T 0600/17 (Kraftfahrzeug / Audi) 02-06-2021
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Kraftfahrzeug mit einer Kombination von vorwärtsgerichteten Radaren mit überlappenden Antennenkeulen
Patentansprüche - Stützung durch die Beschreibung (ja)
Ausreichende Offenbarung - (ja)
Berichtigung von Mängeln - offensichtlicher Fehler
Erfinderische Tätigkeit - nicht naheliegende Änderung
I. Die Beschwerde der Patentanmelderin richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung 08 021 579 zurückzuweisen.
II. Die Prüfungsabteilung wies die Patentanmeldung zurück, weil der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ beruhe und zwar im Hinblick auf die Lehre des Dokuments
D2: DE-A-102 41 456;
das von der Prüfungsabteilung als nächstliegender Stand der Technik angesehen wurde.
Auf die Dokumente
D9: US-A-2003/122704; und
D17: DE-U-94 21 081
wurde ebenfalls Bezug genommen.
Die gleiche Schlussfolgerung gelte, wenn der Fachmann von den jeweiligen folgenden Dokumenten:
D1: DE 23 27 186;
D4: WO-A-03/031228
als nächstliegendem Stand der Technik ausgegangen wäre.
Darüber hinaus beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß dem Hilfsantrag I ebenfalls nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ im Hinblick auf die Kombination der D2, oder D4, mit D17.
Nach Auffassung der Prüfungsabteilung erfülle der Hauptantrag auch nicht die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ. Gegen den Hauptantrag und den Hilfsantrag wurden auch Einwände wegen fehlender Stützung bzw. fehlender Klarheit (Artikel 84 EPÜ) erhoben.
III. Die Anmelderin legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung ein. Sie beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf Basis eines mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrags. Hilfsweise wurde beantragt, das Patent gemäß eines mit der Beschwerdebegründung eingereichten ersten oder zweiten Hilfsantrags aufrechtzuerhalten.
IV. In einer Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020 wurde die Beschwerdeführerin über die vorläufige Auffassung der Kammer unterrichtet, wonach die Einwände der Prüfungsabteilung hinsichtlich mangelnder Klarheit und mangelnder Stützung in der Beschreibung (Artikel 84 EPÜ) sowie hinsichtlich mangelnder Offenbarung (Artikel 83 EPÜ) nicht geteilt würden und weitere Klarheitsprobleme nicht zu erkennen seien. Die zentrale Frage sei jene nach der erfinderischen Tätigkeit und dabei insbesondere die Frage, ob ausgehend von D2 (oder D1 oder D4) der Fachmann im Hinblick auf D9 (oder D17) zum beanspruchten Gegenstand gelangt wäre.
V. In der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer wurden weitere Argumente zur erfinderischen Tätigkeit vorgetragen. In der Lehre der D9 werde jeweils jene Sensoreinrichtung abgeschaltet, dessen Scheinwerfer gerade nicht der Kurve folgt. Dieses Merkmal führe weg vom Erfindungsgegenstand. Aber auch wenn der Fachmann die Kombination von D2 und D9 berücksichtigt hätte, käme im Gegensatz zum Anspruchswortlaut nur eine parallele Verschwenkung der Sensoreinrichtungen in Frage.
VI. Im Laufe der mündlichen Verhandlung wurde der Hauptantrag zum einzigen Antrag gemacht. Die Aussage auf Seite 7 der Beschreibung wurde berichtigt und an den Wortlaut des Hauptanspruchs angepasst.
Konkret beruht der Antrag der Beschwerdeführerin auf folgenden Unterlagen:
Beschreibung:
Seiten 1 bis 6 eingereicht mit Schreiben vom 8. September 2016,
Seite 7 eingereicht während der mündlichen Verhandlung vom 2. Juni 2021.
Ansprüche:
Nr. 1 - 11 eingereicht mit Schreiben vom
2. Februar 2017 als Hauptantrag.
Zeichnungen:
Fig. 1 bis 3 wie ursprünglich eingereicht.
VII. Anspruch 1 lautet:
Kraftfahrzeug mit einer Einrichtung zum Erfassen des Fahrzeugvorfeldes, wobei die Einrichtung wenigstens zwei identische und separat arbeitende Sensoreinrichtungen zum Erfassen des Fernbereichs vor dem Kraftfahrzeug aufweist, die zu beiden Seiten der Fahrzeuglängsachse versetzt angeordnet sind und deren Erfassungsbereiche zumindest teilweise überlappen, dadurch gekennzeichnet, dass die Sensoreinrichtungen (2) zum Erfassen des Fernbereichs vor dem Kraftfahrzeug (1) drehbar um die Vertikalachse sind, wobei die Stellung der wenigstens zwei Sensoreinrichtungen (2) des Fahrerassistenzsystems derart sowohl parallel als auch in jedem beliebig anderen Winkel einstellbar ist, dass der Überlappungsbereich zum Erfassen des Fernbereichs vor dem Kraftfahrzeug (1) variierbar und seine Lage vor dem Kraftfahrzeug (1) einstellbar ist.
Stützung und Klarheit (Artikel 84 EPÜ)
1. Der von der Prüfungsabteilung gegen den unabhängigen Anspruch 1 erhobene Einwand, demnach das Merkmal "die Sensoreinrichtungen ... drehbar um die Vertikalachse sind", nicht gestützt sei, wird nicht weiter verfolgt.
Die Prüfungsabteilung hatte ihre Auffassung auf die gegenteilige Aussage auf Seite 6, Zeilen 14-16 der ursprünglichen Anmeldung gestützt. Der Satz lautet nämlich: "Die Drehung der Sensoreinrichtungen 2a und 2b in vertikaler Richtung wurde durch [...] bewirkt."
2. Der erste Satz im fünften Absatz auf Seite 2 der ursprünglichen Beschreibung lautet aber: "Mit Vorteil können die Sensoreinrichtungen zum Erfassen des Fernbereichs vor dem Kraftfahrzeug um die Vertikalachse drehbar sein." Er entspricht dem Merkmal im ursprünglichen Anspruch 5.
Das fragliche Merkmal im vorliegenden Anspruch ergibt sich somit wortwörtlich aus den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen.
3. Die gegenteilige Aussage auf Seite 6, Zeilen 14-16 ändert nichts an dieser Feststellung. Aus dem Zweck der Erfindung, z.B. ein anderes Kraftfahrzeug auf der Autobahn bei einer Fahrspurwechsel zu verfolgen (vgl. Seite 3, Zeilen 5 - 9 der ursprünglichen Fassung) ergibt sich, dass das beanspruchte Merkmal der tatsächlichen Bewegung der Sensoreinrichtungen entspricht. Dies wird auch von der Figur 2 bestätigt.
4. Nach Auffassung der Prüfungsabteilung ist der Hinweis auf "jeden beliebigen Winkel" im Anspruch 1 weder klar noch von der Lehre der Beschreibung gestützt.
5. Der Hinwies auf jeden beliebigen Winkel im Anspruch 1 ist im Kontext der Erfindung zu interpretieren, das heißt, in Zusammenhang mit der Drehbarkeit der Sensoreinrichtungen um die Vertikalachse sowie der weiteren funktionellen Einschränkung hinsichtlich des Überlappungsbereichs vor dem Kraftfahrzeug. Die Kammer schließt sich der Auffassung der Beschwerdeführerin an, dass der beliebige Winkel, von dem die Rede ist, implizit nur innerhalb der vorgegebenen Randbedingungen beliebig ist. Eine Drehung der Sensoreinrichtungen im Bereich 0 bis 360° ist somit ausgeschlossen. Der von der Prüfungsabteilung auf diese Auslegung aufbauende Einwand unter Artikel 84 EPÜ ist dementsprechend nicht überzeugend.
Ausreichende Offenbarung (Artikel 83 EPÜ)
6. Die Prüfungsabteilung hat den Einwand der fehlenden Ausführbarkeit auf die Auslegung gestützt, dass nicht alle Winkel im Bereich von 0 bis 360° mit an den Fahrzeugecken montierten Sensoren erreicht werden können.
7. In Hinblick auf die Auslegung dieses Merkmal im Kontext der beanspruchten Erfindung (siehe oben zum Punkt Stützung) ist der Einwand hinfällig.
8. Ausgehend von der Lehre der Beschreibung in Kombination mit den allgemeinen Fachkenntnissen aus dem Gebiet der Steuerung wäre die Fachperson durchaus in der Lage die Sensoreinrichtungen innerhalb der vorgegebenen Randbedingungen in jedem beliebigen Winkel einzustellen (Artikel 83 EPÜ).
Berichtigung eines offensichtlichen Fehlers (Regel 139 EPÜ)
9. Die Aussage auf Seite 6 der ursprünglich eingereichten Anmeldefassung hinsichtlich der Drehung in vertikaler Richtung stellt einen offensichtlichen Fehler dar, welcher der eigentlichen Lehre der Anmeldung und des auf Seite 6 beschriebenen Ausführungsbeispiels widerspricht (siehe Kommentare oben zur Stützung des Hauptanspruchs). Der Antrag auf Berichtigung der entsprechenden Aussage auf Seite 7 der angepassten Beschreibung, wonach die Drehung um die Vertikalachse erfolgt, wird dementsprechend stattgegeben.
Erfinderische Tätigkeit - (Artikel 56 EPÜ)
10. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung beruht - in erster Linie - auf Dokument D2 als nächstliegendem Stand der Technik. Diese Auffassung wird seitens der Beschwerdeführerin nicht bestritten. Die Kammer sieht ebenfalls keinen Grund, dies in Frage zu stellen.
11. D2 beschreibt ein Kraftfahrzeug mit einer Einrichtung zum Erfassen des Fahrzeugvorfeldes. Die Einrichtung weist zwei identische und separat arbeitende Sensoreinrichtungen zum Erfassen des Fernbereichs vor dem Fahrzeug auf. Die zwei Sensoreinrichtungen sind zu beiden Seiten der Fahrzeuglängsachse versetzt angeordnet und ihre Erfassungsbereiche überlappen einander ab einer Distanz zur Fahrzeugvorderseite.
12. Eine Drehbarkeit der Sensoreinrichtungen um eine Vertikalachse ist in D2 nicht vorgesehen.
13. Aus dem fünften Absatz auf Seite 2 der ursprünglichen Anmeldung entnimmt der Fachmann, dass durch um die Vertikalachse drehbare Sensoreinrichtungen der überlappende Bereich, der eine redundante Information liefert, nicht mehr fest vorgegeben, sondern variierbar ist. Aus dem die Seiten 3 und 4 überlappenden Absatz der ursprünglichen Beschreibung ergibt sich, dass es aufgrund der über geeignete Sensoreinrichtungen erfassten Information der Steuereinrichtung ermöglicht wird, den überlappenden Bereich der Sensoreinrichtungen besser an den zu erwartenden Fahrweg auszurichten. Aus dem Merkmal, dass die Stellung der wenigstens zwei Sensoreinrichtungen des Fahrerassistenzsystems nicht nur parallel, sondern auch in jedem beliebigen Winkel einstellbar ist, ergibt sich, dass der überlappende Bereich an bestimmte Fahrsituationen angepasst werden kann.
14. Die nun zu lösende Aufgabe besteht darin, unabhängig vom Fahrweg des Fahrzeugs über aus dem überlappenden Bereich erworbene redundante Informationen verfügen zu können. Somit wird eine verlässlichere Analyse der Signale unabhängig vom Fahrweg weiterhin ermöglicht.
15. D9 betrifft ein Fahrerassistenzsystem für Kraftfahrzeuge mit zumindest einem Strahlungsemitter, der sich um die vertikale Achse drehen kann, um einer Krümmung einer Straße zu folgen. Ein solches Fahrerassistenzsystem befindet sich sowohl in dem linken Scheinwerfer als auch in dem rechten Scheinwerfer, wobei jeweils je nach Krümmung der Straße nur eines dieser Systeme aktiviert wird (siehe Absatz [0026]). Eine gleichzeitige Aktivierung der zwei Systeme ist in D9 somit explizit ausgeschlossen.
16. D9 stammt aus dem Gebiet der Einrichtungen zum Erfassen eines Fahrzeugvorfeldes. Die Kammer hat keine Zweifel, dass der Fachmann auf der Suche nach einer Lösung der objektiven Aufgabe, D9 berücksichtigt hätte. Der Fachmann hätte zweifelsohne die Vorteile einer Drehbarkeit um die vertikale Achse der Sensoreinrichtungen erkannt.
17. Nach Auffassung der Kammer wäre der Fachmann allerdings in diesem Zusammenhang nicht zum beanspruchten Gegenstand gelangt. In dieser Hinsicht wird insbesondere auf die funktionelle Definition im Hauptanspruch hingewiesen, demnach die Stellung der zwei Sensoreinrichtungen des Fahrerassistenzsystems sowohl parallel als auch in jedem beliebig anderen Winkel einstellbar ist. Auf eine derartige Einstellbarkeit der Stellung der Sensoreinrichtungen gibt eine Zusammenschau von D2 und D9 keinen Hinweis.
18. Es ist nämlich ein zentrales Merkmal der Lehre der D2, dass die relative Lage und Orientierung der Sensoren zueinander fest vorgegeben ist. Würde der Fachmann auf die Vorteile des Überlappungsbereichs der D2 nicht verzichten wollen und somit aufgrund der Lehre D9 eine Verschwenkung beider Sensoren ermöglichen, müsste er notwendigerweise eine gemeinsame, d.h. auch parallele, Verschwenkung dieser Sensoren vorsehen.
19. Dokument D17 stammt ebenfalls aus dem Gebiet der Einrichtungen zum Erfassen des Fahrzeugvorfeldes. D17 weist auf die Möglichkeit hin, einen Abstandsmesser schwenkbar auf einer Grundplatte anzuordnen, so dass er in Abhängigkeit von dem ermittelten Kurvenradius der Kurven-Fahrtrichtung nachgeführt werden kann (siehe Seite 5, Zeilen 14-16). D17 offenbart allerdings nicht, dass zwei Sensoreinrichtungen vorgesehen sind und somit auch nicht, dass diese parallel bzw. in unterschiedlichen Winkeln zueinander verschwenkt werden.
20. Die Dokumente D1 und D4 weisen einen ähnlichen Offenbarungsgehalt wie in D2. Ein Überlappen der Erfassungsbereiche ist in beiden Dokumenten vorgesehen. Die vorhergehenden Kommentare im Hinblick auf D2 gelten gleichermaßen, wenn der Fachmann von D1 oder D4 ausgegangen wäre.
21. Der Gegenstand des Haupanspruchs ergibt sich nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik. Der Gegenstand des Hauptanspruchs ist dementsprechend erfinderisch im Sinne des Artikels 56 EPÜ.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent mit folgender Fassung zu erteilen:
Beschreibung:
Seiten 1 bis 6 eingereicht mit Schreiben vom
8. September 2016.
Seite 7 eingereicht während der mündlichen Verhandlung
vom 2. Juni 2021.
Ansprüche:
Nr. 1 - 11 eingereicht mit Schreiben vom
2. Februar 2017 als Hauptantrag.
Zeichnungen:
Fig. 1 bis 3 wie ursprünglich eingereicht.