T 2003/17 18-01-2021
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AKTORMODUL MIT EINEM IN EINEM GEHÄUSE ANGEORDNETEN VIELSCHICHTAKTOR UND KONSTANT EXTREM NIEDRIGEN LECKSTROM AN DER AKTOROBERFLÄCHE
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, zur Post gegeben am 13. April 2017, die europäische Patentanmeldung Nr. 13700162.4 nach Artikel 97 (2) EPÜ zurückzuweisen.
II. Gegen diese Entscheidung hat die Patentanmelderin als Beschwerdeführerin am 12. Juni 2017 Beschwerde eingelegt und am selben Tag die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung wurde am 21. August 2017 eingereicht.
III. Die Prüfungsabteilung war der Auffassung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des mit Schreiben vom 13. Juni 2016 eingereichten Hauptantrags sowie der während der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung eingereichten Hilfsanträge 1-4 nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruht, so dass die Anmeldung und die Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, nicht den Erfordernissen des EPÜ genügen.
In ihrer Entscheidung hat die Prüfungsabteilung die folgenden Entgegenhaltungen berücksichtigt:
D2: US 2009/154 053 A1
D3: US 2004/242 746 A1
& US 7 314 895 B2
D5: US 5 239 223 A
D7: US 2006/148 920 A1
IV. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf Basis des mit Schreiben vom 15. Oktober 2020 eingereichten Hauptantrags, oder hilfsweise in der Fassung eines der während der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung eingereichten Hilfsanträge 1 oder 3.
V. Der für diese Entscheidung relevante unabhängige Anspruch 1 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
"1. Aktormodul (22) mit einem in einem Gehäuse (23) angeordneten piezokeramischen Vielschichtaktor (1), wobei das Gehäuse (23) hermetisch verschlossen ist und zwischen dem Vielschichtaktor (1) und dem Gehäuse (23) ein Raum (24) angeordnet ist und das Gehäuse (23) aus einem Gehäusedeckel (8), einem Gehäusemantel (9) und einem Gehäuseboden (10, 17) besteht und in das Gehäuse (23) elektrische Anschlüsse (11) für den Vielschichtaktor (1) geführt sind, dadurch gekennzeichnet, dass das Gehäuse (23) durch Verschweißen, insbesondere Laserschweißen, Hartlöten mit Metallot, Löten mit Glaslot oder Weichlöten hermetisch verschlossen ist, der Raum (24) mit einem Medium (21) teilgefüllt oder gefüllt ist, das Medium (21) Wasser beim Aushärten aufnimmt und chemisch umwandelt und der Gehäuseboden (10, 17) aus Metall besteht und die elektrischen Anschlüsse (11) über eine Glasdurchführung (12) oder Keramikdurchführung (14) im Gehäuseboden (10, 17) in das Innere des Gehäuses (23) geführt sind oder der Gehäuseboden (10, 17) aus Keramik besteht und metallisierte Durchbrüche aufweist in die die elektrischen Anschlüsse eingelötet sind."
VI. Die Beschwerdeführerin hat zu den entscheidungs-erheblichen Punkten Folgendes vorgetragen:
Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags beruhe ausgehend von D5 in Zusammenschau mit D2 oder D3 auf erfinderischer Tätigkeit. Daher solle die Zurückweisung der Patentanmeldung durch die Prüfungsabteilung aufgehoben werden und ein Patent auf Grundlage des Hauptantrags erteilt werden.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Anwendungsgebiet der Erfindung
Die Patentanmeldung betrifft ein Aktormodul mit einem piezokeramischen Vielschichtaktor in einem hermetisch verschlossenen Gehäuse. Zwischen dem Vielschichtaktor und dem Gehäuse ist ein Raum mit einem Medium angeordnet. Das Medium nimmt beim Aushärten Wasser auf und wandelt es chemisch um. Dadurch wird verhindert, dass es an der Aktoroberfläche nach langer Betriebsdauer zu einer erhöhten Leitfähigkeit und damit ansteigendem Leckstrom kommt, da eindringendes Wasser bzw. Wasserdampf sich nicht auf der Aktoroberfläche absetzt (Anmeldung, Seite 3, Zeile 26 bis Seite 4, Zeile 5).
3. Änderungen
Anspruch 1 des Hauptantrags beruht auf einer Kombination der ursprünglich eingereichten Ansprüche 1, 5-7 und 13, wobei das Merkmal "die elektrischen Anschlüsse hermetisch und elektrisch isolierend in den Gehäuseboden integriert sind" aus Anspruch 5 nicht aufgenommen wurde. Dieses Merkmal ist bei fachmännischer Leseweise implizit in den Merkmalen "das Gehäuse hermetisch verschlossen ist" bzw. "Glasdurchführung" und "Keramikdurchführung" enthalten. Außerdem wurde das Merkmal "[Wasser] beim Aushärten [aufnimmt und chemisch umwandelt]" aus der Beschreibung hinzugefügt (Seite 7, Zeile 31 bis Seite 8, Zeile 1).
Diese Änderungen wurden in der angegriffenen Entscheidung nicht beanstandet und entsprechen auch aus Sicht der Kammer den Erfordernissen des Artikels 123 (2) EPÜ.
4. Erfinderische Tätigkeit
4.1 Als nächstliegender Stand der Technik kann unbestritten das im Dokument D5 beschriebene Aktormodul mit einem in einem Gehäuse 3, 5, 6 angeordneten piezokeramischen Vielschichtaktor angesehen werden. Siehe Spalte 4, Zeilen 12 bis 59 und Figur 2. Die Beschwerdeführerin bestreitet jedoch den Befund in der angegriffenen Entscheidung, wonach der Raum zwischen dem Vielschichtaktor und dem Gehäuse in D5 mit Luft oder einem anderen Gas (teil)gefüllt sei (Entscheidungsgrund 7.1.6).
Nach ständiger Rechtsprechung muss sich der beanspruchte Gegenstand "unmittelbar und eindeutig aus dem Stand der Technik ergeben", damit auf fehlende Neuheit geschlossen werden kann (RdBK, 9. Auflage 2019, I.C.4.1). Im vorliegenden Fall folgt daraus, dass ein Merkmal nur dann als in D5 offenbart angesehen werden kann, wenn es unmittelbar und eindeutig aus diesem Dokument hervorgeht. Die angegriffene Entscheidung enthält keinen Beleg für die Annahme, dass der Raum in D5 mit Luft oder Gas gefüllt sei, und die Kammer kann im Dokument auch keinen entsprechenden Hinweis finden. Aus Sicht der Kammer ist es nicht technisch unsinnig, dass der Raum in D5 auch evakuiert sein könnte und folglich überhaupt kein Medium enthalten würde.
4.2 Da somit eine Füllung des Raums mit einem Medium nicht unmittelbar und eindeutig aus D5 hervorgeht, unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 von der Offenbarung der D5 darin, dass der Raum zwischen dem Vielschichtaktor und dem Gehäuse mit einem Medium teilgefüllt oder gefüllt ist, das Wasser beim Aushärten aufnimmt und chemisch umwandelt.
Die Beschwerdeführerin bestreitet den Befund in der angegriffenen Entscheidung, wonach dieses Unterschiedsmerkmal durch die Lehre der D2 oder der dort (über ein Mitglied derselben Patentfamilie) genannten D3 nahegelegt werde. Die Kammer muss daher nun prüfen, ob diese Dokumente eine (Teil-)Füllung des Raums zwischen dem Vielschichtaktor und dem Gehäuse der D5 mit einem Medium, das Wasser beim Aushärten aufnimmt und chemisch umwandelt, nahelegen.
4.3 In Übereinstimmung mit der Beschwerdeführerin besteht auch aus Sicht der Kammer die (analog in der angegriffenen Entscheidung formulierte) objektive technische Aufgabe darin, den im Aktormodul enthaltenen Vielschichtaktor vor Wasser zu schützen.
4.4 Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Beurteilung der Frage, ob der beanspruchte Gegenstand eine naheliegende Lösung für eine objektive technische Aufgabe darstellt, danach zu fragen, ob der Fachmann in der Erwartung, die Aufgabe zu lösen, die Lehre der nächstliegenden Entgegenhaltung angesichts anderer Lehren des Stands der Technik so abgewandelt hätte, dass er zu der beanspruchten Erfindung gelangt wäre (RdBK, 9. Auflage 2019, I.D.5 "Could-would approach").
Die Kammer ist davon nicht überzeugt. In D2 wird zwar ebenfalls ein Aktor offenbart (Absätze 3 und 51: "actuator/s"). Dieses Modul enthält jedoch keinen piezokeramischen Aktor, sondern einen Aktor auf Basis eines elektroaktiven Polymers (Absätze 4 und 51: "electroactive polymers (EAPs)"). In D2 wird explizit hervorgehoben, dass es sich bei einem solchen Aktor um einen Ersatz für piezokeramische Vorrichtungen handelt (Absatz 4: "EAP technology offers an ideal replacement for piezoelectric ... devices"). Mangels eines weiteren Verweises auf piezokeramische Aktoren in D2 teilt die Kammer daher nicht den Befund in der angegriffenen Entscheidung, wonach der Fachmann "die Lösung der D2" bei einem piezokeramischen Vielschichtaktor gemäß D5 anwenden würde (Entscheidungsgrund 7.4).
Aus diesen Gründen könnte der Fachmann in Anbetracht der D2 die Änderung, also eine (Teil-)Füllung des Raums zwischen dem Aktor und dem Gehäuse der D5 mit einem Medium, das Wasser beim Aushärten aufnimmt und chemisch umwandelt, vielleicht vornehmen, würde sie aber nicht vornehmen.
4.5 Dessen ungeachtet ist die Kammer auch nicht davon überzeugt, dass der Fachmann bei einer Übertragung der in D2 offenbarten Lösung auf einen piezokeramischen Aktor zum Gegenstand von Anspruch 1 gelangen würde. Die angegriffene Entscheidung verweist dazu auf die in Absatz 51 der D2 genannten Treibmittel bzw. auf das dort genannten Mitglied US 7,314,895 der Patentfamilie der D3.
4.5.1 Das Dokument D3 offenbart nur thermoplastische Kunststoffmischungen, die bei Kontakt mit Wasser CO2 freisetzen (zweiter Absatz des Entscheidungsgrunds 7.4; Absätze 2 und 3 der D3). Mangels weiterer Informationen zum Treibmittel "Calogen" ist daher durch den in D2 enthaltenen Verweis auf D3 nicht belegt, dass dieses Treibmittel Wasser beim Aushärten aufnimmt und chemisch umwandelt.
4.5.2 Die angegriffene Entscheidung folgert aus der sowohl in der Patentanmeldung als auch in D2 genannten Freisetzung von CO2, dass das in Absatz 51 der D2 unspezifisch offenbarte Treibmittel "blowing agent" Wasser beim Aushärten aufnimmt und chemisch umwandelt (Entscheidungsgrund 7.4, erster Absatz). Die Kammer sieht das anders, da die von der Prüfungsabteilung angeführte Stelle in der Patentanmeldung auf ein wasserverbrauchendes Medium wie Polyurethan gerichtet ist, das beim Aushärten Wasser aufnimmt, chemisch umwandelt und dabei CO2 freisetzt (Anmeldung, Seite 7, Zeile 31 bis Seite 8, Zeile 2). Die Prüfungsabteilung hat nicht belegt, dass jedes unspezifisch offenbarte Treibmittel "blowing agent" als wasserverbrauchendes Medium wie Polyurethan anzusehen ist, und das ist aus Sicht der Kammer auch nicht der Fall.
4.5.3 Dagegen scheint das in Absatz 51 der D2 genannte spezifische Treibmittel "Safoam" Natriumhydrogen-karbonat und Zitronensäure zu enthalten (D7, Absatz 28: "SAFOAM® FPE-50 ... active ingredients present are encapsulated sodium bicarbonate and citric acid"; Entscheidungsgrund 7.6, erster Absatz). Aus Sicht der Kammer gehört es zum allgemeinen Fachwissen, dass Zitronensäure mit Natriumhydrogencarbonat die folgende Reaktion eingeht (https://de.wikipedia.org/wiki/Brausepulver):
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Bei dieser Reaktion dient das vorher vorhandene Wasser als Medium, in dem die beiden Feststoffe Natriumhydrogenkarbonat und Zitronensäure gelöst werden. Zudem ist aus der Reaktionsgleichung ersichtlicht, dass zusätzliches Wasser gebildet wird. Deswegen kann sich die Kammer nicht der Schlussfolgerung in der angegriffenen Entscheidung anschließen, wonach es einen Nettoverbrauch an Wasser gebe (Entscheidungsgrund 7.6).
4.5.4 Mithin offenbart D2 für keines der in Absatz 51 genannten Treibmittel unmittelbar und eindeutig, dass es Wasser beim Aushärten aufnimmt und chemisch umwandelt. Daher offenbart selbst eine Kombination der Dokumente D5 und D2 nicht alle Merkmale von Anspruch 1 des Hauptantrags, so dass dessen Gegenstand auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, Artikel 56 EPÜ.
5. Die von der Patentanmelderin nach Aufforderung durch die Kammer durchgeführte Anpassung der Beschreibung trägt den Einwänden der Kammer Rechnung.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent mit folgender Fassung zu erteilen:
Ansprüche:
Ansprüche 1-10 wie mit Schreiben vom 15. Oktober 2020 eingereicht,
Beschreibung:
Seiten 1, 2, 7 bis 10 der ursprünglich eingereichten Patentanmeldung,
Seiten 3 bis 6 und 6a wie mit Schreiben vom 8. Dezember 2020 eingereicht, wobei auf Seite 6a die Zeilen 21 und 22 zu streichen sind, da sie mit Zeilen 1 und 2 der Seite 7 identisch sind,
Zeichnungen:
Blätter 1/5 bis 5/5 der ursprünglich eingereichten Patentanmeldung.