T 0281/18 12-10-2021
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Vorrichtung zum Erfassen und Erkennen von Objekten
Spät eingereichte Dokumente zum Nachweis des Fachwissens - zugelassen (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Spät eingereichte Hilfsanträge - fehlende Begründung in Beschwerdeerwiderung
Spät eingereichte Hilfsanträge - zugelassen (nein)
I. Die Einspruchsabteilung hat das europäische Patent Nr. 2 083 261 in geänderter Fassung aufrecht erhalten. Dabei hat die Einspruchsabteilung unter anderem auf das folgende Dokument Bezug genommen:
D9 DE 20 2006 016 604 U1
II. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hat gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt und mit der Beschwerdebegründung folgende Dokumente vorgelegt:
D13 US 4 490 933
D14 EP 0 171 837 B1
D15 DE 459 354
D16 DE 295 06 941 U1
III. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte in ihrer Beschwerdeerwiderung die Beschwerde zurückzuweisen, die Dokumente D13, D14, D15 und D16 nicht zuzulassen, eine Kostenverteilung zu Gunsten der Patentinhaberin (Artikel 104(1) EPÜ und Artikel 16(1) VOBK) anzuordnen, hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geändertem Umfang mit den Ansprüchen gemäß dem Hilfsantrag 4 (Ansprüche 1 bis 10, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung am 26. September 2017) aufrecht zu erhalten, hilfsweise das Patent in geändertem Umfang mit den Ansprüchen gemäß dem Hilfsantrag 4A (eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung) aufrecht zu erhalten, hilfsweise eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
IV. In weiteren Schreiben haben beide Beteiligte zu den Schriftsätzen der jeweils anderen Beteiligten Stellung genommen. Die Beschwerdeführerin hat zudem das folgende Dokument neu vorgelegt:
D17|"Maschinenbau - Ein Lehrbuch für das ganze Bachelor-Studium", Werner Skolaut, Seiten 971 bis 973.|
V. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020, die in Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer erging, teilte die Beschwerdekammer den Beteiligten ihre vorläufige und nicht bindende Meinung zu bestimmten, wesentlichen Punkten mit.
VI. In weiteren Schreiben haben beide Beteiligte zu der Mitteilung der Beschwerdekammer und den Schriftsätzen des jeweils anderen Beteiligten Stellung genommen. Die Beschwerdeführerin hat sich zudem auf das folgende Dokument aus dem Einspruchsverfahren bezogen:
D3|US 6 200 002 B1|
VII. Am 12. Oktober 2021 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt. Für die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) war, wie mit Schreiben vom 8. September 2021 angekündigt, niemand anwesend.
VIII. Die abschließenden Anträge der Parteien lauten wie folgt:
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents sowie die Zurückweisung des Antrags der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) auf Kostenverteilung.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragt die Zurückweisung der Beschwerde und die Nichtzulassung der Dokumente D13 bis D17 sowie D3. Zudem beantragt sie eine Kostenverteilung. Hilfsweise beantragt die Beschwerdegegnerin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang mit den Ansprüchen gemäß Hilfsantrag 4, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung am 26. September 2017, oder gemäß Hilfsantrag 4A, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung vom 3. August 2018.
IX. Anspruch 1 gemäß dem Patent wie in geänderter Fassung aufrechterhalten lautet wie folgt:
"Vorrichtung zum Erfassen und Erkennen von Objekten (5) eines Materialstromes, umfassend mindestens eine Kamera (1), welche Bilddaten der Objekte (5) an eine Auswerteeinrichtung zwecks Ermittlung von Eigenschaften der Objekte (5) des Materialstromes wie Materialzusammensetzung, Farbe, Größe oder dergleichen übermittelt, sowie eine beliebige Anzahl vorzugsweise reihenförmig angeordneter Leuchtdioden (4), welche einer Beleuchtung des Materialstromes dienen, wobei der Materialstrom mittels eines Förderelementes (3) transportiert und an einem Erfassungsbereich (12) der Kamera(s) vorbeigeführt wird und wobei zwischen den Leuchtdioden (4) und dem vorzugsweise am Förderelement (3) lokalisierten Erfassungsbereich (12) eine optische Einrichtung (6) angeordnet ist, welche eine Diffusion des von den Leuchtdioden (4) emittierten Lichtes bewirkt, wobei die optische Einrichtung (6) mindestens einen auf seinen Innenseiten (14c) verspiegelten Reflexionskanal (14) umfasst und die Vorrichtung zur Analyse transparenter Objekte des Materialstroms im Durchlicht- bzw. Transmissionsverfahren ausgebildet ist, wobei die Leuchtdioden (4) so angeordnet sind, dass diese dabei den zu analysierenden Materialstrom durchleuchten und die zumindest eine den Leuchtdioden (4) gegenüberliegende Kamera (1) das den Materialstrom durchscheinende Licht der Leuchtdioden (4) empfängt, wobei die Leuchtdioden (4) als Weißlicht-Dioden oder als Infrarot-Dioden oder als gepulst betreibbare RGB- sowie UV-Leucht-Dioden ausgebildet sind, dadurch gekennzeichnet, dass der Reflexionskanal (14) aus Blech gefertigt ist."
1. Das Patent wie in geänderter Fassung aufrechterhalten - erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
1.1 Der Hauptantrag betrifft das Patent wie in geänderter Fassung aufrecht erhalten, d.h. gemäß Hilfsantrag 3 wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung am 26. September 2017.
1.2 Nächstliegender Stand der Technik
Das Dokument D9 wird von allen Beteiligten als nächstliegender Stand der Technik für den Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 angesehen. Es offenbart unstrittig die Merkmale des Oberbegriffs.
1.3 Unterschied
Anspruch 1 des Hauptantrags unterscheidet sich von der aus D9 bekannten Vorrichtung zum Erfassen und Erkennen von Objekten eines Materialstroms durch das Merkmal, dass "der Reflexionskanal (14) aus Blech gefertigt ist."
1.4 Technische Aufgabe
Die Beschwerdeführerin formuliert, ausgehend von dem oben genannten Unterschied, als objektive technische Aufgabe die Auswahl einer konkreten Herstellungsvariante für den aus D9 (s. Absatz [0030] "verspiegelte Seitenwände 34" und Anspruch 10: "Spiegelkanal") bekannten Reflexionskanal.
Die Beschwerdegegnerin formuliert als Aufgabe die Bereitstellung eines Reflexionskanals einer Sortiervorrichtung, welcher in einfacher Weise behandelt, beschichtet und angepasst werden kann, gleichzeitig möglichst einfach im Aufbau ist und außerdem die für die Anwendung in einer Sortiervorrichtung benötigte Stabilität und Widerstandsfähigkeit gegenüber äußeren Krafteinwirkungen und hohen Temperaturen aufweist.
Die Kammer stimmt der von der Beschwerdeführerin formulierten objektiven technischen Aufgabe zu, da diese sich unmittelbar aus dem Unterscheidungsmerkmal ergibt, wonach ein aus dem Stand der Technik bekannter Reflexionskanal aus Blech gefertigt wird.
1.5 Kombination mit dem Fachwissen
Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, dass die Verwendung eines aus Blech gefertigten Reflexionskanals naheliegend sei, da Reflexionskanäle aus Blech zum allgemeinen Fachwissen des einschlägigen Fachmanns gehörten. Zum Nachweis dieses Fachwissens verweist sie auf die Dokumente D13 bis D16, welche die Verwendung von Reflexionskanälen aus Blech offenbarten.
Die Beschwerdegegnerin ist der Meinung, dass die Verwendung eines aus Blech gefertigten Reflexionskanals aus dem allgemeinen Fachwissen nicht bekannt sei und insbesondere die Dokumente D13 bis D16 kein Beleg für die von der Beschwerdeführerin behauptete Fachüblichkeit seien. Sie argumentiert insbesondere, dass die Beweislast für das behauptete allgemeine Fachwissen bei der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) liege und diese das allgemeine Fachwissen nicht ausreichend nachgewiesen habe. Die Dokumente D13 bis D16 seien erstmals in der Beschwerdebegründung vorgebracht worden und stammten nicht aus dem Gebiet der Sortiervorrichtungen, so dass sie auf Grund des verspäteten Vorbringens und mangels Relevanz nicht ins Verfahren zuzulassen seien. Des Weitern seien die Dokumente D13 bis D16 Patente und damit nicht zum Nachweis des allgemeinen Fachwissens geeignet.
1.6 Dokument D13 bis D16
Die Dokumente D13 bis D16 wurden mit der Beschwerdebegründung eingereicht und liegen damit gemäß Artikel 12 (1) b) VOBK 2020 dem Beschwerdeverfahren zugrunde.
Die Einspruchsabteilung hat in der Ladung zur mündlichen Verhandlung ihre vorläufige Einschätzung mitgeteilt, wonach "die Fertigung des Reflexionskanals aus einem Blech lediglich eine fachübliche Ausführungsvariante darstellt". Weiter hat sie ergänzt, dass ein expliziter Nachweis nicht vorhanden sei. Im Anschluss daran hat die Einspruchsabteilung den Beteiligten mitgeteilt, dass in der mündlichen Verhandlung von der Pateninhaberin zu zeigen wäre, dass es nicht im Rahmen des fachüblichen Handelns läge, die aus D9 bekannten verspiegelten Seitenwände des Reflexionskanals aus Blech zu fertigen.
Die Kammer ist daher der Meinung, dass, ausgehend von der vorläufigen Einschätzung der Einspruchabteilung und den explizit an die Patentinhaberin gerichteten Hinweis, die Einsprechende keine Veranlassung dazu hatte, einen entsprechenden Nachweis des Fachwissens vorzulegen. Die erst mit der Beschwerdebegründung vorgelegten Dokumente D13 bis D16 sollen den von der Einspruchsabteilung in der Entscheidung (und entgegen ihrer vorläufigen Meinung) festgestellten fehlenden Nachweis für das Fachwissen erbringen. Die Kammer sieht daher die Einreichung der Dokumente mit der Beschwerdebegründung als eine legitime Reaktion der Beschwerdeführerin auf die Entscheidung der Einspruchsabteilung.
Zudem kann gemäß ständiger Rechtsprechung im Beschwerdeverfahren das verspätete Vorbringen zur Belegung eines behaupteten allgemeinen Fachwissens berücksichtigt werden, wenn dieses Fachwissen infrage gestellt wurde (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, Ausgabe 2019, Kapitel V.A.4.13.1 a)).
Die Dokumente D13 bis D16 werden daher gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 berücksichtigt.
Gemäß ständiger Rechtsprechung (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, Ausgabe 2019, Kapitel I.C.2.8.2) können Patentschriften dem allgemeinen Fachwissen zugerechnet werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn wie im vorliegenden Fall, aus einer Reihe von Patentschriften übereinstimmend hervorgeht, dass ein bestimmtes technisches Vorgehen am maßgeblichen Datum allgemein bekannt war und zum allgemeinen Fachwissen gehörte. Die Kammer ist der Meinung, dass die Offenbarungen der Dokumente D13 bis D16 (siehe D13, Spalte 3, Zeilen 41 bis 57, D14, Spalte 3, Zeilen 54 bis 57, D15, Spalte 1, Zeilen 29 bis 34 oder D16, Seite 4, letzter Absatz,) übereinstimmend zeigen, dass dem Fachmann am Anmeldetag des Streitpatents die vorteilhafte Verwendung von Blech zur Realisierung von Reflexionskanälen allgemein bekannt war.
1.7 Naheliegende Lösung
Angesichts seines oben dargelegten Fachwissens würde der Fachmann den in D9 beschriebenen Reflexionskanal, ohne erfinderisch tätig zu werden, aus Blech fertigen.
Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass der Gegenstand des Anspruchs 1, ausgehend von Dokument D9 als nächstliegendem Stand der Technik in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen, wie durch die Dokumente D13 bis D16 belegt, nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ beruht.
2. Hilfsanträge 4 und 4A
2.1 Die Beschwerdegegnerin hat in ihrer Beschwerdeerwiderung keine Argumente bezüglich der Zulässigkeit der Hilfsanträge oder deren Gewährbarkeit gemäß Artikeln 123 (2), 84, 54 und 56 EPÜ vorgetragen.
Die jeweils knappen Begründungen zur erfinderischen Tätigkeit und "formalen Zulässigkeit" in den Eingaben vom 21. August 2020 und 7. September 2021 (wiederholt in der Eingabe vom 8. September 2021), die alle nach Zustellung des Ladungsbescheids eingingen, werden gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht zum Verfahren zugelassen, da die Beschwerdegegnerin keine stichhaltigen Gründe dafür aufgezeigt hat, dass außergewöhnliche Umstände für die verspätete Einreichung vorlagen. Sie hat in den Schreiben lediglich das Vorbringen vor der ersten Instanz wiederholt und nicht begründet, warum dies im Verfahren vor der Beschwerdekammer erstmals in diesen Schreiben erfolgte.
Die Hilfsanträge 4 und 4A werden daher gemäß Artikel 12 (4) in Verbindung mit Artikel 12 (2) VOBK 2007, der mit Artikel 12 (3) VOBK 2020 im relevanten Teil übereinstimmt, nicht berücksichtigt, da in der Beschwerdeerwiderung keine Begründung für deren Gewährbarkeit gegeben wurde.
3. Antrag auf Kostenverteilung
3.1 Die Beschwerdegegnerin stellt einen Antrag auf Kostenverteilung zu ihren Gunsten (Artikel 104 (1) EPÜ und Artikel 16 (1) VOBK 2020). Sie begründet diesen mit dem erheblichen Mehraufwand, der mit der Auseinandersetzung mit den verspätet eingereichten Dokumenten D13 bis D16 verbunden sei.
3.2 Die Beschwerdeführerin beantragt, diesen Antrag zurückzuweisen.
3.3 Aus denselben Gründen wie den oben unter Punkt 1.6 genannten sieht die Kammer in der Einreichung der Dokumente D13 bis D16 mit der Beschwerdebegründung weder mangelnde Sorgfalt noch einen Verfahrensmissbrauch auf Seiten der Beschwerdeführerin. Zudem ist auch die Auseinandersetzung mit diesen Dokumenten nicht mit einem erheblichen und ungerechtfertigten Mehraufwand verbunden, sondern bewegt sich im Rahmen der normalen Arbeit, die von einem Beteiligten und seinem Vertreter erwartet werden kann (siehe auch Rechtsprechung der Beschwerdekammern, Ausgabe 2019, Kapitel III.R.2.1 und III.R.2.1.2 a)). Der Antrag auf Kostenverteilung ist daher zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.
3. Der Antrag auf Kostenverteilung wird zurückgewiesen.