T 1534/17 25-01-2021
Download und weitere Informationen:
Nebelwurfkörper
I. Gegen das europäische Patent Nr. 2 133 653 (im Folgenden: Patent) wurde Einspruch eingelegt und Widerruf im gesamten Umfang beantragt. Als Einspruchsgründe wurden unzureichende Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ) sowie mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ) geltend gemacht.
II. Am Ende der mündlichen Verhandlung entschied die Einspruchsabteilung, dass das Patent in eingeschränkter Fassung gemäß dem damals geltenden Hauptantrag den Erfordernissen des EPÜ genügt.
III. Die Einsprechende hat gegen diese Zwischenentscheidung Beschwerde eingelegt.
IV. Die Einsprechende (im Folgenden: Beschwerdeführerin) beantragte mit ihrer Beschwerdebegründung, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen. Außerdem beantragte die Beschwerdeführerin hilfsweise die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.
V. Die Patentinhaberin (im Folgenden: Beschwerdegegnerin) beantragte mit ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung, die Beschwerde zurückzuweisen. Außerdem beantragte die Beschwerdegegnerin hilfsweise die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.
VI. Die Beteiligten wurden zu einer mündlichen Verhandlung am 9. Februar 2021 geladen.
VII. Anspruch 1 lautet folgendermaßen (die Nummerierung der Merkmale wurde in Anlehnung an die von der Beschwerdeführerin verwendete Merkmalsanalyse hinzugefügt; die Änderungen am erteilten Anspruch 1 sind wie folgt kenntlich gemacht: gestrichene Passagen erscheinen im Text als durchgestrichen und neue Passagen erscheinen im Fettdruck):
1.1) Nebelwurfkörper (1) mit einem entzündbaren
Nebelstoff (2),
1.2) der in einer Kammer (3) des Nebelwurfkörpers (1)
untergebracht ist,
1.3) wobei mehrere, voneinander getrennte
pyrotechnische Zerlegerladungen (5, 6) vorgesehen
sind, die eine Nebelerzeugung und wirksame
Verteilung des erzeugten Nebels zu
unterschiedlichen, aufeinander folgenden
Zeitpunkten bewirken,
1.4) wobei mindestens eine erste (3) und eine zweite
Kammer (4) vorgesehen sind, jede Kammer (3, 4)
Nebelstoff (2) enthält und jeder Kammer (3, 4)
eine eigene pyrotechnische Zerlegerladung (5, 6)
zugeordnet ist,
1.5) wobei eine (6) der beiden Zerlegerladungen (5, 6)
mit einem Mittel zu einem zeitverzögerten
Wirksamwerden der Zerlegerladung (6) versehen
ist,
dadurch gekennzeichnet,
1.6) dass als Mittel zu einem zeitverzögerten
Wirksamwerden der Zerlegerladung (6) eine
[deleted: Umhüllung] Verdämmung (7) vorgesehen ist,
1.7) die die Zerlegerladung (6) vollständig [deleted: oder]
[deleted: teilweise] umgibt.
VIII. Zum Stand der Technik hat die Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung Bezug unter anderem auf folgende bereits in der angefochtenen Entscheidung genannte Druckschriften genommen:
E5: US 4,791,870;
E10: DE 32 38 455 A1.
IX. In der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) vom 8. Mai 2020 teilte die Kammer ihre vorläufige Einschätzung der Beschwerde mit. Insbesondere hat die Kammer ihre vorläufige Meinung kundgetan, dass sie dazu tendiere, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent wegen mangelnder Neuheit zu widerrufen.
X. In Erwiderung auf diese Mitteilung hat die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 17. Dezember 2020 mitgeteilt, dass sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen wird und ihren Hilfsantrag auf mündliche Verhandlung explizit zurückgenommen. Die Beschwerdeführerin hat auf die Mitteilung der Kammer inhaltlich nicht reagiert.
XI. Daraufhin hat die Kammer die Ladung für die vorgesehene mündliche Verhandlung aufgehoben.
1. Die revidierte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) ist am 1. Januar 2020 in Kraft getreten. Vorbehaltlich der Übergangsbestimmungen (Artikel 25 VOBK 2020) ist die revidierte Fassung auch auf am Tag des Inkrafttretens bereits anhängige Beschwerden anwendbar. Im vorliegenden Fall wurde die Beschwerdebegründung vor dem 1. Januar 2020 und die Erwiderung darauf fristgerecht eingereicht. Daher ist Artikel 12 (4)-(6) VOBK 2020 nicht anzuwenden. Stattdessen ist Artikel 12 (4) VOBK 2007 sowohl auf die Beschwerdebegründung als auch auf die Erwiderung anzuwenden (Artikel 25 (2) VOBK 2020).
2. Entgegen dem Erfordernis des Artikels 12 (2) VOBK 2007, wonach die Erwiderung auf die Beschwerdebegründung den vollständigen Sachvortrag der Beschwerdegegnerin enthalten muss, hat die Beschwerdegegnerin darin nur pauschal auf die Argumentation der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
Einen über diesen bloßen Verweis auf das erstinstanzliche Vorbringen hinausgehenden Sachvortrag hat die Beschwerdegegnerin auch im weiteren Beschwerdeverfahren nicht eingereicht.
3. Neuheit - Artikel 100 a) EPÜ
3.1 Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 im Hinblick auf E10 und E5 neu ist.
3.2 Bezüglich E10 hat die Einspruchsabteilung entschieden, dass in deren Figur 1 das Rohr 6, die Folie 8 und der Deckel 10, die gemeinschaftlich die Zerlegerladung 4 vollständig umgeben bzw. umhüllen, nicht als "Mittel zu einem zeitverzögerten Wirksamwerden der Zerlegerladung" angesehen werden könnten (Merkmal 1.5)), geschweige denn als "Verdämmung" (Merkmal 1.6)).
3.3 Die Kammer teilt die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass diese Argumentation nicht überzeugend ist.
3.3.1 Entgegen der Behauptung der Einspruchsabteilung setzt der Begriff "Verdämmung" nicht voraus, dass die Umhüllung der Zerlegerladung einen Dämmungseffekt hat. Im Gesamtzusammenhang von Anspruch 1 impliziert dieser Fachbegriff lediglich, dass die Zerlegerladung 4 gänzlich umhüllt ist, um beim Abbrand den Druck zu erhöhen. In Figur 1 der E10 kann die vollständige Umhüllung der Zerlegerladung 4 mittels des Rohrs 6, der Folie 8 und des Deckels 10 als "Verdämmung" im weitesten Sinne angesehen werden.
3.3.2 Aus E10 geht hervor, dass das Zünden der zweiten Zerlegerladung 4 für den pulverförmigen Nebelstoff 2 unmittelbar nach dem Zünden des optischen Nebelstoffes 1 mittels der Zerlegerladung 3 erfolgt (Seite 6, Absatz 4). Dabei ist ersichtlich, dass aufgrund der zwischen den Zerlegerladungen angeordneten Folie 8 das Zünden der Zerlegerladung 4 zwangsläufig etwas zeitverzögert erfolgt. Dies verwirklicht ein zeitverzögertes Wirksamwerden dieser Zerlegerladung, wie in Anspruch 1 verlangt. Die Einspruchsabteilung hat ausgeführt, dass im Unterschied dazu die anspruchsgemäße Verdämmung eine Zeitverzögerung beim Zünden bewirkt, die über die sich aus der rein räumlichen Anordnung beider Zerlegerladungen von selbst ergebende Zeitverzögerung hinausgeht und eine räumlich getrennte Ausbringung beider Nebelstoffe bewirkt. Allerdings spiegelt sich dieser behauptete Unterschied nicht im Wortlaut von Anspruch 1 wider. Davon abgesehen ist nicht erkennbar, inwiefern die in Figur 1 des Patents dargestellte Verdämmung 7 der Zerlegerladung 6 eine im Vergleich zu der Anordnung der E10 längere Zeitverzögerung beim Zünden bewirken kann. Das Patent enthält keine Angabe über die konkrete Zeitverzögerung.
3.4 Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass der Gegenstand von Anspruch 1 nicht neu gegenüber der Offenbarung in E10 ist.
Der Hauptantrag ist daher nicht gewährbar.
Da nach alledem kein gewährbarer Anspruchssatz vorliegt, hat die Beschwerde in vollem Umfang Erfolg.
4. Die im schriftlichen Verfahren ergehende Entscheidung wahrt insbesondere das rechtliche Gehör der unterliegenden Beschwerdegegnerin, nachdem sie im Wissen um das Risiko der Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung die Teilnahme abgesagt und den Hilfsantrag auf mündliche Verhandlung ausdrücklich zurückgenommen hat. Der Antrag auf mündliche Verhandlung der hier obsiegenden Beschwerdeführerin war wiederum ebenfalls nur hilfsweise gestellt.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.