T 1751/18 18-11-2020
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BREMSBETÄTIGUNGSEINHEIT
erfinderische Tätigkeit (Hauptantrag: nein; Hilfsantrag 2: ja)
Zulässigkeit (Hilfsantrag 1: nein)
I. Das europäische Patent Nr. 2 744 691 wurde mit der am 9. Mai 2018 zur Post gegebenen Entscheidung der Einspruchsabteilung in geänderter Form aufrechterhalten. Dagegen wurde von der Patentinhaberin und von der Einsprechenden form- und fristgerecht gemäß Artikel 108 EPÜ Beschwerde eingelegt.
II. Es fand am 18 November 2020 eine mündliche Verhandlung statt.
Die Beschwerdeführerin 1 (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents. Die Beschwerdeführerin 2 (Patentinhaberin) beantragte die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent gemäß den Ansprüchen des Hauptantrags hilfsweise das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 bis 7 alle Anträge eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung, oder eines der Hilfsanträge 3a und 4a eingereicht mit Schreiben vom 4. März 2020, aufrechtzuerhalten.
III. Anspruch 1 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
"Bremsbetätigungseinheit (1, 1') für eine Kraftfahrzeugbremsanlage vom Typ "Brake-by-wire" mit
-einem Gehäuse (10),
-einer ersten hydraulischen Zylinder-Kolben-Anordnung mit einem in dem Gehäuse (10) verschiebbar geführten Betätigungskolben, der einen hydraulischen Druckraum begrenzt, an den Radbremsen des Kraftfahrzeugs anschließbar sind, wobei der Betätigungskolben mittels einer Betätigungskräfte übertragenden Druckstange (2) betätigbar ist,
-einer elektrisch steuerbaren Druckbereitstellungseinrichtung (6), welche als eine zweite Zylinder-Kolben-Anordnung (12) ausgeführt ist, deren Kolben durch einen Elektromotor (7) mittels eines Rotations-Translationsgetriebes (9) verschiebbar ist,
und
-einer Ventil-Anordnung (4) mit einer Anzahl von Ventilen (41, 42, 43) zum Einstellen radindividueller Bremsdrücke und zum Trennen oder Verbinden der Radbremsen mit der ersten Zylinder-Kolben-Anordnung (3) oder mit der Druckbereitstellungeinrichtung (6),
wobei die Ventil-Anordnung (4) und die Druckbereitstellungseinrichtung (6) zumindest teilweise innerhalb des Gehäuses (10) angeordnet sind, wobei die Achse des Elektromotors (7) der Druckbereitstellungseinrichtung (6) im Wesentlichen senkrecht zur Längsachse (30) der ersten Zylinder-Kolben-Anordnung angeordnet ist, und die Ventilanordnung (4) auf einer dem Elektromotor (7) entgegengesetzten, zweiten Fläche (21) des Gehäuses (10) angeordnet ist."
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass der Wortlaut "und die Ventilanordnung (4) auf einer dem Elektromotor (7) entgegengesetzten, zweiten Fläche (21) des Gehäuses (10) angeordnet ist" durch folgenden Wortlaut ersetzt wird : "und die Ventilanordnung (4) auf einer dem Elektromotor (7) entgegengesetzten, zweiten Fläche (21) des Gehäuses (10) angeordnet ist, wobei an der dem Elektromotor (7) entgegengesetzten, zweiten Seitenfläche (21) des Gehäuses (10) eine elektronische Steuer-und Regeleinheit (5) mit einem Steuergerätgehäuse (11) angeordnet ist, wobei sich das Steuergerätgehäuse (11) in zumindest einer Richtung über die zweite Seitenfläche (21) hinaus erstreckt, und wobei insbesondere das Steuergerätgehäuse (11) zumindest einen Teil der Ventil-Anordnung (4) bedeckt, wobei an dem Steuergerätgehäuse (11) zumindest ein elektrisches Anschlusselement (17, 18) angeordnet ist, wobei das elektrische Anschlusselement (17, 18) sich benachbart einer dritten, der Druckstange (2) entgegengesetzten Seitenfläche (23) des Gehäuses (10), insbesondere parallel zur Achse des Elektromotors (7), erstreckt".
Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass der Wortlaut "und die Ventilanordnung (4) auf einer dem Elektromotor (7) entgegengesetzten, zweiten Fläche (21) des Gehäuses (10) angeordnet ist" durch den Wortlaut "und die Ventilanordnung (4) auf einer dem Elektromotor (7) entgegengesetzten, zweiten Fläche (21) des Gehäuses (10) angeordnet ist, und der Elektromotor (7) und hydraulische Anschlüsse (14) der Bremsbetätigungseinheit zum Anschließen der Radbremsen an derselben Seitenfläche (20) des Gehäuses (10) angeordnet sind".
IV. Die Patentinhaberin führte aus, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags im Hinblick auf E9 (US-A-2007/0108836) und E1 (DE-A1-10 2009 033 499) auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Insbesondere seien die folgenden Merkmale aus E9 nicht bekannt und für den Fachmann auch nicht naheliegend vgl. Merkmalsgliederung in der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin, Seite 4 ff.: "einer elektrisch steuerbaren Druckbereitstellungseinrichtung (6), welche als eine zweite Zylinder-Kolben-Anordnung (12) ausgeführt ist" (Merkmal D), "deren Kolben durch einen Elektromotor (7) mittels eines Rotations-Translationsgetriebes (9) verschiebbar ist" (Merkmal D.1) und "und die Ventilanordnung (4) auf einer dem Elektromotor (7) entgegengesetzten, zweiten Fläche (21) des Gehäuses (10) angeordnet ist" (Merkmal G). Zudem sei auch das Merkmal wonach "die Achse des Elektromotors (7) der Druckbereitstellungseinrichtung (6) im Wesentlichen senkrecht zur Längsachse (30) der ersten Zylinder-Kolben-Anordnung angeordnet ist" (Merkmal F.1) nicht unmittelbar und eindeutig aus E9 zu entnehmen.
Der Fachmann werde als Pumpe (Druckbereitstellungseinrichtung) in der Bremsbetätigungseinheit gemäß E9 keine Zylinder-Kolben-Anordnung einsetzen, da dem Fachmann eine Vielzahl von Pumpenarten (z.B. Zahnradpumpen, Radialkolbenpumpen) zur Verfügung stünden und zudem eine Pumpe dieser Art zur Anwendung in der Bremsbetätigungseinheit gemäß D9 nicht geeignet sei. Das Merkmal D impliziere eindeutig einen nicht kontinuierlich fördernden Linearaktuator (siehe z.B. E1), während in der Bremseinheit vom Typ "Brake-by-wire" gemäß E9 eine kontinuierlich fördernde Pumpe notwendig sei. E9 offenbare nämlich (da kein separater Bremssimulator vorgesehen sei), dass mittels des Ventils 5 bzw. 13 der Hauptbremszylinder mit dem Druckmittelvorratsbehälter bzw. mit der Pumpe 26 verbunden sei, um einen Gegendruck auf den Hauptbremszylinderkolben zu erzeugen und dem Fahrer damit jederzeit ein realistisches Bremsgefühl zu vermitteln (E9, Figur 1, [0010], [0011]). Folglich könne mit einem Linearaktuator bei längeren Bremsvorgängen kein (mit einem realistischen Bremsgefühl) unterbrechungsfreier Betrieb gewährleistet werden, da sich der Linearaktuator regelmäßig nachladen müsse.
Auch das Merkmal G trage zur erfinderischen Tätigkeit bei, da man aus den schematischen Zeichnungen von E1 bezüglich der Lage der Ventile relativ zum Elektromotor keine klare technische Lehre entnehmen könne, die den Fachmann in naheliegender Weise dazu bringen würde, die Ventilanordnung auf der dem Elektromotor entgegengesetzten Seite des Gehäuses anzuordnen.
Das Dokument E12 ("Service Manual" für Audi 4, 1996-2001) sei im Verfahren vor der Einspruchsabteilung verspätet eingereicht worden. Da es nicht relevant sei, sei die Entscheidung der Einspruchsabteilung, E12 nicht zuzulassen, korrekt.
Der Hilfsantrag 1 sei zulässig, da er rechtzeitig mit der Erwiderung auf die Beschwerde der Einsprechenden eingereicht worden sei und zudem auch als ehemaliger Hilfsantrag 3 im Einspruchsverfahren gestellt worden sei.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrag 2 (entsprechend der Fassung in der das Patent gemäß der angefochtenen Entscheidung in beschränktem Umfang aufrechterhalten wurde) sei für den von E9 ausgehenden Fachmann nicht naheliegend. Insbesondere ergäben sich die Merkmale G (siehe oben) und H (d.h. "und der Elektromotor (7) und hydraulische Anschlüsse (14) der Bremsbetätigungseinheit zum Anschließen der Radbremsen an derselben Seitenfläche (20) des Gehäuses (10) angeordnet sind ") nicht in naheliegender Weise in Verbindung mit dem Fachwissen (z.B. dargestellt durch E12), oder mit E1 oder E4/E4a (JP-A-10329698 mit englischer Übersetzung E4a).
V. Die Einsprechende legte dar, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags im Hinblick auf E9 und das Fachwissen oder jedes der Dokumente E1, E2, E4/E4a, E7 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
Die Entscheidung der Einspruchsabteilung das Dokument
E12 zum Einspruchsverfahren nicht zuzulassen sei irrtümlich, da die Einspruchsabteilung das Kriterium der prima facie Relevanz nicht korrekt angewendet habe. Entsprechend der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern sei ein verspätetes Dokument in das Verfahren zuzulassen, falls dieses auch nur potentiell zu einer Einschränkung des Anspruchsgegenstands oder zum Widerruf des Patents führen könne. Dies sei bei E12 ganz klar der Fall, weil E12 das Merkmal H offenbare.
Der Hilfsantrag 1 dürfe nicht in das Verfahren zugelassen werden, da er bereits hätte im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Hilfsantrag 2 behandelt werden können.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 sei im Hinblick auf E9 und das Fachwissen (dargestellt durch die Dokumente E12, E1, E4/E4a, E3 (DE-A1-102009019802), E7 (DE-A1-102010040097)) oder E9 in Verbindung mit E4/E4a nicht erfinderisch. Das Merkmal G sei im Dokument E9 implizit offenbart (siehe Absatz [0007]), welches insbesondere angebe, dass die "elektronische Kontroll-und Regeleinheit direkt am Ventilblock angeschlossen" ist, "derart dass elektrische, magnetische und thermische Signale und Leistungsübertragungen ohne die Verwendung von Leitungen stattfinden" ("the electronic control and regulation unit is attached directly to the valve block, in such a manner that electrical, and thermal signal and power transmissions occur without the use of lines"). Diese technische Lehre ergebe für das Anbringen der Ventilanordnung, in Verbindung mit der in Figur 2 von E9 gezeigten Struktur des Gehäuses der Bremsbetätigungseinheit, unmittelbar und notwendig dass die Ventilanordnung an der Trennfläche zwischen Steuereinheit 14 und Ventilblock 16 positioniert sei, d.h. an der dem Elektromotor entgegengesetzten Seite des Ventilblocks (wie aus der Figur 2 ersichtlich). Alternativ sei für den Fachmann das Anbringen der Ventilanordnung direkt an der Steuereinheit auch in naheliegender Weise aus E1 oder E4/E4a zu entnehmen, oder auch aus dem allgemeinen Fachwissen, da es viel aufwendiger sei, durch den Ventilblock verlaufende längere elektrische Leitungen vorzusehen.
Das Merkmal H des Anspruchs 1 könne auch nicht zur erfinderischen Tätigkeit beitragen. Insbesondere werde der Fachmann die jeweilige Einbausituation im Kraftfahrzeug berücksichtigen und die Bremsbetätigungseinheit, besonders in Fahrtrichtung, kompakter machen wollen (siehe Patentschrift (nachfolgend als EP-B bezeichnet), [0003], [0009]). Dabei habe der Fachmann im Hinblick auf die Konfiguration der Bremsbetätigungseinheit gemäß E9
(Figur 2) keine andere Möglichkeit als diejenige, die hydraulischen Anschlüssen für die Radbremsen an derselben Seitenfläche des Gehäuses anzubringen, wo der Elektromotor angeordnet ist. Dies aus dem Grunde, dass an der oberen Seitenfläche bereits das Hydraulikflüssigkeitsreservoir 6 angeordnet sei, die untere Seitenfläche nur schwer zugänglich sei, und an der gegenüberliegenden Fläche vom Elektromotor bereits die Steuer- und Regelungseinheit 14 angeordnet sei. Das Anbringen dieser hydraulischen Radbremsanschlüsse auf derselben Seite des Gehäuses wo der Elektromotor steht, sei auch aus dem allgemeinen Fachwissen bekannt, wie durch E12 dokumentiert werde. Andere Anbringungsmöglichkeiten seien ebenfalls aus dem Fachwissen bekannt, wie z.B. an der oberen Seitenfläche des Gehäuses (siehe z.B. E3), oder an der dem Elektromotor gegenüberliegenden Seitenfläche (siehe z.B. E4/E4a), wobei in E4/E4a zusätzlich der Hinweis zu finden sei, dass prinzipiell jede Seitenfläche des Gehäuses für das Anordnen der hydraulischen Radbremsanschlüsse in Frage komme (siehe E4a, [0024]). Der Fachmann werde folglich in naheliegender Weise im Hinblick auf die Konfiguration des Gehäuses E9 und das Fachwissen, sowie im Hinblick auf die genannten Hinweise aus dem Stand der Technik und die gestellte Aufgabe, die besagten hydraulischen Radbremsanschlüsse entsprechend Merkmal H anordnen.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags ist für den von E9 ausgehenden Fachmann durch E1 und das Fachwissen nahegelegt (Artikel 56 EPÜ).
Zunächst stellt die Kammer fest, dass sich der Gegenstand von Anspruch 1 von der Bremseinheit gemäß E9 durch die Merkmale D, D.1 und G unterscheidet (siehe oben Punkt IV; bzw. vgl. Merkmalsgliederung in der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin, Seite 4 ff).
Merkmal G (entgegen der Auffassung der Einsprechenden) wird nicht in E9 (siehe [0007]) offenbart, da aus der Offenbarung von E9 (unter Berücksichtigung der Figuren) nicht unmissverständlich und eindeutig hervorgeht dass z.B. die Ventilanordnung nur an der in Figur 2 zwischen der Steuereinheit 14 und dem Ventilblock 16 dargestellten Trennfläche angebracht werden kann; insbesondere können weitere, aus der Perspektive von Figur 2 (und aus den anderen Figuren) nicht erkennbare Trennflächen existieren. Entgegen der Meinung der Patentinhaberin entnimmt dagegen der Fachmann eindeutig das Merkmal F.1 aus E9 (Figur 2), da die Achse des Elektromotors 21 mit der Achse des zylinderförmigen Gehäuses 21 des Elektromotors zusammenfällt.
Aus den folgenden Gründen können die Merkmale D, D.1 und G keine erfinderische Tätigkeit begründen.
Der Fachmann würde in naheliegender Weise in der aus E9 bekannten Vorrichtung als hydraulische Pumpe eine "Zylinder-Kolben-Anordnung" verwenden, die in mehreren bekannten Bremsbetätigungseinheiten eingesetzt wird, so z.B. in E1 (aber auch in E2 und E7), da eine solche Pumpe einen kompakten und relativ einfachen Aufbau aufweist und gleichzeitig im Stande ist einen hohen hydraulischen Druck zu liefern. Der Wortlaut des Merkmals D/D.1 im Kontext des Anspruchs 1 erfordert jedoch in keiner Weise (entgegen der Auffassung der Patentinhaberin) speziell die Verwendung eines (nicht kontinuierlich fördernden) Linearaktuators (wie in E1 gezeigt), da der Begriff Zylinder-Kolben-Anordnung alle Kolbenpumpen mit einem Zylindergehäuse umfasst.
Somit, selbst im Falle (quod non), dass der Betrieb der Bremsbetätigungseinheit gemäß E9 eine kontinuierlich fördernde Pumpe erfordern sollte (wie von der Patentinhaberin behauptet), wäre für den Fachmann, angeregt durch E1 (und den weiteren genannten Stand der Technik), auch das Einsetzen einer gegenläufigen Doppelzylinderpumpe, die zum allgemeinen Fachwissen gehört und kontinuierlich zu fördern in der Lage ist, naheliegend. Eine solche Pumpe stellt zweifellos auch eine "Zylinder-Kolben-Anordnung" dar.
Im Übrigen sind die Ausführungen der Patentinhaberin zu Merkmal D aus mehreren Gründen nicht überzeugend und nicht plausibel, da : a) bei längeren Bremsvorgängen (mit zahlreichen Regeleingriffen) jede Brems- Steuerung oder Regelung mit einem Linearaktuator notwendig in der Lage sein muss, den Kolben zurückzufahren und neue Bremsflüssigkeit für die Bremszylinder anzusaugen, folglich kann auch der Druck für den Bremssimulator zur Verfügung gestellt werden; b) z.B. E1 gerade zeigt, dass dies möglich ist, denn gemäß E1 ist der Bremssimulator (siehe Feder 19) auch im Hauptbremszylinder (wie auch in E9 gezeigt) integriert und stützt sich auf den Rückhaltekolben 18 ab, der mit Pumpendruck (aus dem nicht kontinuierlich fördernden Linearaktuator bzw. Zylinder-Kolben-Pumpe 3) ständig gegen die Betätigungsrichtung beaufschlagt wird (siehe Kammer 23) (siehe z.B. E1, Anspruch 1).
Merkmal D.1 ergibt sich für den Fachmann unmittelbar aus der Tatsache, dass die Rotationsbewegung des Elektromotors mechanisch in eine Linearbewegung zur Kopplung mit der Zylinder-Kolben-Anordnung umgesetzt werden muss. Zusätzlich ist dieses Merkmal explizit in E1 offenbart (E1, [0022]).
Merkmal G wird bereits durch E9 nahegelegt, da Absatz ([0007]) klar angibt, dass die Steuer- und Regeleinheit direkt am Ventilblock angebracht ist, ohne elektrische Leitungen zu verwenden. Dies wird auch von E1 gezeigt (siehe Figur 3), weil (entgegen der Auffassung der Patentinhaberinhaberin) aus technischen Zeichnungen sehr wohl prinzipielle und grundsätzliche Aspekte hinsichtlich der Bauweise einer Vorrichtung zu entnehmen sind, selbst wenn diese Zeichnungen nicht maßstabsgetreu sind. Der von E9 ausgehende Fachmann würde in seinem Bestreben die Konstruktion kompakter zu machen und zu vereinfachen, und um den Aufwand zu minimieren diesen Hinweisen ohne weiteres folgen. Demnach würde der Fachmann entsprechend der in Figur 2 gezeigten Gehäusekonfiguration in naheliegender Weise die Ventilanordnung an der vertikalen Trennfläche zwischen dem Ventilgehäuse 16 und der Steuereinheit 14 anbringen, wobei diese Trennfläche, wie in Figur 2 gezeigt, auf einer dem Elektromotor gegenüber liegenden Seite liegt. Damit ist auch Merkmal G erfüllt.
3. Der Hilfsantrag 1, vorgelegt mit der Erwiderung auf die Beschwerde der Einsprechenden wird nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen (Artikel 12(4) VOBK 2007 (Verfahrensordnung der Beschwerdekammern)).
Artikel 12 (4) VOBK räumt der Kammer ein Ermessen ein, Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können.
Im Verfahren vor der Einspruchsabteilung wurden der Hauptantrag (eingereicht am 15. November 2016) und die Hilfsanträge 1 und 2 (beide eingereicht am 18. Dezember 2017) diskutiert, die auch Gegenstand der Entscheidung der Einspruchsabteilung sind.
Der vorliegende Hilfsantrag 1 ist im Wesentlichen identisch mit dem am 18. Dezember 2017 eingereichten Hilfsantrag 3 im Verfahren vor der Einspruchsabteilung, der dort aber nicht diskutiert wurde, weil der höherrangige Hilfsantrag 2 die Grundlage für die aufrechterhaltene Fassung bildet.
Nach der Auffassung der Beschwerdekammer stellt der neue Hilfsantrag 1 ein neues Vorbringen dar, welches bereits im Einspruchsverfahren veranlasst war:
So definieren die den Anspruch 1 des Hauptantrags weiter einschränkenden Merkmale des Anspruchs 1 von Hilfsantrag 1 aus dem Verfahren vor der Einspruchsabteilung die Lage der zweiten Zylinder-Kolbenanordnung, die des Hilfsantrags 2 (also der aufrechterhaltenen Fassung) die Lage der hydraulischen Anschlüsse.
Der nun vorliegende Hilfsantrag 1 indes setzt sich mit einer elektronischen Steuer- und Regeleinheit mit einem Steuergehäuse und dessen Anordnung auseinander.
Somit weist der Hilfsantrag 1 zusätzliche Merkmale auf, die mit den zusätzlichen Merkmalen des vormaligen Hilfsantrags 1 oder 2 nichts Gemeinsames haben.
Das hätte zur Folge, dass sich die Kammer das erste Mal im Beschwerdeverfahren mit einem neuen technischen Gegenstand auseinander zu setzen hätte, was dem grundsätzlichen Charakter des Beschwerdeverfahrens als Überprüfungsverfahren widerspricht. Es wird auch festgestellt, dass der Hilfsantrag 1 mit diesem neuen technischen Gegenstand insbesondere nicht als Antwort auf unerwartete oder überraschende, während der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente der Einsprechenden oder der Einspruchsabteilung eingereicht wurde, was die Patentinhaberin auch nicht behauptet hat.
Da es im Rahmen der Dispositionsfreiheit der Patentinhaberin liegt, welche Anträge - und damit welcher technische Gegenstand - letztlich im Verfahren vor der Einspruchsabteilung behandelt werden, hätte unter den gegebenen Umständen der seinerzeitige Hilfsantrag 3 der Einspruchsabteilung vorgelegt werden können.
4. Die Einspruchabteilung hat bei der Nichtzulassung des Dokuments E12 ihr Ermessen korrekt ausgeübt.
Gemäß der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist es bei einer angefochtenen Ermessensentscheidung der ersten Instanz nicht Aufgabe der Beschwerdekammern, die Sachlage nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in der selben Weise ausgeübt hätte. Die Beschwerdekammer soll sich dabei nur dann über die Art und Weise in der die erste Instanz bei einer Entscheidung ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt und damit ihr eingeräumtes Ermessen überschritten hat, vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage, V.A.3.5.1 b)
Zunächst ist festzustellen, dass die Einsprechende (Beschwerdeführerin 1) nicht vorgebracht hat, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat.
Auch die Kammer ist der Auffassung, dass das gewählte Kriterium der prima facie Relevanz im Einklang mit der etablierten Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist. Dabei hat sie in nicht willkürlicher Weise geprüft, ob die Kombination von E9 mit E12 die erfinderische Tätigkeit in Frage stellen könnte.
Insbesondere ist (entgegen der Auffassung der Einsprechenden) das Vorhandensein des Merkmals H (siehe oben) in E12 allein nicht entscheidend für das Bejahen der Frage der Relevanz von E12, da bei der Frage der erfinderischen Tätigkeit mehrere Faktoren ausschlaggebend sind, z.B. inwiefern der Fachmann die Kombination von E9 und E12 in Betracht ziehen würde und inwiefern sich prima facie diese potentielle Kombination aus der Argumentation der Einsprechenden in überzeugender Weise ergibt.
Folglich, da die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Nichtzulassung des Dokuments E12 nicht rechtsfehlerhaft war, sieht auch die Beschwerdekammer keinen Grund dieses Dokument zum Beschwerdeverfahren zuzulassen, Artikel 12 (4) VOBK.
5. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 wird im Hinblick auf E9 und das Fachwissen (dargestellt durch die Dokumente E12, E1, E4/E4a, E3, E7) oder auf E9 in Verbindung mit E4/E4a nicht nahegelegt (Artikel 56 EPÜ).
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich von der bekannten Bremsbetätigungseinheit gemäß E9 durch die Merkmale D,D.1,G und H.
Die Kombination der Merkmale G und H ergibt sich für den von E9 ausgehenden Fachmann nicht in naheliegender Weise. Der Fachmann würde zwar (siehe obige Ausführungen) in naheliegender Weise die Merkmalen D, D.1 und G in der Vorrichtung gemäß E9 implementieren, nicht jedoch zusätzlich auch das weitere Merkmal H.
Hierzu wird festgestellt, dass selbst in der Annahme, wie von der Einsprechenden behauptet, dass die Dokumente E12, E1, E4/E4a, E3, E7 zum allgemeinen Fachwissen gehören, keines dieser Dokumente die Kombination der Merkmale G und H zeigt oder auch nur nahelegt. Tatsächlich, ist anscheinend z.B. aus E12 zu entnehmen, dass die Radbremsanschlüsse auf derselben Seite des Gehäuses wie der Elektromotor liegen, aber nicht wo die Ventilanordnung positioniert ist, die nicht gezeigt ist; aus E1 (Figur 3) und E7 (eine einzige Figur) ist nur zu entnehmen, dass die Radbremsanschlüsse auf derselben Seite liegen wie die Ventilanordnung (siehe Figur 3) und auch nicht, dass der Elektromotor auf der der Ventilanordnung gegenüberliegenden Seite angebracht ist; aus E3 ist nur zu entnehmen, dass die Radbremsanschlüsse 17 an der oberen Seite des Gehäuses (nicht dort wo der Elektromotor steht) angebracht sind und es ist auch nicht klar und eindeutig zu entnehmen wo die Ventilanordnung eingebaut ist; aus E4/E4a ist zu entnehmen, dass die Ventilanordnung auf derselben Seite wie die Radbremsanschlüsse eingebaut ist, und der Elektromotor auf der entgegengesetzten Seite.
Insgesamt würde also der Fachmann aus diesem Stand der Technik eindeutig die Lehre entnehmen, dass die Radbremsanschlüsse möglichst in der Nähe der Ventilanordnung anzuordnen sind, und insbesondere dass falls die Ventilanordnung auf einer Seite des Gehäuses angebracht ist, die Radbremsanschlüsse möglichst auf derselben Seite positioniert sind (siehe E1, E7, E4/E4a). Dies ist technisch auch sinnvoll, weil man längere hydraulische Leitungsverbindungen durch den Ventilblock vermeiden möchte. Weiterhin zeigt E3 weder Merkmal G noch Merkmal H, und E12 zeigt nur Merkmal H, somit geben diese Dokumente dem Fachmann keine Hinweise dahingehend, die Merkmale G und H gleichzeitig zu implementieren, und würden den Fachmann auch nicht dazu anregen.
Folglich würde der Fachmann vor der gestellten Aufgabe gemäß EP-B, die Bremsbetätigungseinheit kompakter (besonders in Fahrtrichtung) zu gestalten, ausgehend von der Figur 2 in E9, nicht in naheliegender Weise die Radbremsanschlüsse an derselben Seite wie der Elektromotor anbringen, sondern eher an der gegenüberliegenden Seite, wo sich die Ventilanordnung und die Steuereinheit 14 befinden (die Steuereinheit, genauso wie der Elektromotor, nimmt nicht notwendigerweise die Gesamtheit einer Seitenfläche ein). Diese Lösung ist z.B. klar in E4/E4a gezeigt (Figuren 1,2). Die Lösung gemäß Merkmal G und H hat gegenüber der in Figur 2 von E9 gezeigten Anbringung der Radbremsanschlüsse (an der Frontseite des Gehäuses d.h. in Fahrtrichtung) nicht nur den Vorteil die Länge der Vorrichtung in Fahrtrichtung zu reduzieren, sondern auch den Vorteil (wie von der Patentinhaberin argumentiert) bei der Herstellung des Ventilblocks mindestens eine Querbohrung weniger erforderlich zu machen. Gegenüber der besagten naheliegenden Lösung (bei der die Radbremsanschlüsse an derselben Seite wie die Ventilanordnung angeordnet sind) hat die Lösung gemäß den Merkmalen G und H den Vorteil, dass es das Anbringen einer größeren Anzahl von Ventilen an der dem Elektromotor gegenüberliegenden Seite erlaubt, da dort keine Radbremsanschlüsse angebracht werden müssen.
Insgesamt ergibt sich aus den genannten Gründen, dass sich der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 im Hinblick auf E9 und das Fachwissen (einschließlich E12), sowie auf jedes der Dokumente E1, E4/E4a, E3 und E7, nicht in naheliegender Weise ergibt.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Beide Beschwerden werden zurückgewiesen.