T 0935/17 06-08-2021
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Verfahren zum Betreiben einer Windenergieanlage bei Überspannungen im Netz
Siemens Aktiengesellschaft
Vestas Wind Systems A/S
ENERCON GmbH
Einspruchsgründe - Gegenstand geht über den Inhalt der früheren Anmeldung hinaus (ja)
Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (Hilfsanträge 1 bis 4) (ja)
Spät eingereichter Hilfsantrag A - Rechtfertigung für späte Vorlage (nein)
Spät eingereichter Hilfsantrag A - Antrag eindeutig gewährbar (nein)
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das als EP 2 209 205 B1 veröffentlichte europäische Patent (im Folgenden "Streitpatent") zu widerrufen. Im Hinblick auf das Streitpatent in der erteilten Fassung ist die Einspruchsabteilung zu dem Schluss gekommen, dass der Einspruchsgrund nach Artikel 100 a), 54 EPÜ durchgreife.
II. Die ursprüngliche Patentinhaberin und Beschwerdeführerin hat das Streitpatent im Verlauf des Verfahrens auf die Senvion Deutschland GmbH übertragen, die zwischenzeitlich firmiert als Siemens Gamesa Renewable Energy Service GmbH. Die Registerumschreibung auf die nunmehrige Patentinhaberin ist antragsgemäß erfolgt.
III. Das Streitpatent beruht auf einer europäischen Teilanmeldung, die als EP 2 209 205 A1 veröffentlicht wurde.
Die Teilanmeldung geht auf eine frühere Internationale Anmeldung (im Folgenden "Stammanmeldung") zurück, die als WO 2008/125163 A1 veröffentlicht wurde.
IV. Die Einsprechenden O3 (Vestas Wind Systems A/S) und O4 (Enercon GmbH) sind Beschwerdegegnerinnen 3 und 4.
Die Einsprechende O1 (Siemens AG) war Beschwerdegegnerin 1, hat jedoch nach Einreichung einer Beschwerdeerwiderung ihren Einspruch zurückgezogen und ist daher nicht mehr am Verfahren beteiligt.
Die Einsprechende O2 (Nordex Energy GmbH) hat ihren Einspruch bereits im erstinstanzlichen Verfahren zurückgezogen und ist deshalb am Beschwerdeverfahren nicht beteiligt.
V. Anspruch 1 des Streitpatents lautet wie folgt (Hervorhebung durch die Kammer):
"1. Verfahren zum Betreiben einer Windenergieanlage (15-19) mit einem von einem Rotor (25-29) angetriebenen elektrischen Generator (30) zum Abgeben elektrischer Leistung an ein elektrisches Netz (31), das eine Netzspannung vorsieht, wobei bei Vorherrschen einer Überspannung im Netz (31) Blindleistung von der Windenergieanlage (15-19) in das Netz (31) eingespeist wird, um eine Spannung die zwischen einem Verknüpfungspunkt der Windenergieanlage (15-19) an das elektrische Netz (31) und dem Generator (30) der Windenergieanlage (15-19) vorliegt, zu senken, wobei überwacht wird, ob innerhalb einer vorgebbaren Zeit die Spannung auf einen vorgebbaren Sollwert gesenkt wurde und/oder ein Blindstrom abgegeben wird, der größer oder gleich einem vorgebbaren Blindstromsollwert ist, wobei erst bei Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs erhöhte Blindleistung in das Netz (31) eingespeist wird."
VI. Die angefochtene Entscheidung behandelte die Anträge der Patentinhaberin, die Einsprüche zurückzuweisen (Hauptantrag), hilfsweise, das Patent in geänderter Fassung gemäß einem der damaligen Hilfsanträge 1, 2a und 3a aufrechtzuerhalten. Die Einspruchsabteilung stellte unter anderem fest, dass Ansprüche 1 und 9 des Streitpatents (Hauptantrag) den Erfordernissen der Artikel 123 (2) und 100 (c) EPÜ genügen (vgl. Entscheidungsgründe, Abschnitt 10.1).
Bezüglich des beim erteilten Anspruch 1 des Streitpatents hinzugefügten Wortes "erhöhte" führte die Einspruchsabteilung im Abschnitt 10.1.4 Folgendes aus:
"Die Einspruchsabteilung ist der Meinung, dass diese "erhöht" ausreichend auf Seite 10, Zeilen 22-26 [der Stammanmeldung] offenbart ist. (...wobei der im normalen Betrieb vor der Überspannung eingespeiste Blindstrom eben zu dem in der Erfindung genannten Blindstrom hinzukommt)".
VII. Mit der Beschwerdebegründung vom 1. Juni 2017 hat die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) Anspruchssätze gemäß den Hilfsanträgen 1 bis 3 eingereicht und mit Schriftsatz vom 24. Januar 2020 einen Anspruchssatz gemäß Hilfsantrag 4 nachgereicht, wobei
- Hilfsanträge 1 und 3 den erstinstanzlichen Hilfsanträgen 1 und 3a entsprechen; und
- Hilfsanträge 2 und 4 erstmalig im Beschwerdeverfahren eingereicht wurden.
Alle dieser Hilfsanträge beinhalten in Anspruch 1 das Merkmal "erhöhte Blindleistung".
VIII. Soweit für die vorliegende Entscheidung relevant, lässt sich der Sachvortrag der Beteiligten wie folgt zusammenfassen:
IX. Die Beschwerdeführerin machte geltend, dass der Hauptantrag und die Hilfsanträge 1 bis 4 die Erfordernisse der Artikel 123 (2), 83, 54 und 56 EPÜ erfüllen.
Das Merkmal, wonach "erst bei Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs erhöhte Blindleistung in das Netz (31) eingespeist wird" ergebe sich bis auf das Wort "erhöhte" aus dem ursprünglich eingereichten Patentanspruch 2. Die ursprünglich Offenbarung auf Seite 10, Zeilen 22 bis 26 lasse zudem erkennen, dass die Blindleistung zu der im normalen Betrieb eingespeisten Blindleistung hinzukomme. Bei der im Fall der Überspannung eingespeisten Blindleistung müsse es sich daher um eine erhöhte Blindleistung handeln. Bei dem in der zitierten Offenbarungsstelle genannten Blindstrom könne es sich insbesondere auch um eine Blindleistung handeln. Die zusätzlich in das Netz eingespeiste Leistung sei daher zwingend eine erhöhte Blindleistung.
Wegen der weiteren Argumente der Beschwerdeführerin wird auf Ziffer 1.6 der Entscheidungsgründe Bezug genommen.
X. Die Beschwerdegegnerin 1 machte in Abschnitt I.1 sowie in den Abschnitten II.1, III.2 und IV.1 ihrer Beschwerdeerwiderung geltend, dass das Merkmal "erst bei Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs erhöhte Blindleistung in das Netz (31) eingespeist wird", beim Hauptantrag sowie bei den Hilfsanträgen 1 bis 3 das Merkmal bezüglich "erhöhte" Blindleistung gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoße, so dass der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 c) EPÜ durchgreife.
XI. Die Beschwerdegegnerin 3 beanstandete in Abschnitt III.1 ihrer Beschwerdeerwiderung ebenfalls das Merkmal "erhöhte" Blindleistung im Rahmen des Artikels 100 c) EPÜ i.V.m. Artikel 123 (2) EPÜ.
XII. Auch die Beschwerdegegnerin 4 machte in Abschnitt 2 ihrer Beschwerdeerwiderung eine unzulässige Änderung durch die Einfügung des Wortes "erhöhte" geltend.
XIII. Die Parteien wurden erstmals mit Ladung vom 12. Juni 2019 zur mündlichen Verhandlung geladen.
XIV. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK vom 6. März 2020 legte die Kammer ihre vorläufige Stellungnahme zu der Beschwerde dar und wies unter anderem darauf hin, dass das Beschwerdeverfahren durch die ohne Beschränkung der Verfügungsbefugnis der seinerzeitigen Beschwerdeführerin erfolgte Insolvenzeröffnung mit Eigenverwaltung (§ 270 Abs. 1 Satz 1 der deutschen Insolvenzordnung) nicht unterbrochen worden sei. In Abschnitt 2.3 teilte sie mit, dass sie dazu neige, die Ansicht der Beschwerdegegnerinnen zu teilen, wonach der Gegenstand des Streitpatents und sämtlicher bis dahin eingereichter Hilfsanträge aufgrund des Hinzufügens des Adjektivs "erhöhte" über den Inhalt der Teilanmeldung, sowie der Stammanmeldung in der jeweils ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe (Artikel 100 c) EPÜ i.V.m Artikel 123 (2) EPÜ).
XV. Mit Schreiben vom 4. September 2020 legte die Beschwerdeführerin in Abschnitt III dar, aus welchen Gründen das Merkmal der "erhöhten" Blindleistung ursprünglich offenbart sei.
XVI. Nach mehreren Vertagungen fand die mündliche Verhandlung am 6. August 2021 mit dem Einverständnis der Beteiligten als Videokonferenz statt. Die Beschwerdeführerin überreichte in der Verhandlung einen neuen Hilfsantrag A, bei dem der letzte Satz des Anspruchs 1 wie folgt geändert wurde:
"wobei erst bei Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs erhöhte Blindleistung infolge des zusätzlichen Blindstroms in das Netz (31) eingespeist wird."
Die Beschwerdegegnerin 3 beantragte, den Hilfsantrag A nicht zuzulassen und für den Fall, dass Hilfsantrag A zugelassen wird, die mündliche Verhandlung zu vertagen, da mit dem Antrag neue, komplexe Probleme verbunden seien. Auch die Beschwerdegegnerin 4 legte dar, dass es keine rechtfertigenden Gründe für die späte Einreichung des neuen Hilfsantrags gebe, da sich in der mündlichen Verhandlung kein neuer Aspekt ergeben habe.
XVII. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte abschließend als Hauptantrag, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in der erteilten Fassung aufrecht zu erhalten,
hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geänderter Fassung aufrecht zu erhalten auf Grundlage eines der Hilfsanträge 1 bis 3, eingereicht mit Schreiben vom 1. Juni 2017, oder des Hilfsantrags 4, eingereicht mit Schreiben vom 24. Januar 2020 oder des Hilfsantrags A, eingereicht in der mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren.
Die Beschwerdegegnerinnen (Einsprechende 3 und 4) beantragten abschließend die Zurückweisung der Beschwerde.
1. Hauptantrag, Artikel 100 c) EPÜ
1.1 Anspruch 1 des Streitpatents beansprucht, dass (Hervorhebungen durch die Kammer):
- "bei Vorherrschen einer Überspannung im Netz (31) Blindleistung von der Windenergieanlage (15-19) in das Netz (31) eingespeist wird, um eine Spannung [...] zu senken"; und
- "erst bei Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs erhöhte Blindleistung in das Netz (31) eingespeist wird".
1.2 Die von der Beschwerdeführerin favorisierte Auslegung, wonach die erhöhte Blindleistung beim Überschreiten des vorgegebenen Überspannungsbereichs zu vergleichen sei mit dem Gesamtbereich von Spannungswerten von 100% bis 110% findet keine Grundlage im Wortlaut des erteilten Patentanspruchs 1, der für die Einspeisung von Blindleistung lediglich an das "Vorherrschen einer Überspannung" und nicht an das "Vorherrschen einer Überspannung in einem Überspannungsbereich" anknüpft. Dementsprechend ist auch die "erhöhte Blindleistungsabgabe" lediglich der Blindleistungsabgabe bei Vorherrschen einer Überspannung - und nicht dem Vorherrschen einer Überspannung in einem Überspannungsbereich -gegenüberzustellen.
Dem Wortlaut des erteilten Patentanspruchs 1 ist daher lediglich zu entnehmen, dass schon ab dem Vorherrschen einer Überspannung im Netz Blindleistung eingespeist wird, diese aber erst bei Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs erhöht wird.
Ein entsprechender Gegenstand ist jedoch weder in den ursprünglichen Ansprüchen noch in der Beschreibung offenbart.
1.3 Mit Ausnahme des Adjektivs "erhöhte" haben die oben angeführten Merkmale eine wortwörtliche Grundlage in den Ansprüchen 1 und 2 der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung, sowie in den Ansprüchen 1 und 2 der dem Streitpatent zugrundeliegenden Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung. Das Adjektiv "erhöhte" wurde erst während des Prüfungsverfahrens hinzugefügt.
1.4 Aus den folgenden Gründen teilt die Kammer die Ansicht der Beschwerdegegnerinnen, wonach der Gegenstand des Streitpatents aufgrund des Hinzufügens des Adjektivs "erhöhte" über den Inhalt der Teilanmeldung, sowie der Stammanmeldung in der jeweils ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht (Artikel 100 c) EPÜ).
1.4.1 Die Einspruchsabteilung und die Beschwerdeführerin haben auf Seite 10, Zeilen 22 bis 31 der Stammanmeldung, sowie Absatz [0023] der Teilanmeldung hingewiesen. Dort wird dem Begriff "Blindstrom" ein besonderer Sinn zugewiesen. Es heißt nämlich (Hervorhebungen durch die Kammer):
"Im Rahmen der Erfindung umfasst der Begriff Blindstrom einen zusätzlichen zum an sich in das Netz eingespeisten Blindstrom, wobei der im normalen Betrieb vor der Überspannung eingespeiste Blindstrom eben zu dem in der Erfindung genannten Blindstrom hinzukommt. Im Rahmen der Erfindung kann anstelle der eingespeisten Blindleistung auch ein Blindstrom eingespeist werden, der Phasenwinkel des Blindstromes entsprechend geändert werden oder ein Leistungsfaktor variiert werden, also elektrisch analoge Größen zur Blindleistung, die den Anteil oder die Höhe der abgegebenen Blindleistung beschreiben bzw. definieren, verwendet werden."
1.4.2 Aus dieser Offenbarung ergibt sich, dass im Rahmen der Erfindung dem Begriff "Blindleistung" gleichermaßen ein besonderer Sinn zugewiesen wird, nämlich eine zusätzliche Blindleistung, die zur beim normalen Betrieb an sich in das Netz eingespeisten Blindleistung hinzukommt. Das steht im Einklang mit dem Wortlaut des ursprünglich eingereichten Anspruchs 1.
1.4.3 Demzufolge bedeutet die im ursprünglich eingereichten Anspruch 2 erwähnte "Blindleistung" auch so eine "zusätzliche Blindleistung". Dementsprechend hat insbesondere die Beschwerdegegnerin 1 auf Seite 2 ihrer Beschwerdeerwiderung zutreffend dargelegt, dass der ursprünglich eingereichte Anspruch 2 so zu verstehen ist, dass erstmals bei Überschreiten des vorgebbaren Überspannungsbereichs "zusätzliche Blindleistung" eingespeist wird, die zur beim normalen Betrieb an sich in das Netz eingespeisten Blindleistung hinzukommt. Das bedeutet, dass vor Überschreiten des vorgebbaren Überspannungsbereichs keine "zusätzliche Blindleistung" eingespeist wird.
1.4.4 Dieser Auslegung des ursprünglichen Anspruchs 2 entspricht die in Figur 4 gezeigte Variante 2, die auf Seite 16, Zeilen 26 bis 32 der Stammanmeldung, sowie in Absatz [0038] der Teilanmeldung wie folgt beschrieben wird:
"Variante 2 zeigt alternativ eine Regelung, bei der im normalen Spannungsband bis 110 % U/Un nicht durch Änderungen in der Blindleistungsabgabe auf Spannungsänderungen reagiert wird und bei Überschreiten des Spannungsbandes sprunghaft auf einen Wert gesteuert wird, der einer entsprechenden Blindleistungsabgabe entspricht, wobei bei weiterem Spannungsanstieg einer, in diesem Fall linearen Funktion der Statik, die Blindleistungsabgabe erhöht wird."
Keine "Änderungen in der Blindleistungsabgabe" im normalen Spannungsband bis 110 % U/Un bedeutet, dass vor Überschreiten dieses Überspannungsbereichs keine "zusätzliche Blindleistung" eingespeist wird.
Zudem ist aus der Tatsache, dass die Figur 4 ein Diagramm des Blindstroms (IB) im Verhältnis zum Nennblindstrom in Abhängigkeit einer relativen Spannung zeigt, während in der Beschreibung der Variante 2 von Blindleistung die Rede ist, zu entnehmen, dass Blindstrom und Blindleistung als Synonyme verwendet werden.
1.4.5 Ausgehend von obiger Auslegung ändert das Hinzufügen des Adjektiven "erhöhte" beim Anspruch 1 des Streitpatents die Bedeutung des aus dem ursprünglich eingereichten Anspruch 2 entnommenen Merkmals so, dass erstmals bei Überschreiten des vorgebbaren Überspannungsbereichs erhöhte "zusätzliche Blindleistung" eingespeist wird. Das bedeutet, dass auch schon vor Überschreiten des vorgebbaren Überspannungsbereichs "zusätzliche Blindleistung" eingespeist wird, die allerdings niedriger ist als die beim Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs einzuspeisende erhöhte "zusätzliche Blindleistung". Demzufolge bietet der ursprüngliche Patentanspruch 2 keine Grundlage für die Änderung.
1.4.6 Auch die Beschreibung der Variante 2 auf Seite 16 der Beschreibung bietet - ebenso wenig wie die Abbildung 4 zur Variante 2 - keine Grundlage für diesen geänderten Gegenstand, weil dort - wie oben dargelegt - vor Überschreiten des vorgebbaren Überspannungsbereichs gar keine "zusätzliche Blindleistung" eingespeist wird.
1.4.7 Das Merkmal, wonach erst bei Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs erhöhte Blindleistung in das Netz (31) eingespeist wird, ist auch nicht direkt und eindeutig aus der in Figur 4 gezeigten Variante 1 samt dazugehöriger Beschreibung zu entnehmen.
Die Kammer hält insoweit das Vorbringen der vormaligen Beschwerdegegnerin 1 (Beschwerdeerwiderung, Seite 3, dritter Absatz) für zutreffend.
Auf Seite 16, Zeilen 12 bis 20 der Stammanmeldung, sowie in Absatz [0037] der Teilanmeldung heißt es, dass bei der Variante 1 von Figur 4:
"bei einer Überspannung bis 110% im Verhältnis zur Nennspannung eine spannungsabhängige Blindleistungsabgabe erfolgt ... und bei weiterem Spannungsanstieg über das Spannungsband hinaus, also über 110% U/Un die Blindleistungseinspeisung stark erhöht wird, wobei relativ schnell der maximale Blindstromwert erreicht wird."
Somit erfolgt bei der Variante 1, wie es auch mittels der durchgezogenen Kurve in Figur 4 dargestellt ist, bei einer Überspannung bis 110% eine kontinuierliche Erhöhung des Blindstroms mit zunehmender Überspannung. Für Überspannungen, die größer als 110% der Nennspannung sind, wird die Blindleistungseinspeisung nach dem Wortlaut von Seite 16, Zeile 19 demgegenüber "stark", d.h. stärker als für Überspannungen zwischen 100% und 110% der Nennspannung erhöht. Hierauf haben die Beschwerdegegnerin 3 auf Seite 8 und die Beschwerdegegnerin 1 auf Seite 3 ihrer Beschwerdebegründungen zutreffend hingewiesen. Die starke Erhöhung bei einem Spannungsanstieg über 110% hinaus ändert aber nichts daran, dass in der Variante 1 der Blindstrom - und damit auch die Blindleistung - stets mit zunehmender Überspannung erhöht werden, und zwar auch vor Überschreiten des vorgegebenen Überspannungsbereichs von 100% bis 110% der Nennspannung. Folglich beschreibt die Variante 1 weder, dass erst bei Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs "zusätzliche" Blindleistung eingespeist wird noch dass die "zusätzliche Blindleistung" erst ab dem Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs erhöht wird.
1.5 Zu den Argumenten der Beschwerdeführerin im Einzelnen stellt die Kammer Folgendes fest:
1.5.1 Die Beschwerdeführerin trug vor (Schreiben vom 4. September 2020, III.2), dass sowohl bei der Variante 1 als auch bei der Variante 2 erst bei Überschreiten des Bereichs mit Spannungswerten von 100% bis 110% der Nennspannung Blindleistung eingespeist werde, die gegenüber der Blindleistungseinspeisung innerhalb des Überspannungsbereichs erhöht sei.
Dieses Argument überzeugt die Kammer nicht, weil es bei der Variante 1 nicht erst beim Überschreiten des Bereichs mit Spannungswerten von 100% bis 110% der Nennspannung vorkommt, dass "zusätzliche" Blindleistung eingespeist wird, die gegenüber der zuvor eingespeisten Blindleistung erhöht ist. In der Variante 1 kommt es vielmehr bei steigender Spannung auch schon innerhalb des Bereichs von 100% bis 110% zur Einspeisung einer "zusätzlichen Blindleistung", die gegenüber der zuvor eingespeisten "zusätzlichen Blindleistung" erhöht ist. Demzufolge offenbart die Variante 1 sowohl in der Abbildung 4 als auch in dem zugehörigen Beschreibungsteil auf Seite 16 der ursprünglichen Offenbarung erhöhte Blindleistung schon bei Vorherrschen einer Überspannung im Netz und nicht, wie nunmehr beansprucht, erst bei Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs.
1.5.2 Zudem trug die Beschwerdeführerin vor (Schreiben vom 4. September 2020, III.3), dass bei Berücksichtigung der Figur 4 und den zugehörigen Passagen der ursprünglich offenbarten Beschreibung unmittelbar und eindeutig ersichtlich sei, dass eine "Erhöhung" der Blindleistungseinspeisung nach der Lehre des Streitpatents über eine gedachte, bloße Fortschreibung einer gegebenenfalls bereits innerhalb des Überspannungsbereichs vorhandenen zusätzlichen Blindleistungseinspeisung hinausgehe. Ein einfaches Weiterlaufen der relativen Blindleistungseinspeisung (beispielsweise für den Fall der Variante 1 der Fig. 4 denkbar) könne bei fachmännischer Würdigung des Streitpatents gerade nicht als eine anspruchsgemäße "Erhöhung" der Blindleistungseinspeisung verstanden werden - eine solche werde erst durch eine verstärkte zusätzliche und über ein bloßes Beibehalten desjenigen Einspeisungsniveaus, das innerhalb des Überspannungsbereichs herrscht, hinausgehende Blindleistungseinspeisung bei Überschreiten des Überspannungsbereichs realisiert.
Das überzeugt die Kammer nicht, denn weder der Beschreibungstext noch die Abbildung 4 geben Anlass, der Auslegung der Beschwerdeführerin zu folgen. Der Beschreibungstext auf Seite 16 und die zugehörige Abbildung 4 lassen vielmehr erkennen, dass auch eine lineare Erhöhung als erhöhte Blindleistungsabgabe zu verstehen ist (Seite 16, Zeile 32 in Bezug auf die Erhöhung der Blindleistungsabgabe nach dem Überschreiten des Spannungsbandes bei nachfolgendem weiterem Spannungsanstieg). Diese erhöhte Blindleistungsabgabe wird gerade nicht gleichgesetzt mit einer stark erhöhten (Seite 16, Zeile 19) Blindleistungsabgabe.
1.5.3 In der mündlichen Verhandlung trug die Beschwerdeführerin zudem vor, dass aufgrund der sich verändernden Spannung eine Erhöhung des Blindstroms nicht zwangsläufig zu einer entsprechenden Erhöhung der Blindleistung führe. Deswegen sei in dem Streitpatent von einem zusätzlichen Blindstrom aber von einer erhöhten Blindleistung die Rede. Blindstrom und Blindleistung seien daher nicht als Synonyme zu betrachten.
Die Kammer ist von diesem Argument nicht überzeugt. Wie in Abschnitt 1.4.7 oben dargelegt, wird bei der Variante 1 explizit offenbart, dass "bei einer Überspannung bis 110% im Verhältnis zur Nennspannung eine spannungsabhängige Blindleistungsabgabe erfolgt". Somit erhöht sich die "Blindleistung" schon vor Überschreiten des vorgegebenen Überspannungsbereichs von 100% bis 110% der Nennspannung, nicht erst danach.
1.6 Die Argumente der Beschwerdeführerin überzeugen folglich nicht. Die Kammer ist daher zu dem Schluss gekommen, dass der Einspruchsgrund unter Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung entgegensteht.
2. Hilfsanträge 1 bis 4, Artikel 123 (2) EPÜ
2.1 Die Hilfsanträge 1 bis 4 beinhalten die gleiche Änderung bezüglich "erhöhte Blindleistung", wie der Hauptantrag.
2.2 Aus den gleichen Gründen, die für den Hauptantrag angegeben sind, stehen die mit Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 bis 4 beanspruchten Gegenstände daher nicht mit Artikel 123 (2) EPÜ im Einklang. Vor diesem Hintergrund konnte die Zulassung der erstmals im Beschwerdeverfahren eingereichten Hilfsanträge 2 und 4 dahinstehen.
3. Hilfsantrag A - Zulassung, Artikel 13 (1) VOBK 2020 i.V.m. Artikel 25 (1) VOBK 2020
3.1 Nach Artikel 13 (1) VOBK 2020, der nach Artikel 25 (1) VOBK 2020 anzuwenden ist, bedürfen Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung rechtfertigender Gründe seitens des Beteiligten, und ihre Zulassung steht im Ermessen der Kammer. Der Beteiligte muss die Gründe dafür angeben, weshalb er die Änderung erst in dieser Phase des Beschwerdeverfahrens einreicht. Bei der Ausübung ihres Ermessens berücksichtigt die Kammer insbesondere:
- den Stand des Verfahrens,
- die Eignung der Änderung zur Lösung der von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren in zulässiger Weise aufgeworfenen Fragen oder der von der Kammer selbst aufgeworfenen Fragen,
- ferner ob die Änderung der Verfahrensökonomie abträglich ist, und
- bei Änderung einer Patentanmeldung oder eines Patents, ob der Beteiligte aufgezeigt hat, dass die Änderung prima facie die von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren oder von der Kammer aufgeworfenen Fragen ausräumt und keinen Anlass zu neuen Einwänden gibt.
3.2 Die Beschwerdeführerin trug vor, dass die Änderung des Patents gemäß Hilfsantrag A erst in der mündlichen Verhandlung dadurch gerechtfertigt sei, dass Sie überrascht wurden, dass ihre vor der mündlichen Verhandlung schriftlich eingereichten Argumente die Kammer nicht überzeugt hatten. Die Änderung an sich habe ihre Grundlage in Seite 6, ab Zeile 7 sowie Seite 10, Zeilen 22 bis 31 und aus der Abbildung 4 der Stammanmeldung. Sie sei prima facie geeignet, die Einwände auszuräumen. Der Antrag sei konvergent zum Hauptantrag und gebe keinen Anlass zu neuen Einwänden.
3.3 Die Beschwerdegegnerinnen 3 und 4 trugen vor, dass die von der Beschwerdeführerin vorgegebenen Gründe für die Einreichung erstmals in der mündlichen Verhandlung nicht stichhaltig seien. Der Einwand bezüglich des Merkmals "erhöhte Blindleistung" sei nämlich schon in den Beschwerdeerwiderungen erhoben worden, und sei in der vorläufigen Auffassung der Beschwerdekammer eindeutig in den Vordergrund gestellt worden. Es sei deshalb angebracht gewesen, schon vor der mündlichen Verhandlung Vorsorge zu treffen. Zudem sei die Änderung nicht geeignet, den Einwand auszuräumen, sondern werfe neue Probleme auf, die auf Anhieb in der mündlichen Verhandlung nicht behandelt werden könnten. So sei unklar, was die Ergänzung des Merkmals im Zusammenhang mit den weiteren Merkmalen des Patentanspruchs bedeute. Hieraus resultierten komplexe neue Fragestellungen in Zusammenhang mit den Artikeln 123 (2) und (3) EPÜ. Zudem sei unklar, worauf sich der Artikel "des" zusätzlichen Blindstroms beziehe. Die ursprüngliche Offenbarung sei nicht eindeutig erkennbar, zumal die genannte Textstelle auf Seite 16 der ursprünglichen Beschreibung zusätzliche Merkmale enthalte, die nicht in den neuen Anspruch aufgenommen worden seien.
3.4 Die Kammer teilt die Auffassung der Beschwerdegegnerinnen, dass die genannten Gründe die Änderung des Patents erst in der mündlichen Verhandlung nicht rechtfertigen.
3.4.1 Die problematischen Aspekte einschließlich der zugehörigen Argumente der Beschwerdegegnerinnen sind bereits in den jeweiligen Beschwerdeerwiderungen aufgeworfen worden, so dass für die Beschwerdeführerin schon nach Erhalt der Beschwerdeerwiderungen Anlass bestanden hätte, hierauf zu reagieren. Zudem hat die Beschwerdekammer in der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK die Problematik bezüglich des Merkmals "erhöhte" Blindleistung in dem Abschnitt 2 hervorgehoben und analysiert. Sie hat Zweifel geäußert, dass dieses Merkmal eine Grundlage in der ursprünglichen Anmeldung hat und zu erkennen gegeben, dass sie dazu neige, dem Vorbringen der Beschwerdegegnerinnen 1 und 3 zu folgen (vgl. Absätze 2.3.4 und 2.3.5). In der mündlichen Verhandlung hat es keinerlei Abweichung von dieser Analyse und Bewertung der Fragen gegeben, die die Beschwerdeführerin hätte überraschen können.
3.4.2 Die Änderung wirft zudem zahlreiche neue und komplexe Fragestellungen auf. So wären insbesondere die Klarheit und die Ursprungsoffenbarung im Hinblick auf das neu eingefügte Merkmal zu diskutieren. Zudem widerspricht die Aufnahme eines Merkmals aus der Beschreibung erstmals in der mündlichen Verhandlung der Verfahrensökonomie. Das gilt insbesondere, wenn es keine bestimmte Offenbarungsstelle gibt, sondern - wie hier - auf zahlreiche Textstellen und Abbildungen der Beschreibung verwiesen wird, in denen unterschiedliche Ausführungsbeispiele offenbart werden, die zudem weitere Merkmale beinhalten, die nicht in den geänderten Anspruch aufgenommen wurden.
3.4.3 Das Merkmal "erhöhte Blindleistung infolge des zusätzlichen Blindstroms" ist den von der Beschwerdeführerin genannten Textstellen prima facie nicht zu entnehmen. Die Kammer hält die Änderung prima facie nicht für geeignet, den Einwand auszuräumen. Bei dem geänderten Merkmal, wonach "erst bei Überschreiten eines vorgebbaren Überspannungsbereichs erhöhte Blindleistung infolge des zusätzlichen Blindstroms in das Netz (31) eingespeist wird" dürfte die Problematik bezüglich des Adjektivs "erhöhte" auf Grundlage der bisherigen Feststellungen der Kammer vielmehr prima facie unverändert bleiben.
3.5 Aus diesen Gründen hat die Kammer ihr Ermessen nach Artikel 13 (1) VOBK 2020 i.V.m. Artikel 25 (1) VOBK 2020 dahingehend ausgeübt, den Hilfsantrag A nicht zuzulassen.
4. Schlussfolgerung
Da keiner der in das Verfahren zugelassenen Anträge gewährbar ist, war den Anträgen der Beschwerdegegnerinnen 3 und 4 stattzugeben.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.