmal M1.4 und M1.5
In D2 ist offenbart, dass Waffenrohr und Waffenrohrträger durch eine Rücklaufbremse sowie eine Vorholeinrichtung (Feder 21) verbunden sind. In den Figuren 1 und 2 ist eine "Dämpfungseinrichtung" mit Kolben und Zylinder ("Gehäuse") offenbart, die im Rücklauf eine Bremsfunktion aufweist. Die Rücklaufbremse ist ausgeführt durch einen axialen Durchlass ("Schlitz 33", s. insbesondere Figur 3) in der Zylinderwand, so dass eine "konstante Kraft" auf den Waffenrohrträger ("Lafette") übertragen wird (vgl. den die Seiten 4 und 5 überspannenden Absatz). Dies ist die gleiche Funktion, die auch in der Anmeldung als Ausführungsform für den Durchlass beschrieben wird (Seite 3, Absatz 5: "Bremskraft entlang des Rücklaufweges im Wesentlichen konstant"). Damit ist die Rücklaufbremse aus D2 wie in der Anmeldung ausgeführt.
1.3 Merkmal M1.7
D2 offenbart als Einbaurichtung der Rücklaufbremse die Option gemäß Merkmal M1.7 von Anspruch 1. Der Zylinder ("Gehäuse") ist gemäß Seite 3, Zeilen 6-8, an dem Waffenrohrträger ("Lafette") befestigt, und der Kolben gemäß der in Anspruch 1 der D2 beschriebenen hydraulisch-mechanischen Abbremsung der Vorlaufbewegung des verschiebbaren Rohres am Waffenrohr.
2. Hilfsantrag 1 - Erfinderische Tätigkeit
Die Kammer schließt sich der Auffassung der Prüfungsabteilung gemäß der angefochtenen Entscheidung an, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 nicht erfinderisch ist.
D2 ist unstreitig als nächstliegender Stand der Technik für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit geeignet, da auch hier eine Rücklaufbremse mit Hydraulikzylinder und ein axialer Durchlass in der Innenwandung des Zylinders offenbart wird.
Als einziges Unterscheidungsmerkmal verbleibt die Einbaurichtung gemäß Merkmal M1.6 (siehe auch die Neuheitsdiskussion zum Hauptantrag).
2.1 Objektive technische Aufgabe
Das ursprünglich in der Anmeldung formulierte Problem, die maximale Rückstoßkraft im Vergleich zu bekannten Schusswaffen zu verringern, ist in D2 bereits in gleicher Weise gelöst. Im Hinblick auf das einzige nun verbleibende Unterscheidungsmerkmal ist die technische Aufgabe somit umzuformulieren.
Die Beschwerdeführerin macht nachträglich als technische Wirkung geltend, dass durch die Einbaurichtung gemäß Merkmal M1.6 die Rücklaufmasse bei Verbindung des Zylinders mit dem beweglichen Waffenrohr vergrößert werde, da dieser eine größere Masse habe als der Kolben und zudem nun auch die Hydraulikflüssigkeit zur bewegten Masse gehöre. Daher sieht sie die technische Aufgabe darin, eine Möglichkeit zu schaffen, Geschosse mit höherer Fluggeschwindigkeit oder höherem Gewicht verschießen zu können.
Eine solche behauptete technische Wirkung eines Merkmals kann bei der Formulierung der zu lösenden Aufgabe nur berücksichtigt werden, wenn die Fachperson diese Wirkung aus den ursprünglich eingereichten Unterlagen vor dem Hintergrund des nächstliegenden Stands der Technik eindeutig ableiten kann bzw. wenn diese Wirkung in den ursprünglich eingereichten Unterlagen wenigstens angedeutet wird (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage, 2019, I.D.4.4.2). Dies ist aber hier nicht der Fall.
Beide Einbaurichtungsvarianten werden in der Anmeldung als reine Alternativen ohne besondere spezifische Vorteile dargestellt (Seite 3, erster vollständiger Absatz). Zum Massenverhältnis von Kolben und Zylinder werden keinerlei Aussagen gemacht. Auf Seite 2, Absatz 3 und 5 werden zwar Masse und Geschwindigkeit des Geschosses als wesentliche Einflussgrößen für die Kraftübertragung auf die Waffe dargestellt und die Aufgabe zugrunde gelegt, diese Rückstoßkraft zu verringern. Auf Seite 5 wird in Absatz 4 für die Ausführungsform gemäß Merkmal M1.7 noch dargelegt, dass der Rücklaufimpuls auf die bewegliche Masse bestehend aus Waffenrohr, Verschluss und Hydraulikzylinder übertragen wird. Eine Lehre, dass speziell die Masse des Zylinders eine besondere Rolle spielt oder gar Vorteile gegenüber der anderen Ausführungsform hat, ergibt sich hieraus nicht.
Es gibt auch keine stichhaltigen Gründe anzunehmen, ein Zylinder (und die darin enthaltene Hydraulikflüssigkeit) hätte in jedem Fall und inhärent eine höhere Masse als ein Kolben, da diese Masse von der Größe der Teile sowie der verwendeten Materialien abhängen. Die Merkmale in Anspruch 1 umfassen weder explizit noch implizit eine Information zur Massenverteilung zwischen Kolben und Zylinder.
Somit ist die angeführte Wirkung weder angedeutet, noch ist ersichtlich, warum die Fachperson aus der Anmeldung hätte eindeutig ableiten können, dass die Einbaurichtung einen Effekt auf die maximale Rückstoßkraft haben sollte. Die Kammer stimmt daher der angefochtenen Entscheidung zu, dass das objektive technische Problem in der Realisierung eines alternativen Konstruktionsprinzips der Rückstoßbremse liegt.
2.2 Naheliegen der umgekehrten Einbaurichtung
Allein schon aus dem allgemeinem Fachwissen heraus erkennt die Fachperson, dass die Verbindungsrichtung von Kolben und Zylinder mit Waffenrohr und Waffenträger in D2 gemäß Merkmal M1.6 umkehrbar ist. Da nur zwei Einbaumöglichkeiten existierten, handelt es sich um eine Auswahl aus zwei möglichen gleichwertigen Alternativen und ist auch ohne besonderen Anhaltspunkte offensichtlich (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9.Aufl. 2019, I.D.9.19.8).
Dies bestätigt auch die Offenbarung von D3, in der wie in der Anmeldung beide Einbaurichtungen einer hydraulischen Rücklaufbremse als gleichwertige Alternativen dargestellt sind (Figuren 8 und 9). Wie D2 ist auch D3 auf lafettierte Waffen ("artillery") gerichtet. Insofern würde die Fachperson die Einbaurichtung gemäß Merkmal M1.6 auch im Hinblick auf D3 als offensichtliche Alternative in Betracht ziehen.
3. Hilfsantrag 2
3.1 Zulassung
Der Hilfsantrag 2 wurde in Reaktion auf die Mitteilung der Kammer gemäß Regel 100(2) EPÜ vom 4. Mai 2020 innerhalb der dort festgesetzten Frist eingereicht. Bezüglich der Zulassung dieser Änderung des Beschwerdevorbringens ist Artikel 13(1) VOBK 2020 anzuwenden.
Die Kammer lässt den Antrag in Ausübung ihres Ermessens zu. Durch die Beschränkung auf eine Handfeuerwaffe werden die von der Kammer in ihrer Mitteilung unter Punkt 5.1 insbesondere für lafettierte Waffen aufgeworfenen Fragen bezüglich Klarheit und Auslegung des Merkmals "handbetätigbare Schusswaffe" ausgeräumt. Der Antrag gibt zudem keinen Anlass zu weiteren Einwänden, wie im Folgenden dargelegt.
3.2 Artikel 84 EPÜ
Von der Anmelderin unbestritten ist das Merkmal "handbetätigbar" breit zu interpretieren und umfasst eine Waffe mit manueller Schussauslösung im allgemeinen, unabhängig davon, ob es sich um eine vollständig manuelle, halbautomatische oder automatische Waffe handelt.
Das Merkmal "automatisch" richtet sich auf eine Waffe, die nach einmaliger Schussauslösung (unabhängig davon, ob diese händisch erfolgt oder nicht) automatisch nachlädt und weiterfeuert (z.B. um einen sog. "Feuerstoß" abzugeben).
Ein Klarheitsmangel ergibt sich somit nicht.
3.3 Artikel 123(2) EPÜ
Die Einschränkung des Gegenstands von Anspruch 1 auf eine Handfeuerwaffe geht aus den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen hervor. Auch wenn die Terminologie in der Anmeldung nicht einheitlich ist ("Schusswaffe", "Faustfeuerwaffe", "Handfeuerwaffe", "leichte automatische Waffe"), so lässt sich aus der Gesamtheit der Offenbarung unmittelbar und eindeutig ableiten, dass die Erfindung zu wesentlichen Teilen auf eine von einem Schützen oder einer Schützin tragbare Handfeuerwaffe gerichtet ist.
Seite 1, Absatz 2 beschreibt eine Aufgabenstellung, die auf die "Handhabung" gerichtet ist, wenn der "Schütze selbst die Lafettenfunktion übernimmt". Der Absatz zwischen den Seiten 3 und 4 offenbart unter anderem eine automatische (vgl. die Möglichkeit zur Abgabe von "Feuerstößen") Handfeuerwaffe. Auch die Ausführungsform von Figur 1 zeigt eindeutig eine Handfeuerwaffe und kann beispielsweise als "automatischer Granatwerfer" ausgeführt sein.
3.4 Erfinderisch Tätigkeit
3.4.1 Nächstliegender Stand der Technik
Durch die Beschränkung auf eine Handfeuerwaffe ist die eine lafettierte Waffe offenbarende Druckschrift D2 kein geeigneter Ausgangspunkt mehr. Als nächstliegender Stand der Technik wird nun unstreitig D1 angesehen. D1 ist auf eine Handfeuerwaffe ("firearms", vgl. Figur 1) gerichtet und beschäftigt sich ebenfalls mit der Aufgabe, den auf den Benutzer oder die Benutzerin wirkenden Rückstoß zu dämpfen (Spalte 1, Zeilen 13 bis 23).
D1 offenbart hierzu ein Zylinder-Kolben-Dämpfungssystem im Sinne des Merkmals M1.5. Für den Dämpfer wird auch die Einbaurichtungsoption M1.6 oder M1.7 offenbart, je nach funktioneller Interpretation der einzelnen Teile des in den Figuren 1, 2 und 13 dargestellten Dämpfers. Dieser besteht aus zwei Zylinderteilen 8 und 15, die teleskopartig ineinander verschiebbar sind. Als Kolben lassen sich die geschlossenen Enden interpretieren, die in ihrer Gegenbewegung die Luft komprimieren.
3.4.2 Unterscheidungsmerkmale
Es ist unstreitig, dass das Dämpfungssystem in D1 nicht als Hydraulik-, sondern als Pneumatikbremse ausgeführt ist (Merkmale M1.5, M1.6 und M1.8). Der Dämpfungseffekt beruht hierbei auf der Komprimierung und dem kontrollierten Ausströmen der Luft. Das offenbarte System weist somit auch keine Eignung als Hydraulikbremse auf. Entsprechend ist auch kein axialer Durchlass in der Innenwandung des Hydraulikzylinders zur durchgängigen Verbindung des Zylinderraums vor und hinter dem Kolben gemäß Merkmal M1.8 vorgesehen. Anstelle einer Verbindung der Zylinderräume wird in D1 ein einstellbarer Teil der Luft aus Öffnungen veränderbaren Querschnitts des mit dem Waffenträger verbundenen Zylinderkolbens abgegeben.
3.4.3 Technische Aufgabe
D1 löst bereits die in der Anmeldung formulierte Aufgabe "Reduzierung der Rückstoßkraft". Daher ist die Aufgabe umzuformulieren und liegt in der Bereitstellung einer verbesserten Vorrichtung zur Reduzierung der Rückstoßkraft.
3.5 Die Fachperson würde nicht in Betracht ziehen, die in D1 offenbarte pneumatische Rücklaufbremse so zu modifizieren, dass sie mit einer Hydraulikflüssigkeit betreibbar wäre. Der Dämpfungseffekt in D1 beruht unter anderem darauf, dass die Luft während der Rückstoßbewegung durch Volumenverminderung komprimiert wird (D1, Anspruch 1 und Figuren 1 und 2). Eine solche Volumenänderung schließt die Verwendung einer inkompressiblen Hydraulikflüssigkeit aus.
3.6 Somit bliebe der Fachperson nur übrig, die gesamte Pneumatikbremse mit der Hydraulikbremse der D2 komplett auszutauschen. D2 offenbart zwar eine hydraulische Rücklaufbremse mit den Merkmalen M1.5, M1.7 und M1.8, ist im Wesentlichen jedoch auf die Aufgabe der Dämpfung des Vorlaufs gerichtet. Hierzu sind zwei zusätzliche Bremselemente zur mehrstufigen, hydraulisch-mechanischen Abbremsung der Vorlaufbewegung mit zusätzlichen Ventilen, Federn und Ringfedern vorgesehen. Diese Maßnahmen erhöhen im Vergleich zu der Rücklaufbremse in D1 die Zahl der beweglichen Teile, die Masse (zuzüglich der Hydraulikflüssigkeit), sowie die Baugröße. D1 stellt sich jedoch gerade die Aufgabe eine einfach herstellbare, zuverlässige, kostengünstige und mit einem Minimum an beweglichen Teilen auskommenden Rücklaufbremse zu schaffen (Spalte 2, Zeile 10-12).
Die Offenbarung in D2 ist schwerpunktmäßig auf die Verbesserung und Ausführung der Vorlaufbremse einer lafettierten Waffe gerichtet. D2 gibt keine weiteren Hinweise in Form zusätzlicher Vorteile oder einer Eignung für Handfeuerwaffen. Inwieweit die hydraulische Bremse für den Einsatz in einer Handfeuerwaffe skalierbar wäre, ist D2 nicht zu entnehmen.
3.7 Zusätzlich zu den Fragen von Gewicht, Einbaugröße und Komplexität wäre ein Einbau der hydraulischen Bremse gemäß D2 in die Waffe gemäß D1 auch nicht ohne weitere Modifikationen möglich. D1 bildet einen zweiteiligen Zylinder (8/13), dessen Teile teleskopartig ineinander einschiebbar sind, um die Luft im Zylindervolumen zu reduzieren. Demgegenüber bleiben die äußeren Maße des Zylinders (10) in D2 in der Rückstoßbewegung unverändert. Lediglich die Kolbenstange bewegt sich hier relativ zum Zylinder.
Daher ist die Modifikation der Handfeuerwaffe in D1 im Sinne von Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 für die Fachperson auch unter Berücksichtigung der D2 nicht naheliegend.
4. Im Ergebnis hat die Beschwerde daher Erfolg.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, ein Patent auf der Grundlage folgender Unterlagen zu erteilen:
- Ansprüche 1 bis 5 gemäß Hilfsantrag 2, eingereicht mit dem Schreiben vom 26. Juni 2020;
- Beschreibung Seiten 1 bis 7, eingereicht mit dem Schreiben vom 26. Juni 2020;
- Figuren 1 bis 3 wie veröffentlicht.