T 1281/18 15-02-2022
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Verfahren zur Herstellung einer strukturierten Oberfläche und Platte mit einer strukturierten Oberfläche
Fritz Egger GmbH & Co. OG
Hymmen GmbH Maschinen- und Anlagenbau
Robert Bürkle GmbH
Flooring Technologies Ltd.
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Spät eingereichte Beweismittel - zugelassen (nein)
I. Die Einsprechenden 1 und 2 legten form- und fristgerecht Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, mit der die Einsprüche gegen das europäische Patent Nr. 1 645 339 zurückgewiesen worden waren.
II. Die Einsprüche richteten sich gegen das Streitpatent im gesamten Umfang und stützten sich auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ (Neuheit und erfinderische Tätigkeit).
III. Mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2020 nahm die Einsprechende 2 ihre Beschwerde zurück und erklärte, dass sie an einer mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde.
IV. Mit Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020 vom 10. Dezember 2020 teilte die Beschwerdekammer den Parteien ihre vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtslage und zur Geltung der VOBK 2020 mit.
V. Die Patentinhaberinnen nahmen mit Schriftsatz vom 18. Februar 2021 zur Mitteilung der Kammer inhaltlich Stellung und reichten Hilfsanträge 2 und 3 ein.
VI. Die Einsprechende 1 reichte zur inhaltlichen Stellungnahme auf die Kammermitteilung am 10. Januar 2022 einen Schriftsatz sowie Versuchsergebnisse als Dokumente E15 bis E19-3 ein.
VII. Die Pateninhaberinnen reichten in Erwiderung auf die Stellungnahme der Einsprechenden 1 am 21. Januar 2022 einen Schriftsatz ein.
VIII. Am 15. Februar 2022 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer unter Beachtung von Regel 115 (2) EPÜ und Artikel 15 (3) VOBK 2020 ohne die ordnungsgemäß geladene, aber zum Termin nicht erschienene Einsprechenden 2 statt. Wegen der Einzelheiten des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll verwiesen.
Die Entscheidung wurde am Schluss der mündlichen Verhandlung verkündet.
IX. Die Einsprechende 1 beantragte
die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 1 645 339 im vollen Umfang.
Die Patentinhaberinnen beantragten
die Zurückweisung der Beschwerde, d.h. die Aufrechterhaltung des Patents in erteilter Fassung,
oder hilfsweise,
bei Aufhebung der angefochtenen Entscheidung
die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf Basis des Hilfsantrags 1, eingereicht mit Schriftsatz vom 15. November 2017, oder
auf Basis eines der Hilfsanträge 2 oder 3, eingereicht mit Schriftsatz vom 17. Februar 2021.
X. Diese Entscheidung stützt sich auf folgende Dokumente:
E1: US 5 178 928 A;
E2: DE 195 02 389 A1;
E3: DE 24 21 794 A1;
E5: US 6 326 074 B1;
E12: DE 29 19 847 B1;
E15: PFI Expertise Nr. 2109267-02-15-01
vom 29. Oktober 2021 (1. Teil);
E16: PFI Expertise Nr. 2109267-01-15-01
vom 29. Oktober 2021 (2. Teil);
E17: Ergänzende Erläuterung, Michaela Wurtz
(Laborleiterin Mikrobiologie des PFI
Pirmasens e.V.);
E18-1: Fotografie einer Holzdekoroberfläche mit
vertieften Poren;
E18-2: Messdiagramm der Oberflächenrauhigkeitsmessung;
E18-3: Maximalwerte aus dem Messdiagramm;
E19-1: Fotografie einer Holzdekoroberfläche mit
erhöhten Poren;
E19-2: Messdiagramm der Oberflächenrauhigkeitsmessung;
E19-3: Maximalwerte aus dem Messdiagramm.
XI. Der unabhängige Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung gemäß Hauptantrag lautet:
"Verfahren zur Herstellung einer strukturierten Oberfläche auf einem plattenförmigen Werkstück (2) aus Holzwerkstoff zur Verwendung als Fußbodenbelag oder Möbelteil,
- bei dem auf eine Oberfläche des Werkstückes (2) ein Holzdekor mittels Auftragswalzen aufgedruckt wird, wobei das Holzdekor als Vertiefungen aufzufassende Bereiche aufweist,
- bei dem auf das Holzdekor folgend eine zumindest teilweise optisch transparente erste Beschichtung (22) aus Lack auf die Oberfläche des Werkstückes (2) aufgebracht wird und
- bei dem mittels einer eine strukturierte Mantelfläche aufweisenden Auftragswalze (14) im Direktdruckverfahren oder Indirektdruckverfahren auf die erste Beschichtung (22) eine zumindest teilweise optisch transparente zweite Beschichtung (24) aus Lack mit einer räumlich variierenden Verteilung der Auftragsmenge in der Weise aufgebracht wird, dass Bereiche mit höherer Auftragsmenge und Bereiche mit geringerer oder keiner Auftragsmenge vorgesehen sind und dass die zweite Beschichtung (24) eine negative Oberflächenstruktur bildet, so dass eigentlich als Vertiefungen nachzubildende Oberflächenstrukturen des Holzdekors als Erhebungen (28) ausgebildet sind."
XII. Der unabhängige Anspruch 13 des Patents in der erteilten Fassung gemäß Hauptantrag lautet:
"Plattenförmiges Werkstück aus Holzwerkstoff zur Verwendung als Fußbodenbelag oder Möbelteil mit einer strukturierten Oberfläche, insbesondere hergestellt nach einem Verfahren nach einem der Ansprüche 1 bis 12,
- mit einem plattenförmigen Trägermaterial (2) aus Holzwerkstoff,
- mit einem auf das Trägermaterial (2) aufgedruckten Holzdekor, das als Vertiefungen aufzufassende Bereiche aufweist,
- mit einer auf das Holzdekor folgenden, zumindest teilweiseoptisch transparenten ersten Beschichtung (22) aus Lack und
- mit einer aus Lack gebildeten, zumindest teilweise optisch transparenten zweiten Beschichtung (24), die mit einer räumlich variierenden Verteilung der Auftragsmenge auf die erste Beschichtung (22) mit Hilfe eines Direktdruckverfahrens oder eines Indirektdruckverfahrens aufgebracht ist, so dass Bereiche mit höherer Auftragsmenge und Bereiche mit geringerer oder keiner Auftragsmenge vorgesehen sind, und die eine negative Oberflächenstruktur bildet, so dass eigentlich als Vertiefungen nachzubildende Oberflächenstrukturen des Holzdekors als Erhebungen (28) ausgebildet sind."
XIII. Der unabhängige Anspruch 22 des Patents in der erteilten Fassung gemäß Hauptantrag lautet:
"Vorrichtung zur Herstellung einer strukturierten Oberfläche auf einem plattenförmigen Werkstück (2) aus Holzwerkstoff zur Verwendung als Fußbodenbelag oder Möbelteil,
- mit mindestens einer eine Auftragswalze aufweisenden Bearbeitungsstation (18, 20) zum Aufdrucken eines Holzdekors, das als Vertiefungen aufzufassende Bereiche aufweist,
- mit einer eine Auftragswalze (10) aufweisenden Bearbeitungsstation (6) zum Aufbringen einer auf das Holzdekor folgenden zumindest teilweise optisch transparenten ersten Beschichtung (22) aus Lack auf die Oberfläche des plattenförmigen Werkstückes (2) und
- mit einer Bearbeitungsstation (8), die eine eine strukturierte Mantelflächeaufweisende Auftragswalze (14) zum direkten oder indirekten Aufdrucken einer zumindest teilweise optisch transparenten zweiten Beschichtung (24) aus Lack auf die erste Beschichtung (22) aufweist und die zweite Beschichtung (24) mit einer räumlich variierenden Verteilung der Auftragsmenge auf die erste Beschichtung (22) aufbringt, so dass Bereiche mit höherer Auftragsmenge und Bereiche mit geringerer oder keiner Auftragsmenge vorgesehen sind, wobei die strukturierte Mantelfläche der Auftragswalze (14) eine Oberflächenstruktur zum Erzeugen einer negativen Oberflächenstruktur auf dem plattenförmigen Werkstück (2) definiert, so dass die zweite Beschichtung (24) eine negative Oberflächenstruktur bildet, so dass eigentlich als Vertiefungen nachzubildende Oberflächenstrukturen des Holzdekors ais Erhebungen (28) ausgebildet sind."
XIV. Im Hinblick auf die Entscheidung der Kammer ist eine Wiedergabe des Wortlauts von Ansprüchen der Hilfsanträge nicht erforderlich.
XV. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Parteien wird im Detail in den Entscheidungsgründen diskutiert.
1. Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 1 gegenüber E12 (Artikel 100 a) und 54 EPÜ)
1.1 Die Kammer schließt sich den Patentinhaberinnen an, dass E12 kein Verfahren zur Herstellung einer strukturierten Oberfläche aus einem plattenförmigen Werkstück aus Holzwerkstoff zur Verwendung als Fußbodenbelag oder Möbelteil gemäß Anspruch 1 des Streitpatents offenbart (siehe Punkt III.1, Absätze 1 bis 3, der Beschwerdeerwiderung), weil E12 sich auf ein Flächengebilde auf Basis einer Papier- oder Kunststofffolienbahn mit einem Holzmaserungsdekor und auf ein Verfahren zu dessen Herstellung bezieht (siehe E12, Anspruch 1 und 9, Figur 2 und Spalte 4, Zeilen 54 bis 61).
1.2 Dass in E12 ebenfalls ein Verfahren offenbart werde, mit dem auch ein Flächengebilde aus Holzwerkstoff mit einer strukturierten Oberfläche versehen werden könne (siehe Seite 5, erster Absatz der Beschwerdebegründung), ist ein Gesichtpunkt im Rahmen der Diskussion der erfinderischen Tätigkeit, nicht jedoch der Neuheit.
1.3 Die Kammer ist daher von der Argumentation der Einsprechenden 1 nicht überzeugt und ist der Meinung, dass E12 nicht neuheitsschädlich für den Gegenstand des Anspruchs 1 ist.
2. Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 13 gegenüber E12 (Artikel 100 a) und 54 EPÜ)
2.1 Die Kammer kann sich nicht der Einsprechenden 1 anschließen (siehe Punkt II.2.1 ihrer Beschwerdebegründung), dass E12 neuheitsschädlich für den Gegenstand des Anspruchs 13 sei.
Wie im Bezug aus Anspruch 1 oben erläutert, betrifft E12 ein Flächengebilde auf Basis einer Papier- oder Kunststofffolienbahn, so dass der Gegenstand des Anspruchs 13, der ein plattenförmiges Werkstück aus Holzwerkstoff betrifft, gegenüber E12 neu ist.
3. Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 22 gegenüber
E12 (Artikel 100 a) und 54 EPÜ)
3.1 Die Kammer kann sich der Einsprechenden 1 nicht anschließen, dass E12 ein Verfahren gemäß Anspruch 1 beschreibt und daher implizit auch eine Vorrichtung mit Bearbeitungsstationen zur Durchführung dieses Verfahrens offenbart (siehe Punkt II.2.2, erster und zweiter Absatz ihrer Beschwerdebegründung).
3.2 Die Kammer stimmt vielmehr mit den Patentinhaberinnen überein, dass E12 keine Vorrichtung zur Herstellung einer strukturierten Oberfläche auf einem plattenförmigen Werkstück aus Holzwerkstoff offenbart (siehe Punkt III.1, zweiter Absatz, und Punkt III.2.2, letzter Absatz, der Beschwerdeerwiderung), sondern eine nicht im Detail beschriebene Vorrichtung zur Herstellung eines Flächengebildes auf Basis einer Papier- oder Kunststofffolienbahn (siehe E12, Spalte 4, Zeilen 13 bis 37).
3.3 Der Argumentation der Einsprechenden 1, dass im Absatz [0003] des Streitpatents angegeben werde, dass die Dicke des plattenförmigen Werkstückes aus Holzwerkstoff kein beschränkendes Merkmal ist und dass sehr dünne Holzplatte allgemeinen bekannt seien, so dass die Vorrichtung von E12 geeignet für plattenförmige Werkstücke aus Holzwerkstoff sei, kann nicht gefolgt werden.
3.4 Die Kammer ist der Auffassung, dass, weil die Vorrichtung von E12 im Detail nicht beschrieben wird und eine Papier- und Kunststofffolienbahn allgemein unterschiedliche strukturelle Eigenschaften, wie Steifigkeit und Biegbarkeit, im Vergleich zu einem plattenförmigen Werkstück aus Holzwerkstoff hat, auch wenn dieses dünn ist, aus E12 nicht eindeutig und unmittelbar entnommen werden kann, dass die dort erwähnte Vorrichtung überhaupt zur Herstellung einer strukturierten Oberfläche auf einem plattenförmigen Werkstück aus Holzwerkstoff geeignet ist.
3.5 Die Kammer ist daher von der Argumentation der Einsprechenden 1 nicht überzeugt.
4. Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 13 gegenüber E5 (Artikel 100 a) und 54 EPÜ)
4.1 Die Kammer kann sich nicht der Einsprechenden 1 anschließen (siehe Seite 12, letzter Absatz, - Seite 14, erster Absatz, der Beschwerdebegründung), dass E5 die Merkmalskombination 13.8 offenbart, nämlich dass:
"die (zweite Beschichtung) eine negative Oberflächenstruktur bildet, so dass eigentlich als Vertiefung nachzubildende Oberflächenstrukturen des Holzdekors als Erhebungen ausgebildet sind",
weil "pattern layer 3" der E5 als die negative Oberflächestruktur gemäß Merkmal 13.8 anzusehen ist.
Dies ist aus der E5 eindeutig und unmittelbar nicht zu entnehmen.
4.2 Richtig ist zwar, dass die Stellen, an denen die zweite Beschichtung (5, 6) eine höhere Auftragsmenge aufweist, dem Element "pattern layer 3" entsprechen (siehe Figur 2) und dass in der E5 angeben wird (siehe Spalte 4, Zeile 58 bis 59), dass
"Patterns usable in the present invention include grains, rifts, and tile patterns",
wobei "grains" und "rifts" als Vertiefungen zu betrachten sind. Allerdings, wie von den Patentinhaberinnen zutreffend argumentiert (siehe den Schriftsatz vom 18. Februar 2021, Seite 2, dritter Absatz, - Seite 3, erster Absatz), ist aus der E5 jedoch nicht eindeutig und unmittelbar zu entnehmen, dass "pattern" in D5, d.h. das Muster, allein durch "pattern layer 3" und nicht durch das Zusammenwirken von verschiedenen Elementen, wie z.B. "pattern layer 5" und "penetrable layer 4" ausgebildet wird.
4.3 Die von der Einsprechenden 1 erwähnte Passage von Spalte 3, Zeilen 53 bis 59, der E5, in der Element 3 als "pattern" und nicht als "pattern layer" bezeichnet wird ("in its portion not having the pattern 3 to form a penetrable layer 4") kann nicht die obige Auffassung der Kammer ändern, da eine eindeutige und unmittelbare Offenbarung, dass die Elemente 3 das Merkmal 13.8 in E5 verwirklichen, immer noch fehlt.
4.4 Die Kammer ist daher nicht von der der Argumentation der Einsprechenden 1 überzeugt, dass das Element 3 der E5 als die negative Oberflächestruktur gemäß Merkmal 13.8 anzusehen ist, und schließt sich daher den Patentinhaberinnen an, dass der Gegenstand des Anspruchs 13 gegenüber der Offenbarung der E5 neu ist.
5. Erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes des Anspruchs 1 ausgehend von E12 als nächstliegender Stand der Technik (Artikel 100 a) und 56 EPÜ)
5.1 Die Argumenten der Einsprechenden 1 ausgehend von E12 als nächstliegender Stand der Technik (siehe Punkt
III.2 ihrer Beschwerdebegründung) sind nicht überzeugend, dies bereits deshalb, weil E12 nicht gattungsgemäß ist.
5.2 Wenn man als nächstliegenden Stand der Technik ein Verfahren zur Herstellung eines Flächengebildes auf der Basis einer Papier- oder Kunststofffolienbahn mit einem auf mindestens einer Seitenfläche angebrachten Holzmaserungsdekor wählte, bliebe es immer noch, auch bei einer Weiterentwicklung, bei einem gleichartigen gattungsgemäßen Verfahren und führte daher nicht zu einem Verfahren zur Herstellung einer strukturierten Oberfläche auf einem plattenförmigen Werkstück aus Holzwerkstoff zur Verwendung als Fußbodenbelag oder Möbelteil, wie es gemäß Anspruch 1 vorgesehen ist.
5.3 Denn durch eine bewusste, d.h. in Kenntnis der Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Gattungen getroffene Auswahl wird nicht nur der als Ausgangspunkt dienende Gegenstand festgelegt, sondern auch der Rahmen der Weiterentwicklung vorgegeben, nämlich eine Weiterentwicklung innerhalb dieser Gattung.
Eine Änderung der bewusst gewählten Gattung zu einer anderen, bereits vorher bekannten, aber nicht gewählten anderen Gattung während der Weiterentwicklung könnte dann nur als Folge einer unzulässigen ex post facto-Analyse betrachtet werden (siehe die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage 2019, I.D.3.6, erster Absatz).
5.4 Aus den obigen Gründen kann sich die Kammer ebenfalls der Einsprechenden 1 nicht anschließen, dass es für den Fachmann eine übliche Maßnahme im Rahmen einer gewöhnlichen Entwicklung mit der Kenntnis der E14 sei, das auf Papier- oder Kunststofffolienbahn gerichtet Verfahren der E12 für plattenförmige Werkstücke aus Holzwerkstoff zu verwenden.
Dass, wie von der Einsprechenden 1 argumentiert, die obige erwähnte Rechtsprechung für E12 nicht anwendbar sei, weil zum Zeitpunkt der Anmeldung der E12 das Drücken auf plattenförmige Werkstücke aus Holzwerkstoff noch nicht bekannt war, so dass keine "bereits vorher bekannte, aber nicht gewählte andere Gattung" vorhanden sei, überzeugt nicht. Gemäß Artikel 56 EPÜ in Kombination mit Artikel 54 (2) EPÜ ist die erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes eines Anspruchs zum Zeitpunkt der Anmeldung des Patents zu beurteilen und nicht zum Zeitpunkt der Anmeldung eines Dokuments des Standes der Technik.
5.5 Die Kammer ist daher von der Argumentation der Einsprechenden 1 nicht überzeugt, dass ausgehend von E12 der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht erfinderisch ist.
6. Zulassung ins Verfahren der Dokumente E15 bis E19-3 und der entsprechenden Argumentation der Einsprechenden 1
6.1 Mit Schriftsatz vom 10. Januar 2022, d.h. nach der Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung, hat die Einsprechende 1 als Dokumente E15 bis E19-3 Versuchsergebnisse vorgelegt, um zu beweisen, dass der beanspruchte Gegenstand nicht zu verbesserten Hygieneeigenschaften führte, so dass die von der Einspruchsabteilung angenommene technische Aufgabe ausgehend von E1 umformuliert werden sollte.
6.2 Nach Artikel 12 (3) VOBK 2020 muss die Beschwerdebegründung das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten und nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
6.3 Die Kammer kann der Argumentation der Einsprechenden 1 nicht folgen, dass die Vorlage der Dokumente E15 bis E19-3 keine Änderung ihres Beschwerdevorbringens darstelle, weil bereits in der Beschwerdebegründung von ihr selbst ausdrücklich bestritten wurde, dass das Merkmal 1.10 des Anspruchs 1 eine verbesserte Hygiene erzielte (siehe den Schriftsatz von 10. Januar 2022, Seite 10).
6.4 Es ist zuzustimmen, dass die technische Wirkung der verbesserten Hygieneeigenschaften mit der Beschwerdebegründung bestritten wurde, allerdings wurden die Versuchsergebnis der Dokumenten E15 bis E19-3 und die entsprechende Argumentation nicht vorgelegt. Solche Beweismittel, die früher im Verfahren nicht vorgebracht wurden, stellen eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Einsprechenden 1 dar.
6.5 Ferner kann sich die Kammer der Einsprechenden 1 nicht anschließen, dass die Vorlage der Dokumente E15 bis E19-3 eine gerechtfertigte Reaktion auf die Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 sei.
6.6 Wie von den Patentinhaberinnen argumentiert (siehe Schriftsatz vom 21. Januar 2022, Seite 2, letzter Absatz), wurde die Problematik der verbesserten Hygieneeigenschaften schon im Einspruchsverfahren ausführlich diskutiert und die Einspruchsabteilung wurde von der Argumentation der Einsprechenden 1 nicht überzeugt, so dass sie zu Ungunsten der Einsprechenden 1 entschied, dass "unzweifelhaft [...] das zu lösende Problem jedoch auch die Verbesserung der hygienischen Eigenschaften der mittels des Verfahren nach Anspruch 1 aufgebrachten Dekorschicht (beinhaltet)" (siehe Punkt 42, zweiter Absatz, der Entscheidungsgründe).
6.7 Die Einsprechende 1 hätte daher gemäß Artikel 12 (3) VOBK 2020 bereits mit der Beschwerdebegründung die Dokumente E15 bis E19-3 vorlegen können und sollen, um ihre Argumentation bezüglich der Unrichtigkeit der Entscheidung der Einspruchsabteilung zu stützen.
Dass sich die Kammer in der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 der Einspruchsabteilung und/oder der anderen Partei anschloss, kann jedenfalls weder als überraschend noch als ein zulässiger und rechtfertigender Grund für eine Änderung des Beschwerdevorbringen angesehen werden.
6.8 Da die Vorlage der Dokumente E15 bis E19-3 als eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Einsprechenden 1 zu betrachten ist und die Einsprechende 1 weder stichhaltige Gründe noch außergewöhnlichen Umstände für die verspätete Vorlage dieser Dokumente aufgezeigt hat, werden die Dokumente E15 bis E19-3 und die entsprechende Argumentation der Einsprechenden 1 gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 ins Verfahren nicht zugelassen.
7. Erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes des Anspruchs 1 ausgehend von E1 als nächstliegender Stand der Technik (Artikel 100 a) und 56 EPÜ)
7.1 Die Kammer schließt sich der begründeten Feststellung der Einspruchsabteilung (siehe Punkt 42, zweiter Absatz, zweiter Satz, der Entscheidungsgründe) und der Meinung der Patentinhaberinnen (siehe Seite 13, dritter Absatz, der Beschwerdeerwiderung) an, dass das Merkmal,
"dass die zweite Beschichtung (24) eine negative Oberflächenstruktur bildet, so dass eigentlich als Vertiefungen nachzubildende Oberflächenstrukturen des Holzdekors als Erhebungen ausgebildet sind",
die technische Wirkung einer Verbesserung der Hygieneeigenschaften der Oberflächen bewirkt.
Eine solche technische Wirkung wird auf Seite 6, zweiter Absatz, der ursprünglichen Beschreibung angegeben, indem deutlich gemacht wird, dass sich an den erhabenen Strukturen Verunreinigungen viel schlechter als bei Vertiefungen anlagern können, und dass insbesondere wegen der geringen Größe der Vertiefungen bzw. Poren vertiefte Porenstrukturen sehr schlecht gesäubert werden können.
7.2 Die Kammer schließt sich der Einsprechenden 1 an, dass Dokument E1 zumindest die Merkmalskombination 1.10 des Anspruchs 1 nicht offenbart, nämlich:
"dass die zweite Beschichtung (24) eine negative Oberflächenstruktur bildet, so dass eigentlich als Vertiefungen nachzubildende Oberflächenstrukturen des Holzdekors als Erhebungen ausgebildet sind".
7.3 Ausgehend von der in der Beschreibung ursprünglich angegebenen Aufgabe (siehe Seite 3, vierter Absatz), die für den ursprünglich beanspruchten Gegenstand formuliert wurde, und von der technische Wirkung der obigen Merkmalskombination 1.10, kann die objektive technische Aufgabe formuliert werden, ein Verfahren anzugeben, mit dem in wirtschaftlicher Weise eine Struktur in einer beschichteten Oberfläche auf einem plattenförmigen Werkstück aus Holzwerkstoff zur Verwendung als Fußbodenbelag oder Möbelteil erreicht werden kann, die verbesserte Hygieneeigenschaften aufweist.
7.4 Die Kammer kann sich hingegen nicht der Einsprechenden 1 anschließen, dass die technische Wirkung einer verbesserten Hygiene in seiner vorliegenden Allgemeinheit von der unterscheidenden Merkmalskombination nicht erzielt wird (siehe die die Seiten 19 und 20 der Beschwerdebegründung überbrückende Passage), so dass die zu lösende technische Aufgabe umformuliert werden sollte (siehe Punkt III.1.4 der Beschwerdebegründung).
7.5 Dass man über mögliche hypothetische Realisierungsformen nachdenken könnte, bei denen die erwähnte technische Wirkung nicht erreicht werde, wie Holzoberflächen, bei denen die als Vertiefungen aufzufassende Bereiche nur einen kleinen Anteil an der gesamten Oberfläche besitzen, oder Holzoberflächen, die nur wenige und sehr kleine Poren besitzen (siehe die Beschwerdebegründung, Seite 18, letzter Absatz, - Seite 20, erster Absatz), ist an sich irrelevant, da solche hypothetische Realisierungsformen von einem Fachmann nicht in Betracht gezogen würden.
7.6 Gemäß Artikel 56 EPÜ gilt eine Erfindung als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Der für die erfinderische Tätigkeit relevante Stand der Technik wird in Artikel 54 (2) EPÜ definiert und enthält kein hypothetisches Ausführungsbeispiel.
7.7 Die von der Einsprechenden 1 vorgebrachte Argumentation ist eine bloße Behauptung die nicht durch zulässig vorgelegte Tatsachen und Beweismittel gestützt wird. Die Argumentation konzentriert sich ausschließlich auf Ausführungsformen, die der Fachmann bei der Auslegung von Anspruch 1 und unter Berücksichtigung der Lehre des Patents und des allgemeinen Fachwissens sorgfältig vermeiden würde, da sie technisch nicht sinnvoll wären, und ist deshalb nicht überzeugend.
7.8 Die Kammer ist daher nicht davon überzeugt, dass die Feststellung der Einspruchsabteilung (siehe Punkt 42, zweiter Absatz, zweiter Satz, der Entscheidungsgründe), dass die zu lösende Aufgabe auch die Verbesserung der hygienischen Eigenschaften beinhaltet, nicht korrekt ist.
7.9 Die von der Einsprechenden 1 neu formulierte technische Aufgabe als die Wahl zwischen zwei Alternativen (siehe Punkt III.1.4, III.1.5 und
III.1.5.2 der Beschwerdebegründung) wird folglich als unzutreffend und als Ergebnis einer ex-post-facto-Betrachtung angesehen.
7.10 Der Neuformulierung der zu lösenden Aufgabe ausgehend von E1, die zweite Beschichtung mit reduzierten Lackmenge aufzutragen, ohne die Anmutung einer echten Holzoberfläche zu verschlechtern (siehe Punkt III.1.5.3, erster Absatz der Beschwerdebegründung), sowie der in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Formulierung der Aufgabe, ein Verfahren anzugeben, mit dem in wirtschaftlicher Weise eine verbesserte Struktur erreicht werden kann, wobei Lackmenge gespart werde, können ebenfalls nicht gefolgt werden, weil diese Aufgaben nicht mit einer Verbesserung der Hygieneeigenschaften verknüpft sind bzw. eine solche technische Wirkung nicht berücksichtigen.
7.11 Die entsprechende Argumentation der Einsprechenden 1 (siehe Punkte III.1.5.3, III.1.6 und III.1.7 ihrer Beschwerdebegründung) der fehlenden erfinderischen Tätigkeit braucht daher nicht betrachtet zu werden. Das Gleiche gilt für die in der mündlichen Verhandlung vorgestellte Kombination von E1 mit E2 oder E3.
7.12 Ausgehend vom Verfahren der E1 mit der Zielsetzung, die oben im Punkt 7.3 angegebene technische Aufgabe zu lösen, bekommt der Fachmann aus den im Verfahren vorgelegten Dokumenten, wie insbesondere E2 und E3, keinen Hinweis, das Verfahren der E1 so zu verändern, "dass die zweite Beschichtung eine negative Oberflächenstruktur bildet, so dass eigentlich als Vertiefungen nachzubildende Oberflächenstrukturen des Holzdekors als Erhebungen ausgebildet sind", weil in keinem dieser Dokumente die oben definierte technische Aufgabe erwähnt wird.
7.13 Die Kammer ist daher von der Unrichtigkeit der begründeten Feststellung der Einspruchsabteilung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 ausgehend von E1 erfinderisch ist, nicht überzeugt.
8. Erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes der Ansprüche 13 und 22 (Artikel 100 a) und 56 EPÜ)
Die Parteien bringen für die Ansprüche 13 und 22 die selben Argumente wie für Anspruch 1 vor. Die Kammer sieht keinen Grund, von der Vorgehensweise der Parteien abzuweichen, und ist daher ebenfalls nicht überzeugt, dass die Gegenstände der Ansprüche 13 und 22 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen.
9. Schlussfolgerung
Die Kammer ist im Ergebnis von der Argumentation der Einsprechenden 1 nicht überzeugt, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung, dass das Patent in erteilter Form aufrechterhalten werden kann, unrichtig ist. Die Beschwerde ist daher zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.