T 2397/18 07-05-2021
Download und weitere Informationen:
MÖBEL MIT SENSOREINRICHTUNG
Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag II (ja)
Erfinderische Tätigkeit - nicht naheliegende Alternative
Änderungen - unzulässige Erweiterung
Änderungen - Hilfsantrag II (nein)
Änderung des Beschwerdevorbringens - Hauptantrag und Hilfsantrag I
Änderung des Beschwerdevorbringens - Änderung räumt aufgeworfene Fragen aus (nein)
I. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung ein, die Patentanmeldung zurückzuweisen.
II. Die Prüfungsabteilung hatte entschieden, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 in der seinerzeit geltenden Fassung nicht neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ sei gegenüber dem Dokument
D6 WO 2005/079630.
III. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
IV. Die Beschwerdeführerin beantragte, die Entscheidung über die Zurückweisung aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage des Hauptantrags bzw. der Hilfsanträge I oder II, eingereicht mit Schreiben vom 22. Februar 2021, zu erteilen.
V. Der unabhängige Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Möbel (1) mit einem Möbelkorpus (2), mit einer Schublade (3) und mit einer Sensoreinrichtung (4), wobei die Schublade (3) eine Rückwand (3c), eine Seitenwand (3b) und eine Frontblende (3a) ausweist und wobei die Schublade (3) am Möbelkorpus (2) verschiebbar gelagert ist, wobei der Möbelkorpus (2) Wandelemente (2a, 2b, 2c, 2d) aufweist, die den Möbelkorpus (2) seitlich begrenzen, wobei die Sensoreinrichtung (4) eine Elektrodenanordnung (6) umfasst, und dass die Sensoreinrichtung (4) eine Erfassungseinheit umfasst, mit der mittels einer erfassten Veränderung des elektrischen Feldes (5) eine Position eines Körpers im Umgebungsbereich des Möbels (1) bestimmbar ist, wobei die Elektrodenanordnung (6) am Möbelkorpus (2) des Möbels (1) derart angeordnet ist, dass mit der Elektrodenanordnung (6) mit oder ohne Berührung der Elektrodenanordnung bzw. des Möbels (1) Veränderungen eines elektrischen Feldes (5) im Umgebungsbereich erfassbar sind, wobei der Umgebungsbereich vor einer der frontseitigen Stirnseiten (2f, 2h, 2g, 2e) der Wandelemente (2a, 2b, 2c, 2d) des Möbelkorpus (2) gelegen ist, wobei die Sensoreinrichtung (4) in einer Ebene liegt, die durch frontseitige Stirnseiten (2g, 2e) der Wandelemente (2a, 2c) definiert wird, dadurch gekennzeichnet, dass an einem der Wandelemente (2a, 2c) des Möbelkorpus (2) die Sensoreinrichtung (4) angebracht ist."
Der unabhängige Anspruch 1 des Hilfsantrags I verlangt zusätzlich zum Hauptantrag das folgende Merkmal:
"wobei die Frontblende (3a) der Schublade (3) Stirnseiten (2e, 2f, 2g, 2h) der Wandelemente (2a, 2b, 2c, 2d) überdeckt".
Der unabhängige Anspruch 1 des Hilfsantrags II verlangt zusätzlich zum Hilfsantrag I das folgende Merkmal:
"wobei an einer überdeckten Stirnseite (2e, 2f, 2g, 2h) eines Wandelements (2a, 2b, 2c, 2d) die Sensoreinrichtung (4) angebracht ist".
VI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Die Vorlage des Hauptantrags, sowie der Hilfsanträge I und II stellt eine Reaktion auf das Vorbringen der Kammer dar, so dass alle drei Anträge zum Verfahren zuzulassen seien.
b) Der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche sei in der Figur 1 gezeigt und auf Seite 8 der ursprünglich eingereichten Beschreibung beschrieben worden, so dass die am Wortlaut der Ansprüche vorgenommenen Änderungen in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen offenbart worden seien.
c) Der beanspruchte Gegenstand sei sowohl neu gegenüber D6, als auch von D6 ausgehend nicht nahegelegt.
Hauptantrag und Hilfsantrag I
Zulassung zum Verfahren (Artikel 15(1) VOBK 2020)
1. Sowohl der Anspruchssatz gemäß Hauptantrag als auch Hilfsantrag I wurden von der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 22. Februar 2021 vorgelegt. Die Vorlage erfolgte somit erst nach der Mitteilung der Beschwerdekammer in Verbindung mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung gemäß Artikel 15(1) VOBK am 7. September 2020, so dass die Zulassung dieser Anträge nach Artikel 13(1) VOBK 2020 im Ermessen der Kammer lag.
1.1 Die Anträge sollten Einwände unter Artikel 56 und 123(2) EPÜ beheben, die von der Kammer erstmals in Mitteilungen gemäß Regel 100(2) EPÜ vom 14. Januar 2020 (Punkt 3: Artikel 123(2) EPÜ) bzw. vom 30. Juni 2020 (Punkt 5: Artikel 56 EPÜ) - und damit noch vor der Ladung zur mündlichen Verhandlung - aufgeworfen wurden. Die Vorlage erfolgte somit nicht in direkter Reaktion auf die erhobenen Einwände.
1.2 Beide Anträge beheben zudem nicht vollumfänglich alle von der Kammer aufgeworfenen Mängel, insbesondere nicht den Mangel unter Artikel 123(2) EPÜ (siehe hierzu die Ausführungen zum Hilfsantrag II in Hinblick auf die Frage der ursprünglichen Offenbarung).
1.3 Daher wurden weder der Hauptantrag, noch der Hilfsantrag I zum Verfahren zugelassen.
Hilfsantrag II
Änderungen (Artikel 123(2) EPÜ)
2. Der Gegenstand des Hilfsantrags II wurde in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen offenbart.
2.1 Anspruch 1 des Hilfsantrags II beruht auf einer Kombination der ursprünglich eingereichten Ansprüche 1 und 9, ergänzt durch die Beschreibung des Ausführungsbeispiels auf Seite 8 der ursprünglich eingereichten Beschreibung sowie der figürlichen Darstellung in Figur 1.
2.2 Auf Seite 8 der Beschreibung wird unmittelbar nach der Figurenbeschreibung ausgeführt, dass das in Figur 1 dargestellte Möbel eine Schublade aufweist, die in dem von Wandelementen 2a, 2b, 2c und 2d gebildeten Möbelkorpus verschiebbar gelagert ist. Das Sensorelement 4 ist dabei an einem der Wandelemente so angebracht, das es in einer Ebene der frontseitigen Stirnseiten 2e, 2f, 2g, 2h der Wandelemente des Möbelkorpus liegt.
2.3 In besagtem Abschnitt der Beschreibung wird zudem der folgende Satz genannt:
"Von der Schublade 3 sind neben einer Rückwand 3c und einer Seitenwand 3b eine Frontblende 3a dargestellt, die beispielsweise Stirnseiten 2e, 2f, 2g, 2h der Wandelemente 2a, 2b, 2c, 2d überdecken können."
2.4 Abgesehen von der Tatsache, dass im untergeordneten Nebensatz das Subjekt "Frontblende" im Singular offensichtlich nicht zum Verb "überdecken können" im Plural passt, ist der von diesem Satz offenbarte Sachverhalt nicht unmittelbar und eindeutig ermittelbar. Es bleibt zweifelhaft, auf was sich das Wort "beispielsweise" bezieht.
a) Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass durch das Wort "beispielsweise" verdeutlicht würde, dass die Frontblende nicht zwingend die Stirnseiten 2e, 2f, 2g, 2h der Wandelemente überdecken müsse, sondern auch keine der Stirnseiten überdeckt sein könne.
b) Die Kammer sieht diese Deutung aber nicht als eindeutig offenbart an, da in diesem Verständnis der Passage entweder alle Stirnseiten des Möbelkorpus von der Frontblende der Schublade überdeckt sein müssten oder keine der Stirnseiten. Eine Wahl von nur eines Teils der Stirnseiten wäre dann nicht möglich. Dies würde dann aber sprachlich der Position des Wortes "beispielsweise" im Satz widersprechen.
c) Aus Sicht der Kammer kann man die Passage auch dahingehend verstehen, dass nicht alle Stirnseiten gleichzeitig überdeckt sein müssen, sondern eine Auswahl aus einer Anzahl möglicher Stirnseiten 2e, 2f, 2g und 2h getroffen werden kann.
2.5 Maßgeblich für die Bestimmung des Offenbarungsgehalts ist jedoch, was der Fachmann beim Lesen der Passage im Gesamtzusammenhang der restlichen Anmeldeunterlagen verstehen würde.
a) Bereits der Begriff "Blende" signalisiert dem Leser der Anmeldung dabei, dass die Frontblende etwas überdecken (im Sinne von verblenden) muss, da sonst nur von einer "Schubladenfront" die Rede wäre. Dabei kann es sich bei der Frontblende nicht um eine Verblendung der vorderen Wand der Schublade handeln, da in der besagten Passage auf Seite 8 die Schublade neben der Frontblende nur noch eine Rückwand und Seitenwände aufweisen soll ? von einer Frontwand ist keine Rede. Das zu überdeckte Bauteil kann daher im Verständnis der Kammer mangels Alternativen nur der Möbelkorpus und damit die in oben zitiertem Satz die Stirnseiten 2e, 2f, 2g, 2h der Wandelemente 2a, 2b, 2c, 2d sein.
b) Dabei würde der fachkundige Leser die Passage dahingehend verstehen, dass zwar mehrere Stirnseiten der Wandelement von der Frontblende überdeckt werden, aber fakultativ nicht alle Stirnseiten der Wandelemente von der Frontblende überdeckt sein müssen, wobei die überdeckten Stirnseiten aus der Aufzählung "2e, 2f, 2g, 2h" gewählt werden können. Das Wort "beispielsweise" ist daher kein Ausdruck dafür, ob etwas überdeckt ist oder nicht, sondern bezieht sich darauf, was überdeckt ist, d. h. welche der Stirnseiten 2e, 2f, 2g, 2h.
2.6 Zudem wird aber durch den unmittelbar auf die besagte Passage folgenden Satz "Am Wandelement 2c ist ein Sensorelement 4 angebracht, ..." klar, dass das den Sensor aufweisende Wandelement eines der überdeckten Wandelemente sein muss.
2.7 Der Anspruch 1 muss daher zwingend die Merkmale "Frontblende der Schublade überdeckt Stirnseiten der Wandelement mit daran angeordneter Sensoreinrichtung" und "an einer überdeckten Stirnseite eines Wandelements ist die Sensoreinrichtung angebracht" aufweisen.
2.8 Nachdem Anspruch 1 des Hilfsantrags II beide Merkmale aufweist, erfüllt der Hilfsantrag II die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ. Der Hauptantrag und Hilfsantrag I weisen jedoch nicht beide Merkmale auf, so dass sie nicht den Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ entsprechen.
Neuheit (Artikel 54 EPÜ) und erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)
3. Weder das im Zurückweisungsbeschluss der Prüfungsabteilung noch neuheitsschädlich angesehene Dokument D6, noch ein anderes sich im Verfahren befindliches Dokument zeigt einen am Möbelkorpus eines Möbels mit Schubladen befestigten Sensor, so dass der Gegenstand des Anspruchs 1 zweifelsfrei neu ist (Artikel 54 EPÜ).
4. Nachdem das Dokument D6 als einziges Dokument im von der Vorinstanz ermittelten Stand der Technik ein Möbel mit Schublade und mit Sensor zeigt, stellt D6 den nächstkommenden Stand der Technik dar.
4.1 In D6 sind an jeder Schubladenfront ein Aktivierungssensor oder -schalter (1, 2, 3), sowie eine Sensoreinrichtung (5) angebracht. Der Aktivierungssensor (3) ist in der Ausgestaltung gemäß Seite 6, Zeile 30 der Beschreibung ein Infrarotsensor, der als Sensoreinrichtung im Sinne der vorliegenden Anmeldung verstanden werden kann.
4.2 Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich daher von dem aus D6 bekannten Möbel dahingehend, dass
- die Sensoreinrichtung an einem der Wandelemente des Möbelkorpus angebracht ist,
- wobei die Frontblende der Schublade Stirnseiten der Wandelemente mit daran angeordneter Sensoreinrichtung überdeckt,
- wobei an einer überdeckten Stirnseite eines Wandelements die Sensoreinrichtung angebracht ist.
4.3 Ausgehend von D6 stellt sich die Frage, ob der Fachmann die auf der Front der Schublade angeordneten Sensoren (oder zumindest einen davon) auf den Korpus verschieben würde.
a) Die Sensoreinrichtung (5) würde der Fachmann dabei nicht verschieben, da diese dazu nötig ist, die Schublade der Hand des Benutzers folgend zu bewegen. Die Sensoreinrichtung (5) misst somit den Abstand zur Hand und steuert die Schublade so, dass dieser Abstand immer gleich bleibt. Ein Verschieben der Sensoreinrichtung auf den Korpus hätte zur Folge, dass das Regelprinzip der Position der Schublade zusätzlich modifiziert werden müsste, da zusätzlich dann auch die Position der Schublade erfasst werden müsste.
b) Doch auch den Aktivierungssensor (3) würde der Fachmann nicht auf den Korpus verschieben, da er hierfür eine zusätzliche Verkabelung vom Antrieb der Schublade zum Sensor am Korpus vorsehen müsste. Solange beide Sensoren auf der Schubladenfront angebracht sind, reicht dagegen nur eine Verkabelung zwischen Schubladenfront und dem Schubladenantrieb.
4.4 Daher wird das Konzept, die Sensoreinrichtung an einem der überdeckten Wandelement des Möbelkorpus anzubringen nicht durch den sich im Verfahren befindlichen Stand der Technik nahegelegt.
5. Die Kammer konnte auch keine anderen Mängel im Anspruchssatz des Hilfsantrags II erkennen, so dass dieser die Grundlage einer Patenterteilung bilden kann.
Anpassung der Beschreibung (Regel 42(1) EPÜ)
6. Die der Kammer vorliegende Beschreibung (Seiten 1, 3-4 eingereicht mit Schreiben vom 31. Juli 2020, sowie Seite 2 eingereicht mit Schreiben vom 22. Februar 2021) enthielt auf Seite 6, zweiter Absatz der Beschreibung, sowie in dem die Beschreibungsseiten 8 und 9 überbrückenden Absatz Formulierungen, die möglicherweise im Widerspruch zu Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag II stehen.
6.1 Insbesondere scheint es der Wortlaut des Anspruchs nicht zuzulassen, dass die Sensoreinrichtung an beliebiger Stelle der Seitenwand und auch nicht an Deckenplatte oder Bodenplatte angeordnet werden kann, sondern nur an der Stirnseite eines Wandelements, das von der Frontblende überdeckt wird.
6.2 Nachdem während der mündlichen Verhandlung von der Kammer auf diese möglichen Widersprüche hingewiesen wurde, stellte es sich heraus, dass hierzu noch zusätzlicher Diskussionsbedarf bestand. Aus diesem Grund entschied die Kammer, die Sache an die erste Instanz zurückzuweisen, um die Frage der Anpassung der Beschreibung zumindest zuerst im schriftlichen Verfahren zu prüfen und der Anmelderin ggf. die Möglichkeit auf eine Prüfung vor zwei Instanzen zu gewähren.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent mit Ansprüchen 1 bis 10 des Hilfsantrags II, wie mit Schreiben vom 22. Februar 2021 eingereicht, und einer noch anzupassenden Beschreibung zu erteilen.