T 2278/17 12-11-2020
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EINLIPPENBOHRER UND VERFAHREN ZU DESSEN HERSTELLUNG
Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus
Änderungen - Hauptantrag (nein)
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (ja)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, wonach das Patent in geänderter Fassung gemäß dem damaligen Hauptantrag die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.
II. Am 12. November 2020 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
III. Am Ende der mündlichen Verhandlung lauteten die Anträge der Parteien wie folgt:
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage von Hilfsantrag 8, eingereicht mit Schriftsatz vom 12. März 2018 (im Folgenden: Hauptantrag) oder, hilfsweise, auf der Grundlage von Hilfsantrag 9, eingereicht mit Schriftsatz vom 20. März 2020.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
IV. Die folgenden Entgegenhaltungen werden in der vorliegenden Entscheidung verwendet:
D35: Artikel "Herstellung tiefer Bohrungen" (Fortsetzung) aus der "Zeitschrift für Werkzeugmaschinen und Werkzeuge", XI. Jahrgang, Heft 2, 15. Oktober 1906, Seiten 17-20
A12: Zeichnung "Anschliff-Einlippenbohrer mit positivem Spannbrecher für Kupfer-Bearbeitung" der Offenkundigen Vorbenutzung "Schleifanweisung"
A25: Patentschrift DD 287 887 A5
V. Anspruch 1 des zum Hauptantrag gemachten Hilfsantrags 8 vom 12. März 2018 lautet (Merkmalsgliederung in Anlehnung an die Anlage A18a der Beschwerdeführerin vom 10. Februar 2020; Änderungen gegenüber dem erteilten Anspruch 1 durch Unterstreichungen hervorgehoben):
1.1 |"Einlippenbohrer mit einem Bohrkopf (11), der |
1.1.1 |einen im Inneren des Bohrkopfs befindlichen Kühlschmierstoffzuführkanal (13), |
1.1.2 |eine außenliegende Sicke (14) zur Abfuhr des Kühlschmierstoff-Spänegemischs sowie |
1.2 |eine an dem Bohrkopf (11) ausgebildete Schneide (12) aufweist, |
1.3 |wobei die Schneide (12) |
1.3.1 |in den Bohrkopf eingeschliffen ist und |
1.3.2 |wenigstens eine Schneidkante (19) zur spanabhebenden Bearbeitung eines Werkstücks besitzt und |
1.4 |der Schneidkante (19) wenigstens ein Spanformer (21) zur Spanformung durch die Schneidkante (19) abgespanter Späne zugeordnet ist,|
1.5 |wobei sich die Schneide (12) im vorderen, stirnseitigen Bereich des Bohrkopfs befindet, |
1.6 |wobei die Schneidkante (19) der Schneide (12) im Winkel zur Bohrerachse (23) verläuft, |
dadurch gekennzeichnet, dass |
1.7 |der dieser Schneide (12) zugeordnete Spanformer (21) an der Schneidkante (19) einen positiven Spanwinkel (gamma) im Bereich von 10° bis 30° aufweist,|
1.8' |wobei der Spanformer (21) als eine an die Schneidkante (19) angrenzende Nut ausgebildet ist, die eine an die Schneidkante (19) angrenzende Spanleitfläche (26) zur Spanleitung der Späne (22)|
1.9' |und einen bogenförmig gekrümmten Spanbruchabschnitt (27) zur Brechung der Späne (22) aufweist, wobei sich der Spanbruchabschnitt (27) direkt an die Spanleitfläche (26) anschließt undbis zu einer Begrenzungsfläche (17) der Sicke (14) erstreckt,|
1.10' |wobei der Spanformer und alle anderen am Schnittprozess beteiligten Funktionsflächen mit einer Funktionsbeschichtung zur Erhöhung der Verschleißfestigkeit versehen ist."|
VI. Die für diese Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Artikel 123 (2) EPÜ
Anspruch 1 des Hauptantrags sei in zweierlei Hinsicht unzulässig zwischenverallgemeinert. Zum einen sei das Ausführungsbeispiel mit einem bogenförmig gekrümmten Spanbruchabschnitt auf Seite 6, vierter Absatz, der Anmeldung nur in Verbindung mit einer ebenfalls bogenförmig gekrümmten Spanleitfläche offenbart. Zwar gebe es eine Offenbarung für die Alternative einer ebenen Schrägfläche auf Seite 7 im ersten Absatz, aber keine Offenbarung für eine ganz freibleibende Form der Spanleitfläche. Zum anderen fehle die erfindungswesentliche Einschränkung auf den im dritten Absatz auf Seite 6 offenbarten Bereich für den Abstand des Spanbruchabschnitts von der Schneidkante.
b) Erfinderische Tätigkeit
Ausgehend von D35:
Die Entgegenhaltung D35 sei aufgrund der in Figur 17 gezeigten Schneidengeometrie prima facie hoch relevant für den Gegenstand von Anspruch 1 und daher zuzulassen.
Sie offenbare einen gattungsgemäßen Einlippenbohrer mit Kühlschmierstoffzuführkanal und Sicke (Figuren 11 und 12) sowie einer in den Bohrkopf eingeschliffenen Schneidkante gemäß der Präambel von Anspruch 1. Der geforderte Spanwinkel und Spanformer gemäß der Merkmale 1.7 bis 1.9' sei aus Figur 17 bekannt. Auch wenn sich Figur 17 auf einen Kanonenbohrer beziehe, hätte der Fachmann dessen Schneidengeometrie auch für Verbesserungen des Bohrers der Figuren 11 und 12 im Rahmen von Versuch und Irrtum herangezogen. Folglich beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 ausgehend von D35 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Ausgehend von A12:
A12 offenbare einen Einlippenbohrer gemäß dem Oberbegriff von Anspruch 1 mit einem Spanwinkel von 15° und einem nutförmigen Spanformer (Detailzeichnung rechts oben). Anspruch 1 unterscheide sich hiervon nur durch einen sich bis zur Sicke erstreckenden bogenförmig gekrümmten Spanbruchabschnitt (Merkmal 1.9') und durch die Funktionsbeschichtung des Bohrers (Merkmal 1.10').
Dokument A25 betreffe eine Schneidengeometrie für Einlippenbohrer, die die Bildung zu langer Späne vermeiden solle (Seite 1, Absatz "Anwendungsgebiet der Erfindung"). Hierzu offenbare die A25 eine ebene Spanleitfläche mit positivem Spanwinkel und einen daran anschließenden, mit Radius (R) bogenförmig gekrümmten Spanbruchabschnitt (Anspruch 1; Figur 3). Die ebenfalls offenbarte Fase (F) habe keine nennenswerte Auswirkung und könne auch weggelassen werden. Der Fachmann hätte daher zur Optimierung der Spangröße oder auf der Suche nach Verbesserung probeweise im Rahmen von Versuch und Irrtum den bogenförmig gekrümmten Spanbruchabschnitt der A25 in den Bohrkopf der A12 eingeschliffen und wäre so, ohne erfinderisch tätig zu werden, zu Merkmal 1.9' gelangt. Da eine Funktionsbeschichtung der am Schnittprozess beteiligten Flächen aus dem allgemeinen Fachwissen naheliegend und zudem ebenfalls in A25 offenbart sei ("beschichtete [...] Hartmetallschneidplatten", Seite 1, Abschnitt "Anwendungsgebiet der Erfindung"), wäre der Fachmann ausgehend von der A12 auf naheliegende Weise zum Gegenstand von Anspruch 1 gelangt.
Ausgehend von A25:
Anspruch 1 beruhe auch ausgehend von A25 allein nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Die beschichteten Schneidplatten könnten gemäß A25 auch fest mit dem Bohrkopf eines Einlippenbohrers verlötet sein (Anspruch 1). Abgesehen von der Fase (F), die der Fachmann je nach Bedarf weglassen würde, offenbare A25 daher alle Merkmale von Anspruch 1 bis auf den geforderten Spanwinkel (Merkmal 1.7). Es sei jedoch fachbekannt, den Spanwinkel in Abhängigkeit vom zu bearbeitenden Material sowie der gewünschten Prozessparameter zu variieren. Dabei wäre der Fachmann im Rahmen von Versuch und Irrtum auf naheliegende Weise zum Anspruchsgegenstand gelangt.
VII. Die entscheidungsrelevanten Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Hauptantrag - Artikel 123 (2) EPÜ
Der vierte Absatz auf Seite 6 der Anmeldung, dem das Merkmal des bogenförmig gekrümmten Spanbruchabschnitts entnommen wurde, verlange nicht zwingend eine bogenförmige Spanleitfläche. Deren Form bleibe im Anspruch 1 offen, um auch die ebene Geometrie von Absatz 1 auf Seite 7 abzudecken.
Der Einwand bezüglich des Weglassens der spezifischen Werte des Abstands zwischen Spanbruchabschnitt und Schneidkante sei verspätet und daher nicht zuzulassen.
b) Erfinderische Tätigkeit
Ausgehend von D35:
Die Entgegenhaltung D35 sei verspätet eingereicht und nicht zuzulassen. Sie sei auch nicht relevant, da die Schneidengeometrie der Figur 17 zu einem nicht gattungsgemäßen halbzylindrischen Kanonenbohrer ohne Spülkanal gehöre.
Es sei nicht ersichtlich, weshalb der Fachmann die in Figur 17 nur zufällig gezeigte Schneide des Kanonenbohrers in einen gattungsgemäßen Einlippenbohrer mit Spülkanal und Sicke übernehmen sollte. Die D35 erwähne im Text weder den Spanwinkel noch die Form der an die Schneide angrenzenden Fläche, offenbare keine Vorteile und biete daher keine Veranlassung, gerade die Geometrie der Figur 17 zu übernehmen.
Ausgehend von A12:
Es werde nach wie vor die Offenkundigkeit des Inhalts der A12 bestritten.
Die A12 offenbare zwar den Oberbegriff von Anspruch 1 sowie einen Spanwinkel gemäß Merkmal 1.7'. Die A12 offenbare jedoch keinen "Spanbruchabschnitt zur Brechung der Späne", da der Span an der Aufkantung hinter der ebenen Spanleitfläche gestaucht werde und undefiniert breche.
Der Spanformer mit bogenförmig gekrümmtem Spanbruchabschnitt nach Merkmal 1.9' von Anspruch 1 löse nicht nur die Aufgabe der Optimierung der Spanlänge, sondern auch der Spanform. Durch die Rundung rolle sich der Span zusammen und breche erst beim Auftreffen auf sich selbst, was eine vorteilhafte Spanform ergebe.
Es sei nicht ersichtlich, weshalb der Fachmann die A25 angesichts der Unterschiede (separate Schneidplatten, Werkstoff, Zielsetzung besonders kurzer Späne) überhaupt berücksichtigen sollte, zumal die A25 keinen Hinweise zur Optimierung der Form der Späne gebe.
Die in der A25 vorgeschlagene Schneidengeometrie offenbare einen positiven Spanwinkel von nur 5°. Da sich zudem zwingend eine Fase an den bogenförmig gekrümmten Abschnitt anschließe, um die Gefahr einer unerwünschten Spanstauchung zu vermeiden (Absatz zwischen den Parameterangabe auf Seite 2), grenze der bogenförmig gekrümmte Abschnitt selbst dann nicht unmittelbar an die Sicke, wenn die Schneide in den Bohrkopf der A12 eingeschliffen wäre. Daher wäre der Fachmann selbst bei Übernahme der Schneidengeometrie der A25 nicht zum Anspruchsgegenstand gelangt.
Die vorgetragene Kombination der Schneidengeometrie der A25 mit dem Spanwinkel der A12 unter Wegfall der Fase der A25 beruhe auf Rückschau und könne ohne jeweilige Anregung nicht als naheliegend angesehen werden.
Ausgehend von A25
Die A25 sei kein gattungsgemäßer Stand der Technik, da sie Scheidplatten, aber keine Einlippenbohrer mit eingeschliffener Schneide betreffe. Darüber hinaus gebe es keine Veranlassung für den Fachmann, den Spanwinkel der A25 zu verdoppeln und die als zwingend erforderlich dargestellte Fase wegzulassen.
1. Artikel 123 (2) EPÜ
1.1 Bogenförmig gekrümmte Spanleitfläche
Die Merkmale 1.8' und 1.9' beruhen auf Absatz 4 auf Seite 6 der ursprünglich einreichten Anmeldung.
Dort ist ein bevorzugter Spanformer offenbart, der aus zwei Bereichen aufgebaut ist, wobei sich ein als Spanbruchabschnitt bezeichneter "insbesondere bogenförmig gekrümmter" Bereich direkt an einen als Spanleitfläche bezeichneten ersten Bereich anschließt. Die Spanleitfläche wird in der genannten Passage ebenfalls als "insbesondere bogenförmig gekrümmter" Bereich offenbart.
Das Adverb "insbesondere" hebt hervor, dass das nachfolgende Merkmal zwar besonders oder in erster Linie, aber nicht ausschließlich gemeint ist. Ein solches Merkmal ist daher lediglich optional.
In Anspruch 1 wurde die als optional offenbarte bogenförmig gekrümmte Struktur des Spanbruchabschnitts aufgenommen, die ebenfalls optional als bogenförmig gekrümmt offenbarte Form der Spanleitfläche jedoch offen gelassen.
Nach Ansicht der Beschwerdeführerin ist der Absatz auf Seite 6 so zu verstehen, dass beide mit "insbesondere" gekennzeichneten Merkmale nur miteinander kombiniert offenbart sind, es also keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung dafür gebe, einen bogenförmig gekrümmten Spanbruchabschnitt mit einer in ihrer Form freibleibenden Spanleitfläche zu kombinieren.
Anders als von der Beschwerdeführerin vorgetragen, gibt es jedoch keinen Hinweis dafür, dass die in dem genannten Abschnitt auf Seite 6 separat formulierten optionalen Merkmale nur paarweise kombiniert offenbart wären. Im Gegenteil - der erste und der zweite Bereich werden jeweils getrennt voneinander beschrieben, und die Offenbarungsstellen der betreffenden optionalen Merkmale sind voneinander durch mehrere Sätze getrennt.
Diese Auslegung des letzten Absatzes der Seite 6 wird auch dadurch untermauert, dass der erste Absatz von Seite 7 eine alternative Offenbarung enthält, bei der die Spanleitfläche durch eine ebene Schrägfläche gebildet wird, der zweite Bereich aber wiederum als "gekrümmter bzw. mit Radius versehener Spanbruchabschnitt", also bogenförmig gekrümmt, beschrieben wird. Somit enthält die ursprünglich eingereichte Anmeldung sogar eine ausdrückliche Offenbarung für die Kombination eines bogenförmig gekrümmten Spanbruchabschnitts mit einer nicht bogenförmig gekrümmten Spanleitfläche.
Das Weglassen der spezifischen Bogenform der Spanleitfläche in Anspruch 1 stellt daher keine Zwischenverallgemeinerung der Offenbarung auf Seite 6 dar, und geht nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus.
1.2 Abstand des Spanbruchabschnitts von der Schneidkante
In einem erstmals während der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Einwand bemängelte die Beschwerdeführerin, der im dritten Absatz auf Seite 6 offenbarte Wertebereich für den Abstand des Spanbruchabschnitts von der Schneidkante stelle ein erfindungswesentliches Merkmal dar. Die Abstandsangabe wegzulassen, entspreche daher einer nicht gewährbaren Zwischenverallgemeinerung.
Die auf Seite 6 genannten Abstandsbereiche sind jedoch ausdrücklich als optional ("kann") und ohne Anspruch auf Vollständigkeit ("beispielsweise") offenbart. Daher geht das Weglassen dieser Abstandsangaben in Anspruch 1 auch nicht über den Inhalt der eingereichten Anmeldung hinaus.
Auf die - von der Beschwerdegegnerin beanstandete - Zulassung dieses verspätet vorgebrachten Einwands kommt es folglich nicht an.
2. Erfinderische Tätigkeit
2.1 Ausgehend von D35
2.1.1 D35 wurde von der Beschwerdeführerin mit ihrer Eingabe vom 19. März 2019 und somit verspätet eingereicht. Im Hinblick auf die nach erstem Anschein hohe Relevanz der in Figur 17 der D35 gezeigten Schneidengeometrie übte die Kammer ihr Ermessen dahingehend aus, D35 in das Verfahren zuzulassen.
2.1.2 Die Figuren 11 und 12 sowie die dazugehörige Beschreibung der D35 offenbaren unstreitig einen Einlippenbohrer mit den Merkmalen des Oberbegriffs von Anspruch 1, der als nächstliegender Stand der Technik angesehen werden kann. Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich davon durch die Merkmale 1.7 bis 1.10'.
2.1.3 Unbestritten zeigt Figur 17 die radiale Schneidkante eines halbzylindrischen Kanonenbohrers mit daran anschließender Spanfläche im Profil. Daran lässt sich ein positiver Spanwinkel in dem von Merkmal 1.7 geforderten Bereich ablesen. Die zylindrische Spanfläche kann als Spanformer aufgefasst werden, der sich aus einer bogenförmig gekrümmter Spanleitfläche und einem bogenförmig gekrümmtem Spanbruchabschnitt im Sinne der Merkmale 1.8' und 1.9' zusammensetzt.
2.1.4 Nach Ansicht der Beschwerdeführerin sei für jede neue Kombination aus Werkstoffparametern und Prozessbedingungen stets eine neue Optimierung der Schneidengeometrie zu ermitteln. Welche Maßnahmen hierfür letztlich erfolgreich seien, beruhe meist auf Versuch und Irrtum. In diesem Rahmen hätte der Fachmann daher die in Figur 17 gezeigte Schneide eines Kanonenbohrers auch in den Einlippenbohrer der Figuren 11 und 12 eingeschliffen, und wäre dabei, ohne erfinderisch tätig zu werden, zu einem Bohrer mit den Merkmalen 1.1 bis 1.9' gelangt.
2.1.5 Gemäß dem im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes vor den Beschwerdekammern angewandten "could would approach" ist es nicht ausschlaggebend, ob ein Fachmann den Gegenstand des Streitpatents hätte ausführen können, sondern vielmehr, ob er es in der Erwartung auf eine Lösung der zugrunde liegenden technischen Aufgabe bzw. in der Erwartung einer Verbesserung oder eines Vorteils auch getan hätte (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage, 2019, I.D.5). Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin, abgesehen von allgemeinen Verbesserungsversuchen, weder eine Aufgabe, noch konkrete Vorteile, Verbesserungen oder ein sonstiger Anlass für die Übernahme der in Figur 17 dargestellten Unterscheidungsmerkmale benannt. Vor allem aber offenbart auch die D35 selbst keine Vorteile der in Figur 17 gezeigten Schneidengeometrie. Insbesondere wird nicht auf die eventuelle Spanformung durch die bogenförmig gekrümmte Spanfläche eingegangen. Ohne Frage hätte der Fachmann die in Figur 17 gezeigte Schneide in einem Einlippenbohrer realisieren können, er hatte aber keine Veranlassung, aufgrund derer er dies auch getan hätte. Daher war es ausgehend von D35 nicht naheliegend, die Merkmale 1.7 bis 1.9' aus der Figur 17 in einen Einlippenbohrer gemäß der Präambel von Anspruch 1 zu übernehmen.
2.1.6 Es kann somit dahingestellt bleiben, ob und aus welchen Gründen die Funktionsbeschichtung nach Merkmal 1.10' naheliegend gewesen wäre.
2.1.7 Anspruch 1 beruht gegenüber Dokument D35 somit auf einer erfinderischen Tätigkeit.
2.2 Ausgehend von Dokument A12
2.2.1 Dokument A12 offenbart unstreitig eine Anweisung zum Einschleifen einer Schneidengeometrie in einen Einlippenbohrer gemäß dem Oberbegriff von Anspruch 1. In der Detailzeichnung rechts oben ist der Spanwinkel mit 15° beziffert (Merkmal 1.7'). Beim Einschleifen des Spanwinkels ergibt sich eine an die Schneidkante angrenzende Spanleitfläche sowie eine im wesentlichen rechtwinklig dazu stehende Fläche, die sich bis zur Sicke erstreckt. Auch wenn der Spanbruch aufgrund einer Stauchung an dieser Fläche undefiniert erfolgt, kann diese als "zur Brechung der Späne" geeigneter "Spanbruchabschnitt" bezeichnet werden. Daher offenbart A12 die Merkmale 1.1 bis 1.8'.
2.2.2 Zwischen den senkrecht aufeinanderstehenden Flächen ergibt sich beim Einschleifen technisch bedingt eine geringfügige Rundung, die einen bogenförmig gekrümmten Abschnitt darstellt. Dieser erstreckt sich aber nicht bis zur Sicke. Folglich unterscheidet sich Anspruch 1 jedenfalls durch die bogenförmig gekrümmte Form des sich bis zur Sicke erstreckenden Spanbruchabschnitts (Merkmal 1.9').
2.2.3 Nach Ansicht der Beschwerdeführerin hätte der Fachmann einen Spanbruchabschnitt gemäß Merkmal 1.9' aus der A25 übernommen, entweder, um die im Streitpatent in Absatz [0010] genannte Aufgabe der Optimierung der Spangröße zu lösen oder um eine verbesserte Anpassung des Bohrers an bestimmte Einsatzbedingungen durch Versuch und Irrtum zu erreichen.
2.2.4 Dokument A25 betrifft eine "Schneidengeometrie für [...] Hartmetallschneidplatten von Tiefbohrköpfen zum Bohren von Stahl hoher Kerbschlagzähigkeit mit dem Ziel der Vermeidung einer unerwünschten Langspanbildung" (Abschnitt "Anwendungsgebiete der Erfindung", Seite 1). "Erfindungsgemäß" wird dies durch eine Schneide mit positivem Spanwinkel (z.B. 5°, vgl. Parameterangaben im viertletzten Absatz auf Seite 2), einer ebenen Spanleitfläche, die in einen bogenförmig gekrümmten Abschnitt übergeht (Figur 3; Anspruch 1), dem sich eine genau definierte Fase anschließt, erreicht (Anspruch 1; Seite 1, letzter Absatz, Figur 3).
2.2.5 Selbst wenn man zugunsten der Beschwerdeführerin davon ausgeht, dass der Fachmann trotz der Werkstoffunterschiede die Schneidengeometrie der A25 übernommen und in den Bohrkopf der A12 eingeschliffen hätte, wäre er dabei jedoch selbst dann nicht zum Gegenstand von Anspruch 1 gelangt, wenn er den Spanwinkel der A12 beibehalten hätte. Denn der bogenförmig gekrümmte Abschnitt der A25 kann zwar als "Spanbruchabschnitt zur Brechung der Späne" aufgefasst werden, er erstreckt sich aber aufgrund der Fase (Figur 3) auch im eingeschliffenen Zustand nicht bis zu einer Begrenzungsfläche der Sicke.
2.2.6 Die Beschwerdeführerin argumentierte, der Fachmann hätte erkannt, dass die Fase von nur 0,2 mm Breite keine nennenswerte Funktion habe, da der Span an dieser Stelle durch den Spanbruchabschnitt bereits gebrochen sei. Der Fachmann hätte die Fase daher im Rahmen von Versuch und Irrtum oder schon deshalb weggelassen, um den Bearbeitungsschritt zu ihrer Herstellung einzusparen, und wäre so zum Gegenstand von Anspruch 1 gelangt.
2.2.7 Die Fase wird in der A25 jedoch durchweg als zwingendes Merkmal der Erfindung angeführt (vgl. Anspruch 1 und Seite 1, letzter Absatz). Sie ist dazu vorgesehen, die "Gefahr einer Spänestauchung" der sonst zu hoch aufragenden "Schulter" 9 des Spanbruchabschnitt zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren (drittletzter Absatz auf Seite 2). Da ein gestauchter Span zu früh und unkontrolliert bricht, erfüllt die Fase eine für die definierte Spangrößenbildung entscheidende Funktion. Es gibt keinen Beleg für die Behauptung der Beschwerdeführerin, dass der Span beim Durchlaufen des bogenförmig gekrümmten Abschnitts bereits vor Erreichen der Fase bräche und daher nicht gestaucht würde. Auch aus seinem Fachwissen heraus hatte der Fachmann keinen Anlass, die Zweckangabe der A25 zu bezweifeln. Daher wäre es ohne erfinderisches Zutun nicht naheliegend gewesen, die als wesentlich offenbarte Fase entgegen der ausdrücklichen Lehre der A25 wegzulassen.
2.2.8 Folglich beruht der Gegenstand von Anspruch 1 ausgehend von A12 bereits aufgrund des Unterscheidungsmerkmals 1.9' auf einer erfinderischen Tätigkeit. Auf die Offenkundigkeit der in A12 dokumentierten Vorbenutzung kommt es daher nicht an.
2.3 Ausgehend von A25
Aus denselben Gründen wie unter 2.2 dargelegt, war es ausgehend von der A25 nicht naheliegend, die ausdrücklich als wesentlich offenbarte Fase (F, Figur 3) wegzulassen, so dass der Fachmann nicht zu Merkmal 1.9' von Anspruch 1 gelangt wäre. Bereits aus diesem Grund beruht Anspruch 1 daher auch ausgehend von der A25 auf einer erfinderischen Tätigkeit.
2.4 Da keiner der vorgetragenen Einwände das Naheliegen der Kombination der Merkmale 1.1 bis 1.10' belegen konnte, erfüllt der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags folglich die Erfordernisse von Artikel 52(1) in Verbindung mit Artikel 56 EPÜ.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in der folgenden Fassung aufrecht zu erhalten:
- Ansprüche 1 bis 13 des Hauptantrags (Hilfsantrags 8 vom 14. März 2018)
- Beschreibung: Spalten 1 bis 6 wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer und Spalten 7 bis 11 wie erteilt,
- Zeichnungen: Figuren 1 bis 5 wie erteilt.