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T 0737/17 15-03-2022
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VERFAHREN ZUR HERSTELLUNG ALKOHOLFREIER PFLANZENBASIERTER ZUSAMMENSETZUNGEN SOWIE AUF DIESE WEISE HERGESTELLTE ZUSAMMENSETZUNGEN UND DEREN VERWENDUNG
Einspruchsgründe - mangelhafte Offenbarung (nein)
Spät eingereichte Beweismittel
I. Das Europäische Patent Nr. 2 605 831 (Streitpatent) wurde mit 15 Patentansprüchen erteilt.
Anspruch 1 hat den folgenden Wortlaut:
1. Verfahren zur Herstellung einer zumindest im Wesentlichen alkoholfreien Zusammensetzung mit einem Alkoholgehalt, insbesondere einem Ethanolgehalt, von weniger als 2 Vol.-% auf Basis mindestens eines Pflanzenextraktes mit sekretolytischer und/oder expektorationsfördernder Wirkung, wobei das Verfahren die folgenden Verfahrensschritte umfasst:
(a) Bereitstellung mindestens eines alkoholischen Pflanzenextraktes mit sekretolytischer und/oder expektorationsfördernder Wirkung, wobei der mindestens eine Pflanzenextrakt mit sekretolytischer und/oder expektorationsfördernder Wirkung ausgewählt ist aus der Gruppe von Thymian-Extrakt, Primelwurzel-Extrakt, Efeu-Extrakt, Pelargonie-Extrakt, Holunder-Extrakt, Fenchel-Extrakt, Huflattich-Extrakt, Anis-Extrakt und Tüpfelfarn-Extrakt sowie Mischungen und Kombinationen von mindestens zwei der vorgenannten Extrakte; nachfolgend
(b) Aufbringen und/oder Immobilisieren des alkoholischen Pflanzenextraktes mit sekretolytischer und/oder expektorationsfördernder Wirkung an einem festen wasserlöslichen Träger, wobei der Träger ausgewählt wird aus der Gruppe von Zuckern, Zuckeraustauschstoffen und Kohlenhydraten sowie deren Kombinationen oder Mischungen; dann
(c) Entfernen des Alkohols durch Trocknung; anschließend
(d) Solubilisieren des auf diese Weise erhaltenen, von Alkohol befreiten, den Pflanzenextrakt mit sekretolytischer und/oder expektorationsfördernder Wirkung enthaltenden Trägers in einem wässrigen Exzipienten zum Erhalt einer im Wesentlichen alkoholfreien Zusammensetzung mit einem Alkoholgehalt, insbesondere einem Ethanolgehalt, von weniger als 2 Vol.-% auf Basis mindestens eines Pflanzenextraktes mit sekretolytischer und/oder expektorationsfördernder Wirkung.
II. Gegen die Erteilung des Streitpatents wurde ein Einspruch eingelegt, wobei als Einspruchsgründe fehlende Neuheit und fehlende erfinderische Tätigkeit unter Artikel 100 a) EPÜ sowie unzureichende Offenbarung unter Artikel 100 b) EPÜ angeführt wurden.
III. Hauptantrag der Patentinhaberin im Verfahren vor der Einspruchsabteilung war die Zurückweisung des Einspruchs. Die Patentinhaberin legte weitere Anspruchssätze als Hilfsanträge vor und behielt schließlich 14 dieser Hilfsanträge bei.
IV. Im Verlauf des Einspruchsverfahrens wurden unter anderen die folgenden Beweismittel genannt:
D1: Versuchsbericht: Nacharbeitung des in EP 2605831B1 beschriebenen Ausführungsbeispiels
D2: WO 2008/125239 A3
D6: Thymol - Wikipedia,
https://de.wikipedia.org/wiki/Thymol (04.02.2016)
D7: Polyethylenglykole - Römpp Chemie-Lexikon, Band 5,
Seite 3532, 9. Auflage 1992
D8: Polyethylenglycol - Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Polyethylenglycol,
(09.02.2016)
D9: Roth: Polyethylenglykol 200 ROTIPURAN® Ph. Eur.,
Sicherheitsdatenblatt (9.12.2015)
D10: Saccharose - Wikipedia,
https://de.wikipedia.org/wiki/Saccharose (26.09.2016)
V. Die vorliegende Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die in der mündlichen Verhandlung vom 28. November 2016 verkündete und am 6. März 2017 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Streitpatent zu widerrufen.
VI. In der Sache kam die Einspruchsabteilung unter anderem zu dem folgenden Ergebnis:
a) Die seitens der Einsprechenden nach Ablauf der Einspruchsfrist gemäß Artikel 99(1) EPÜ eingereichten Beweismittel D6-D10 wurden in das Verfahren zugelassen.
b) Das im erteilten Anspruch 1 (Hauptantrag) definierte Verfahren sei nicht über die gesamte Anspruchsbreite ausführbar (Artikel 100 b) EPÜ), und zwar im Hinblick auf die geforderte Entfernung des Alkohols durch Trocknung bei gleichzeitigem Erhalt der Wirkstoffe des Pflanzenextrakts.
c) Der Einwand unzureichender Offenbarung (bzw. mangelnder Ausführbarkeit) treffe in gleicher Weise auf die Hilfsanträge 1 bis 12 zu.
d) Anspruch 1 von Hilfsantrag 13 und Anspruch 1 von Hilfsantrag 14 wurden wegen Erweiterung des Schutzbereichs unter Artikel 123(3) EPÜ als nicht gewährbar erachtet.
VII. Mit ihrer Beschwerdebegründung beantragte die Beschwerdeführerin im Hauptantrag die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, die Zurückweisung des Einspruchs und die Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung. Sie reichte außerdem weitere Anspruchssätze als Hilfsanträge I bis V, Va, Vb und VI bis XII ein.
Dabei sind die Hilfsanträge I bis V und VI bis XII identisch mit den in der angefochtenen Entscheidung behandelten Hilfsanträgen 1 bis 12. Die Hilfsanträge Va und Vb sind identisch mit den in der angefochtenen Entscheidung behandelten Hilfsanträgen 13 und 14.
VIII. Mit ihrer Beschwerdeerwiderung legte die Einsprechende (Beschwerdegegnerin) neue experimentelle Daten vor:
D11: Seiten 9-10 der Beschwerdeerwiderung (weitere experimentelle Daten der Beschwerdegegnerin)
IX. Den einschlägigen Anträgen der Verfahrensbeteiligten entsprechend lud die Kammer zu einer mündlichen Verhandlung.
Im Rahmen einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK erläuterte sie ihre vorläufige Einschätzung insbesondere zur Auslegung von Anspruch 1, zur Beurteilung der Ausführbarkeit und zur Option der Zurückverweisung unter Artikel 111(1) EPÜ.
X. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 15. März 2022 statt.
Die Beschwerdeführerin beantragte eingangs unter anderem die Nicht-Zulassung der Beweismittel D6 bis D10 und D11. Die Verfahrensbeteiligten wurden zur Zulassung dieser Beweismittel und zur Ausführbarkeit des Verfahrens gemäß Anspruch 1 des Streitpatents gehört. Die Kammer ließ D11 nicht zu und teilte im Anschluss an die Diskussion zur Ausführbarkeit nach Beratung ihre Auffassung mit, dass der Gegenstand der Hauptantrags hinreichend offenbart sei. Auf die Frage des Vorsitzenden teilte die Beschwerdegegnerin mit, dass Neuheit gegenüber der Entgegenhaltung D2 anerkannt werde. Beide Verfahrensbeteiligten beantragten die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur Erörterung der erfinderischen Tätigkeit.
XI. Die Argumentation der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Zulassung von Beweismitteln
Die überwiegend nicht vorveröffentlichen Schriftstücke D6-D10 seien im Verfahren vor der Einspruchsabteilung verspätet (d.h. nach Ablauf der Einspruchsfrist) und nicht in Reaktion auf neue Sachverhalte vorgelegt worden; ihr Inhalt sei zudem nicht relevant.
D11 sei erst mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht worden, obwohl die vorgelegten Daten nur Sachverhalte beträfen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren diskutiert worden seien. Zudem fehle die inhaltliche Relevanz.
Ausführbarkeit
Die im Streitpatent ab Absatz [0136] präsentierte Zusammenfassung der Ergebnisse aus mehreren Ausführungsbeispielen belege die Ausführbarkeit des Verfahrens gemäß Anspruch 1. Die Beweispflicht für die gegenteilige Behauptung liege bei der Beschwerdegegnerin.
Nach der streitpatentgemäßen Lehre komme es nicht maßgeblich darauf an, ob ausschließlich im Verfahrens-schritt (c) der Alkohol entfernt bzw. dessen Gehalt eingestellt werde oder auch der Verfahrensschritt (d) hierzu einen Beitrag leiste. Anspruch 1 stelle außerdem, anders als von der Einspruchsabteilung vorausgesetzt, nicht auf einen bestimmten Wirkstoffgehalt im Endprodukt ab.
Auch weise das Streitpatent (Absätze [0091]-[0092]) ausdrücklich darauf hin, dass die Temperatur- und Druckverhältnisse bei der Trocknung an die jeweils vorliegenden Lösungsmittel anzupassen seien, was im übrigen für den Fachmann ohnehin Routine sei.
Im Gegensatz zu dieser Anweisung seien im Versuchs-bericht D1 der Beschwerdegegnerin unrealistische Bedingungen gewählt worden, die absehbar zum Misserfolg führen mussten, speziell eine zu niedrig gewählte Trocknungstemperatur.
Überdies könne auch grundsätzlich ein einzelner Fehlversuch zur Erfüllung der Beweispflicht der Beschwerdegegnerin nicht ausreichen.
XII. Die Argumentation der Beschwerdegegnerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Zulassung von Beweismitteln
Die Dokumente D6-D10 enthielten allgemeines Fachwissen im Hinblick auf bekannte physikalische Daten der darin behandelten Substanzen. Sie seien lediglich zum besseren Verständnis des Sachverhalts eingeführt worden. Daher bestehe keine Veranlassung, diese Dokumente nicht zuzulassen.
Die Testergebnisse gemäß D11 seien vorgelegt worden, um die Argumentation der Beschwerdegegnerin noch weiter zu ergänzen.
Ausführbarkeit
Es werde nicht bestritten, dass das in Anspruch 1 des Streitpatents definierte Verfahren in einem Teilbereich ausführbar sei, so beispielsweise dann, wenn Ethanol als einziger Alkohol in dem eingesetzten alkoholischen Pflanzenextrakt vorliege.
Mit Verweis auf den Versuchsbericht D1 werde aber bestritten, dass auf der Grundlage der Informationen im Streitpatent das Verfahren, und darin insbesondere der Trocknungsschritt (c), bei Vorliegen von höhersiedenden Alkoholen wie Glycerin in dem zu behandelnden Gemisch anspruchsgemäß durchführbar sei und dass dabei der Wirkstoffgehalt erhalten bleibe. Das Streitpatent gebe keine konkrete Anleitung, wie die Prozessbedingungen zu wählen seien. Die Ausführbarkeit sei somit nicht über den gesamten beanspruchten Bereich hinweg gegeben.
XIII. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte abschließend im Hauptantrag die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung auf der Grundlage der Ansprüche in der erteilten Fassung bzw. hilfsweise auf der Grundlage eines der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anspruchssätze gemäß Hilfsantrag I bis V, Va, Vb oder VI bis XII.
Weiter hilfsweise beantragte sie die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückweisung des Einspruchs oder nachrangig die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage eines der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anspruchssätze gemäß Hilfsantrag I bis V, Va, Vb oder VI bis XII.
XIV. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde. Für den Fall, dass die Kammer die Ausführbarkeit bejahen sollte, beantragte sie die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung.
1. Zulässigkeit der Beschwerde
Die Beschwerde erfüllt die Erfordernisse von Artikel 106 bis 108 und Regel 99 EPÜ; sie ist zulässig.
2. Zulassung von Beweismitteln (Artikel 12(4) VOBK 2007)
2.1 D6-D10
2.1.1 Die Beweismittel D6 bis D10 wurden von der Einsprechenden zum Beleg bekannter physikalischer Eigenschaften von Thymol, Saccharose und Polyethylen-glykol vor dem Zeitpunkt gemäß Regel 116(1) EPÜ vorgelegt und von der Einspruchsabteilung zugelassen, die diese Dokumente als repräsentativ für allgemeines Fachwissen ansah (vgl. Punkt 14.2 der angefochtenen Entscheidung).
2.1.2 Die in Artikel 12(4) VOBK 2007 genannten Kriterien ("die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind") treffen damit nicht zu.
2.1.3 Für die Kammer ist auch nicht erkennbar, dass die Einspruchsabteilung in diesem Punkt ihr Ermessen falsch ausgeübt hätte. Die Kammer sah somit keinen konkreten Anlass, die Ermessensentscheidung der Einspruchs-abteilung zur Zulassung von D6 bis D10 aufzuheben.
2.2 D11
2.2.1 Der Versuchsbericht gemäß D11 wurde erstmalig mit der Beschwerdeerwiderung vorgelegt. Darin geht es um die Frage, ob und in welchem Umfang in Abhängigkeit von den gewählten Trocknungsbedingungen bei dem Verfahren des Streitpatents ein unerwünschter Wirkstoffverlust auftreten kann.
2.2.2 Die Beschwerdegegnerin bestritt nicht, dass die selektive Entfernung der alkoholischen Lösungsmittel unter Vermeidung von Wirkstoff-Verlusten eine im Streitpatent (vgl. Absätze [0055] und [0099]) als vorteilhaft genannte technische Wirkung ist, die bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung im Kontext der Ausführbarkeit thematisiert wurde (vgl. Ladebescheid der Einspruchsabteilung vom 27. Juni 2016, Punkt 7.2.b).
2.2.3 Dementsprechend hätte der Versuchsbericht D11 bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung eingereicht werden müssen. Die Kammer entschied daher im Rahmen ihres Ermessens gemäß Artikel 12(4) VOBK 2007, den Versuchsbericht D11 nicht zum Verfahren zuzulassen.
3. Ausführbarkeit (Artikel 100 b) EPÜ)
3.1 Der Einwand der Beschwerdegegnerin zur unzureichenden Offenbarung betraf den Verfahrensanspruch 1.
Streitpatent und beanspruchtes Verfahren
3.2 Das Streitpatent hat sich zum Ziel gesetzt, Zusammen-setzungen auf der Grundlage von Pflanzenextrakten mit sekretolytischer und/oder expektorationsfördernder Wirkung zur Verfügung zu stellen, die von alkoholischen Extraktionsmitteln weitgehend befreit sind.
3.3 In Anspruch 1 wird dementsprechend ein Verfahren definiert, das ausgehend von einem alkoholhaltigen Pflanzenextrakt in mehreren Schritten zu einer extrakt- bzw. wirkstoffhaltigen Zusammensetzung mit einem Alkoholgehalt von weniger als 2 Vol.-% führt.
3.4 In Anspruch 1 ist von "Alkoholgehalt, insbesondere (...) Ethanolgehalt" die Rede. Dem Gesamtkontext ist zu entnehmen, dass mit Alkoholen im Streitpatent diejenigen Alkohole gemeint sind, die als Extraktions-mittel zur Herstellung von Pflanzenextrakten zur Anwendung kommen. Neben Ethanol exemplarisch genannt werden in der Beschreibung (jedoch nicht in Anspruch 1) glykolische Extraktionsmittel wie Glycerin, Propylen-glykol und Polyethylenglykol (vgl. Absätze [0014], [0035] und [0103] des Streitpatents).
Kriterien für die Beurteilung der Ausführbarkeit
3.5 Anspruch 1 ist ein Verfahrensanspruch. Im Hinblick auf dessen Ausführbarkeit ist zu beurteilen, ob Zweifel daran bestehen, dass die in Anspruch 1 definierten Verfahrensschritte wie im Anspruch vorgegeben durchgeführt werden können und zu einem Endprodukt führen, das alle aus Anspruch 1 als obligatorisch zu entnehmenden Merkmale aufweist. Vorteile oder technische Wirkungen, die nicht im Anspruch selbst genannt sind, sind ebenso wie nicht im Anspruch festgelegte technische Merkmale hierbei unerheblich.
3.6 Zur Begründung der fehlenden Ausführbarkeit des beanspruchten Verfahrens hat die Beschwerdegegnerin den Versuchsbericht D1 ("Nacharbeitung des in EP 2605831B1 beschriebenen Ausführungsbeispiels") herangezogen.
Mit D1 soll offenbar an einem konkreten Fall gezeigt werden, dass auf der Grundlage der Informationen im Streitpatent eine Durchführung der Verfahrensschritte von Anspruch 1 nicht möglich ist oder nicht zu einer anspruchskonformen Zusammensetzung führt.
Somit ist zu beurteilen, ob dies tatsächlich mit D1 gezeigt wurde und falls ja, ob dieses Einzelergebnis ausreicht, um die Ausführbarkeit des beanspruchten Verfahrens zu verneinen.
Inhalt von D1
3.7 Wie in D1 dargestellt, wurde mit einer Mischung aus Thymianextrakt und Primelwurzelextrakt ein Verfahren durchgeführt, das sich am Ausführungsbeispiel des Streitpatents (Absätze [0136] bis [0143]) orientierte.
3.8 Die Bereitstellung des Extraktgemischs (enthaltend Ethanol und Glycerin als alkoholische Extraktions-mittel) sowie dessen Aufbringen auf ein Trägermaterial aus Saccharose und PVP durch Wirbelschichtgranulierung entsprechen den Schritten (a) und (b) gemäß Anspruch 1 des Streitpatents.
3.9 Zu den Trocknungsbedingungen im sich anschließenden Trocknungsschritt (c) liegt lediglich eine Temperatur-angabe vor (60°C), so dass der Trocknungsvorgang nicht im Detail nachvollziehbar ist. Die Konzentrations- und Mengenangaben in D1 (die allerdings rechnerisch nicht lückenlos nachvollziehbar sind) scheinen nahezulegen, dass bei der Trocknung das Glycerin (Siedepunkt: 290°C) nicht oder jedenfalls nicht vollständig entfernt wurde, während jedoch ein gewisser Trocknungsverlust an dem relativ flüchtigen Wirkstoff Thymol eintrat. Zum Verlust an Ethanol wird keine Aussage gemacht.
3.10 Nach dem Solubilisieren gemäß Verfahrensschritt (d) wurde eine wirkstoffhaltige flüssige Zusammensetzung mit einem Glyceringehalt von 0,95 Gew.-% erhalten. Es fehlt eine Angabe in Vol.-%. Der Ethanolgehalt ist in D1 nicht angegeben. Mit den vorhandenen Angaben ist folglich nicht verifizierbar, ob der Alkoholgehalt in der so hergestellten Zusammensetzung wie in Schritt (d) von Anspruch 1 vorgesehen bei unter 2 Vol.-% lag. Bezogen auf die pflanzlichen Wirkstoffe wurde in Schritt (d) anscheinend ein deutlich höherer Verdünnungsfaktor gewählt als im Ausgangsgemisch von Schritt (a).
Position der Verfahrensbeteiligten
3.11 Die jeweilige Argumentation der Verfahrensbeteiligten ist im Abschnitt "Sachverhalt und Anträge" wiedergegeben (vgl. die Punkte XI. und XII.).
Auslegung von Anspruch 1
3.12 Für die systematische Behandlung der Thematik und um festzustellen, inwieweit D1 dem anspruchsgemäßen Verfahren entspricht, ist es erforderlich, zunächst festzustellen, welche obligatorischen Anspruchsmerkmale zu erfüllen sind.
3.13 Hier stellt sich die Frage, wie die Angabe in Verfahrensschritt (c) "Entfernen des Alkohols durch Trocknung", auch in Zusammenschau mit der Definition von Schritt (d), auszulegen ist; insbesondere:
(i) ob eine restlose Entfernung vorgesehen ist und
(ii) ob sämtliche Alkoholarten durch den Trocknungs-vorgang in Schritt (c) entfernt werden müssen.
3.13.1 zu Punkt (i):
Aus der Formulierung "Entfernen des Alkohols" allein kann nicht zwingend hergeleitet werden, dass eine restlose Entfernung gemeint ist.
Laut Absatz [0101] des Streitpatents (entsprechend Seite 27, Zeilen 4 bis 16 der ursprünglich eingereichten Anmeldung) wird im Verfahrensschritt (c) der Alkohol "zumindest im Wesentlichen", also nicht unbedingt restlos, entfernt.
Anspruch 1 macht zudem keine Aussage zum maximal tolerierten Alkoholanteil in dem getrockneten Zwischenprodukt. Die konkret zu erfüllende Vorgabe besagt vielmehr, dass im Endprodukt aus Schritt (d) nur noch weniger als 2 Vol.-% Alkohol enthalten sein darf.
Das Solubilisieren des getrockneten Zwischenprodukts gemäß Verfahrensschritt (d) bringt zwangsläufig eine Verdünnung mit sich, da ja dem Ansatz mit dem wässrigen Exzipienten ein weiterer Bestandteil hinzugefügt wird.
Falls im Endprodukt ein anspruchsgemäß tolerierter Restalkoholgehalt im Bereich zwischen 0 und 2 Vol.-% enthalten ist, kann dieser folglich sowohl aus dem Produkt des Verfahrensschritts (c) als auch aus dem im Verfahrensschritt (d) zugesetzen Exzipienten stammen (vgl. auch Absatz [0101] des Streitpatents, wo erläutert wird, dass ein "zumindest im Wesentlichen" aklkoholfreier Exzipient zum Einsatz kommt und die Einstellung des Alkoholgehalts mit den Schritten (b) und (c) erfolgt).
3.13.2 zu Punkt (ii):
Den Hauptanteil der in Extraktionsmitteln für Pflanzenextrakte eingesetzten Alkohole dürften üblicherweise Ethanol oder andere niedrigsiedende Alkohole ausmachen. Weiter ist es also vorstellbar, dass in einem Extraktgemisch größere Anteile von Ethanol neben geringeren Anteilen von Glycerin vorliegen (wie auch in D1 beschrieben), dass nur das Ethanol durch Trocknung entfernt wird und dass nach dem Solubilisieren der Gesamt-Alkoholgehalt (einschließlich des noch vorhandenen Glycerins) unter 2 Vol.-% liegt. Auch diese Variante scheint durch den Anspruchswortlaut nicht eindeutig ausgeschlossen.
3.14 Weiter ist die in Punkt 15.1.1 der angefochtenen Entscheidung gewählte Auslegung des erteilten Anspruchs 1 bezüglich des Wirkstoffgehalts im Endprodukt für die Kammer nicht nachvollziehbar: Anspruch 1 macht keine Vorgabe zum tolerierbaren Trocknungsverlust an flüchtigen Pflanzenwirkstoffen. Auch findet sich an keiner Stelle in Anspruch 1 die Vorgabe, dass der Wirkstoff- oder Extraktgehalt im Endprodukt mindestens 95% des Gehalts im Ausgangsprodukt (Pflanzenextrakt vor der Trocknung) betragen muss. Es gibt nicht einmal die Vorgabe, dass die Volumina des Ausgangsprodukts und des Endprodukts in einem bestimmten Verhältnis (beispielsweise 1:1) zueinander stehen müssen, was in diesem Zusammenhang ja durchaus relevant wäre.
Beurteilung der Ausführbarkeit
3.15 Auch wenn bei dem in D1 beschriebenen Versuch ein gewisser Trocknungsverlust zumindest an Thymol festgestellt wurde (s.o. Punkt 3.9), erfüllt D1 offenbar die Vorgabe aus Anspruch 1, dass eine Zusammensetzung "auf Basis mindestens eines Pflanzenextraktes mit sekretolytischer und/oder expektorationsfördernder Wirkung" erhalten wird.
3.16 Somit reduziert sich die Fragestellung darauf, ob D1 tatsächlich belegt, dass Verfahrensschritt (c) im Hinblick auf die Entfernung von Alkohol und die Einstellung des angestrebten Alkoholgehalts von unter 2 Vol.-% im Endprodukt (Schritt (d)) nicht über den gesamten beanspruchten Bereich ausführbar ist.
3.17 Wie bereits festgestellt (s.o. 3.9-3.10), finden sich in D1 keine Angaben zur Entfernung von Ethanol und zum Alkoholgehalt im Endprodukt in Vol.-%. Aus dem Fehlen von Angaben lässt sich nicht schließen, dass die Merkmale gemäß Schritt (c) und (d) nicht erfüllt wären.
3.18 Es lässt sich aus den Angaben in D1 jedoch zumindest entnehmen, dass - wenig überraschend - das Glycerin bei 60°C im wesentlichen nicht aus dem Ansatz entfernt werden konnte. Unter Einbeziehung der Überlegungen unter Punkt 3.13 lässt sich aber auch hieraus nicht schließen, dass die Anspruchsmerkmale gemäß Schritt (c) und (d) nicht erfüllt wären.
3.19 Der in D1 wiedergegebene Versuchsbericht ist aus den folgenden Gründen nicht geeignet, begründete Zweifel an der Ausführbarkeit des anspruchsgemäßen Verfahrens zu wecken:
3.19.1 Wie bereits erläutert, erlauben die Angaben in D1 keine Aussage bezüglich eines Misslingens der Verfahrensschritte (c) und (d), wenn man davon ausgeht, dass Anspruch 1 nicht zwingend die Entfernung speziell von Glycerin durch Trocknung/Erhitzen vorschreibt.
3.19.2 Selbst wenn das aber der Fall wäre, stellt sich die grundsätzliche Frage, ob ein punktuell durchgeführter Einzelversuch, der zudem nicht vollständig beschrieben und nachvollziehbar ist, die Ausführbarkeit des beanspruchten Verfahrens in Frage stellen kann.
Während auch die Ausführungsbeispiele im Streitpatent nur allgemein zusammengefasst sind und nicht die konkrete Verfahrensführung bei der Trocknung offenbaren (vgl. Absatz [0140] des Patents), gibt es jedoch andererseits keinen konkreten Anlass zu der Annahme, dass der Fachmann die Verfahrensbedingungen in Abhängigkeit von der Art der anwesenden Extrakt-bestandteile und Lösungsmittel nicht routinemäßig einstellen und optimieren könnte. Dies ist auch die Anweisung, die im Streitpatent gegeben wird (Absätze [0089] bis [0092], entsprechend Seite 24, Zeilen 4 bis 30 der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung). In D1 wurde eine solche Optimierung nicht versucht.
Der Fachmann würde dabei Bedingungen vermeiden, die erwartbar nicht zielführend sein können. Für hypothetische Varianten, die aber für den Fachmann erkennbar aufgrund physikalischer Gesetze ohnehin nicht umsetzbar sind, muss im Patent/in der Anmeldung naturgemäß keine Anleitung zur praktischen Durchführung gegeben werden.
3.20 Wie bereits erwähnt, findet sich in Anspruch 1 keine Vorgabe zu Wirkstoffverlusten oder einem Mindestgehalt von Extrakt- und Wirkstoffen im Endprodukt. Zur Frage von unerwünschten Wirkstoffverlusten wäre ergänzend dennoch allgemein anzumerken, dass der Fachmann selbstverständlich (auch aus Kostengründen) bestrebt wäre, die Verfahrensbedingungen insgesamt so einzustellen, dass die Trocknung und Entfernung der Alkohole bei möglichst geringem Wirkstoffverlust erfolgt, somit also das Verfahren auf technisch sinnvolle Weise durchzuführen. Dies kann streitpatentkonform nicht nur durch die Optimierung der Trocknungsbedingungen, sondern auch dadurch erreicht werden, dass bei der Bereitstellung von Pflanzen-extrakten mit besonders flüchtigen Wirkstoffen Zusätze von schwerflüchtigen Alkoholen im Extraktionsmittel soweit als möglich vermieden werden. Diese Maßnahmen liegen im Rahmen der üblichen Tätigkeiten des Fachmanns und stellen keine unzumutbare Bürde dar.
3.21 Aus diesen Gründen steht der Einspruchsgrund unter Artikel 100 b) EPÜ nicht der Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung entgegen.
4. Zurückverweisung (Artikel 111(1) EPÜ)
4.1 Die angefochtene Entscheidung behandelt insbesondere die Ausführbarkeit des unabhängigen Verfahrensanspruchs unter Artikel 100 b) und 83 EPÜ, während zum Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit unter Artikel 100 a) EPÜ noch keine Entscheidung der Einspruchsabteilung vorliegt.
4.2 Vorrangiges Ziel des Beschwerdeverfahrens ist es, die angefochtene Entscheidung zu überprüfen. Zudem beantragten die Verfahrensbeteiligten beide die Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung zur Erörterung der erfinderischen Tätigkeit.
4.3 Diese besonderen Gründe sprechen dafür, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen (Artikel 11 VOBK).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.