T 2772/18 17-03-2022
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BESCHICHTUNGSZUSAMMENSETZUNG ZUM ABDICHTEN VON OBERFLÄCHEN
Henkel AG & Co. KGaA
Sika Technology AG
I. Die vorliegende Entscheidung betrifft die Beschwerde der Einsprechenden 2 (Beschwerdeführerin) gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung (angefochtene Entscheidung), wonach das europäische Patent Nr. 2 561 024 (Streitpatent) in geänderter Fassung den Erfordernissen des EPÜ genügt.
II. Das folgende Dokument aus dem Verfahren vor der Einspruchsabteilung ist für die vorliegende Entscheidung relevant:
D2 EP 2 135 852 A1
Im Folgenden wird auch Bezug genommen auf die Vergleichsbeispiele V3 und V4, eingereicht von der Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) mit Schriftsatz vom 1. August 2017.
III. Die angefochtene Entscheidung basiert auf einem Hauptantrag. Dessen Anspruchssatz wurde von der Beschwerdegegnerin mit Schriftsatz vom 1. August 2017 eingereicht. Die angefochtene Entscheidung lässt sich soweit vorliegend relevant folgendermaßen zusammenfassen.
Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags unterscheide sich von der Offenbarung des nächstliegenden Standes der Technik D2 durch eine zweimalige Auswahl. Ein Vergleich von Beispiel 3 des Streitpatents mit den Vergleichsbeispielen V3 und V4 belege den technischen Effekt einer erhöhten Reißdehnung der ausgehärteten Dichtmasse. Die Lösung der auf diesem Effekt basierenden objektiven technischen Aufgabe sei nicht naheliegend. Der Hauptantrag sei mithin gewährbar.
IV. Mit der Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin den Versuchsbericht D9 ein.
V. In Vorbereitung der auf Antrag der Beschwerdeführerin anberaumten mündlichen Verhandlung erließ die Kammer eine Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020.
VI. Mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2021 kündigte die Einsprechende 1 an, dass sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde.
VII. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 17. März 2022 in Anwesenheit der Beschwerdeführerin und der Beschwerdegegnerin als Videokonferenz statt. Die Beschwerdeführerin verfolgte zunächst den von der Einspruchsabteilung für gewährbar befundenen Antrag als Hauptantrag. Später erklärte sie den mit ihrem Schriftsatz vom 1. August 2017 als 2. Hilfsantrag eingereichten Anspruchssatz zu ihrem Hauptantrag. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende den Tenor der vorliegenden Entscheidung.
VIII. Das für die vorliegende Entscheidung relevante Beschwerdevorbringen der Beschwerdeführerin kann wie folgt zusammengefasst werden.
D2 sei der nächstliegende Stand der Technik. Der von der Beschwerdegegnerin im Hinblick auf D2 vorgenommene Vergleich zwischen Beispiel 3 des Streitpatents und den Vergleichbeispielen V3 und V4 sei nicht aussagekräftig, da sich die jeweiligen Beispiele durch mehr als nur einen relevanten Parameter voneinander unterscheiden würden. Die Beschwerdeführerin habe in D9 einen aussagekräftigen Vergleich vorgenommen. Dieser belege, dass das Verfahren gemäß Anspruch 1 mit keinem überraschenden technischen Effekt verbunden sei. Die objektive technische Aufgabe sei daher die Bereitstellung eines alternativen Verfahrens. Die Lösung dieser Aufgabe sei vor dem Hintergrund der D2 naheliegend.
IX. Das für die vorliegende Entscheidung relevante Beschwerdevorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich folgendermaßen zusammenfassen.
D2 sei der nächstliegende Stand der Technik. Zum Gegenstand von Anspruch 1 könne man nur nach einer zweimaligen Auswahl aus der Offenbarung der D2 gelangen. Insbesondere unterscheide sich der Gegenstand von Anspruch 1 durch die Anzahl der Kohlenstoffatome in der Alkylgruppe R**(3) im Reaktivweichmacher von D2. Ein Vergleich von Beispiel 3 des Streitpatents mit den Vergleichsbeispielen V3 und V4 belege, dass dieser Unterschied eine höhere Reißdehnung der ausgehärteten Dichtmasse zur Folge habe. Die experimentellen Daten der Beschwerdeführerin in D9 würden diese Schlussfolgerung sogar bestätigen. Die objektive technische Aufgabe sei daher in der Bereitstellung eines Verfahrens zur Abdichtung von Oberflächen zu sehen, welches zu einer ausgehärteten Dichtmasse mit einer erhöhten Reißdehnung führe. Die Lösung dieser objektiven technischen Aufgabe sei nicht naheliegend.
X. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Anträge der Parteien lauteten wie folgt.
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents im gesamten Umfang.
Die Beschwerdegegnerin beantragte als Hauptantrag die Aufrechterhaltung des Streitpatents in geänderter Fassung auf Basis der Ansprüche des 2. Hilfsantrags, eingereicht mit Schriftsatz vom 1. August 2017.
Die Einsprechende 1 beantragte eine Entscheidung nach Aktenlage.
Hauptantrag
1. Der Anspruchssatz des Hauptantrags besteht aus dem unabhängigen Anspruch 1 und der von ihm abhängigen Ansprüche 2 bis 8. Anspruch 1 hat folgenden Wortlaut:
"Verfahren zur Abdichtung von Oberflächen von äußeren Gebäudeoberflächen und inneren Gebäudeflächen, bei dem eine feuchtigkeitshärtende Beschichtungszusammensetzung (C), enthaltend
A) 100 Gewichtsteile silan-terminiertes Polymer (P)
mit Endgruppen der allgemeinen Formel (I)
-A-Si(OR**(1))xR**(2)3-x (I),
B) 30 bis 200 Gewichtsteile reaktiven Weichmacher
(RW) der allgemeinen Formel (II),
R**(3)-Si(OR**(4))yR**(5)3-y (II),
C) 0 bis 400 Gewichtsteile Füllstoff (F) und
D) 0,01 bis 20 Gewichtsteile Härtungskatalysator (K),
wobei
A eine lineare oder verzweigte Alkylengruppe mit
1 bis 10 Kohlenstoffatomen bedeutet,
R**(1), R**(4) eine lineare oder verzweigte unsubstituierte
oder halogensubstituierte Alkylgruppe mit 1 bis 10
Kohlenstoffatomen bedeutet,
R**(2), R**(5) eine lineare oder verzweigte unsubstituierte
oder halogensubstituierte Alkylgruppe mit 1 bis 5
Kohlenstoffatomen bedeutet,
R**(3) eine Arylgruppe oder eine lineare, verzweigte oder
cyclische Alkylgruppe oder Alkenylgruppe mit 6 bis
40 Kohlenstoffatomen bedeutet und
x, y 1, 2 oder 3 sind,
auf die abzudichtende Oberfläche appliziert wird."
2. Von der Beschwerdeführerin wurden in Bezug auf die Ansprüche 1 bis 8 des Hauptantrags und ihren Gegenstand keine Einwände unter Artikel 84, 123 und 54 EPÜ vorgebracht. Die Kammer hatte ebenfalls keine Bedenken.
3. D2 beschäftigt sich mit der Abdichtung von Gebäude(ober)flächen wie insbesondere Betonböden (Absatz [0018]). Vor diesem Hintergrund war es zwischen den Parteien unstrittig, dass D2 den nächstliegenden Stand der Technik für den Gegenstand von Anspruch 1 darstellt. Die Kammer sah keine Veranlassung, von dieser einhelligen Auffassung abzuweichen.
4. D2 (Anspruch 1) offenbart eine Abdichtungszusammensetzung, die als wesentliche Komponente a) ein Alkyltrimethoxysilan/Alkyltriethoxysilan/Alkyldimethoxymethylsilan und/oder Alkyldiethoxyethylsilan enthält. Zwischen den Parteien war unstrittig,
- dass diese Komponente a) von D2 der anspruchsgemäßen Komponente B) entspricht, d. h. dem reaktiven Weichmacher (in der Folge auch als Reaktivweichmacher bezeichnet),
- dass die in der Komponente a) von D2 genannte Alkylgruppe dem Rest R**(3) des Reaktivweichmachers entspricht.
In der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 hatte die Kammer ausgeführt:
a) Der in D2 für die Komponente a) offenbarte Mengenbereich ist breiter als der in Anspruch 1 für den Reaktivweichmacher ("30 bis 200 Gewichtsteile"). Da D2 keine Lehre enthält, die auf eine Bevorzugung des anspruchsgemäßen Bereichs (oder eines Teilbereichs davon) hindeutet, ist der in Anspruch 1 genannte engere Mengenbereich gegenüber D2 als Auswahl aufzufassen.
b) Für die in der Komponente a) enthaltene Alkylgruppe offenbart D2 eine Kohlenstoffatomanzahl von 1 bis 20 (Absatz [0035]). Dieser Bereich überlappt mit dem in Anspruch 1 für den Rest R**(3) ("6 bis 40"). Da D2 keine Lehre enthält, die auf eine Bevorzugung des Überlappungsbereichs hindeutet, ist der Bereich in Anspruch 1, soweit er den Überlappungsbereich mit D2 betrifft (d. h. den Bereich von 6 bis 20), eine Auswahl aus D2. Die Tatsache, dass D2 Methyl-, Propyl- und Octylgruppen als bevorzugte Alkylgruppen offenbart, kann an dieser Schlussfolgerung nichts ändern, da diese drei Alkylgruppen als gleichermaßen bevorzugt beschrieben werden und zumindest einige von ihnen (nämlich Methyl und Propyl) hinsichtlich ihrer Kohlenstoffatomanzahl außerhalb des anspruchsgemäßen Bereichs für R**(3) liegen.
c) Basierend auf a) und b) unterscheidet sich der Gegenstand von Anspruch 1 zumindest dadurch von D2, dass er eine zweimalige Auswahl darstellt, und zwar hinsichtlich
i) der Menge an Reaktivweichmacher und
ii) der Anzahl der Kohlenstoffatome im Rest R**(3) des Reaktivweichmachers.
Diese Ausführungen wurden von der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung nicht in Zweifel gezogen.
5. Beispiel 3 des Streitpatents betrifft eine feuchtigkeitshärtende Beschichtungszusammensetzung wie in Anspruch 1 definiert. Sie enthält 23,5 g Isooctyltrimethoxysilan als Reaktivweichmacher (Anzahl der Kohlenstoffatome in der Alkylgruppe R**(3): 8).
Die Zusammensetzungen der Vergleichsbeispiele V3 und V4 unterscheiden sich im Wesentlichen nur dadurch von der Zusammensetzung des Beispiels 3 des Streitpatents, dass das Isooctyltrimethoxysilan gegen jeweils eine gleiche Gewichtsmenge an Methyltriethoxysilan bzw. Propyltrimethoxysilan ausgetauscht wurde. Aufgrund einer zu geringen Anzahl an Kohlenstoffatomen in der Alkylgruppe (nämlich 1 bzw. 3) fallen die Zusammensetzungen der Vergleichsbeispiele V3 und V4 mithin nicht mehr unter die Definition der feuchtigkeitshärtenden Beschichtungszusammensetzung von Anspruch 1. Sie können aber aufgrund der in D2 offenbarten Bevorzugung u. a. von Methyl- und Propylgruppen (s. o.) als repräsentativ für D2 angesehen werden.
Ein Vergleich der ausgehärteten Dichtmassen zeigt, dass diejenige von Beispiel 3 des Streitpatents eine höhere Reißdehnung (94%) aufweist als die der Vergleichsbeispiele V3 (36%) und V4 (43%).
6. Die Beschwerdeführerin vertrat die Ansicht, dass die experimentellen Daten der Beschwerdegegnerin zum Beleg eines technischen Effekts nicht geeignet seien.
6.1 So unterscheide sich Beispiel 3 des Streitpatents nicht nur hinsichtlich der Anzahl der Kohlenstoffatome der Alkylgruppe im Reaktivweichmacher von den Vergleichsbeispielen V3 und V4.
Der in Beispiel 3 des Streitpatents eingesetzte Reaktivweichmacher (Isooctyltrimethoxysilan) habe eine höhere Molmasse als die Reaktivweichmacher der Vergleichbeispiele V3 (Methyltriethoxysilan) und V4 (Propyltrimethoxysilan). Da die Zusammensetzungen dieser drei (Vergleichs-) Beispiele die gleiche Gewichtsmenge an Reaktivweichmacher enthalten würden (23,5 g), sei die Stoffmenge des Reaktivweichmachers in Beispiel 3 des Streitpatents am geringsten. Die Stoffmenge des Reaktivweichmachers sei aber im Hinblick auf die zu erzielende Reißdehnung ebenfalls ein relevanter Parameter. Der beobachtete Effekt einer höheren Reißdehnung lasse sich daher nicht eindeutig auf die unterschiedliche Kohlenstoffatomanzahl in der Alkylgruppe des Reaktivweichmachers zurückführen.
Ein Vergleich, der auf den Nachweis eines technischen Effekts abziele, der mit der Kohlenstoffatomanzahl in der Alkylgruppe des Reaktivweichmacher verbunden sei, setze voraus, dass bei Änderung der Kohlenstoffatomanzahl in der Alkylgruppe die Stoffmenge des Reaktivweichmachers konstant gehalten werde. Einen solchen Vergleich habe die Beschwerdeführerin in D9 angestellt. Unter Konstanthaltung der Stoffmenge des Reaktivweichmachers sei jeweils nur die Anzahl der Kohlenstoffatome der Alkylgruppe verändert worden (Octyl, Propyl, Methyl). Bei allen drei Versuchen seien vergleichbare Werte für die Reißdehnung der ausgehärteten Dichtmasse erhalten worden. Darüber hinaus seien die erhaltenen Werte besser als die der meisten erfindungsgemäßen Beispiele des Streitpatents. Ein technischer Effekt könne daher nicht anerkannt werden.
6.2 Die Kammer hält dies selbst dann nicht für überzeugend, wenn man zugunsten der Beschwerdeführerin unterstellt, dass der Vergleich von Beispiel 3 des Streitpatents mit den Vergleichsbeispielen V3 und V4 zum Beleg eines technischen Effekts nicht geeignet ist.
6.2.1 Anders als die Zusammensetzungen der (Vergleichs-) Beispiele der Beschwerdegegnerin enthalten die Zusammensetzungen der D9 einen hohen Anteil des unreaktiven Weichmachers Di-iso-decylphthalat (DIDP). Wie von der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingeräumt hat dies zur Folge, dass die Beispiele der D9 nur untereinander verglichen werden können.
6.2.2 Ein Vergleich der drei Zusammensetzungen der D9, d. h.
i) Test 1 - enthaltend Octyltrimethoxysilan (Reaktivweichmacher gemäß Anspruch 1), Reißdehnung: 210%
vs.
ii) Test 2 und Test 3 - enthaltend Propyltrimethoxysilan bzw. Methyltriethoxysilan (nicht anspruchsgemäß, weil die Kohlenstoffatomanzahl der Alkylgruppen mit 3 bzw. 1 geringer ist als für R**(3) in Anspruch 1 vorgesehen), Reißdehnung: 175 bzw. 170%
zeigt jedoch, dass die Wahl der anspruchsgemäßen Anzahl an Kohlenstoffatomen im Rest R**(3) eine höhere Reißdehnung zur Folge hat. Es ist dies also der gleiche technische Effekt, den auch die Beschwerdegegnerin geltend gemacht hat.
7. Die objektive technische Aufgabe gegenüber D2 kann daher in der Bereitstellung eines Verfahrens zur Abdichtung von Oberflächen gesehen werden, welches zu einer ausgehärteten Dichtmasse mit einer erhöhten Reißdehnung führt.
8. In ihrem Vorbringen hatte die Beschwerdeführerin immer nur behauptet, die objektive technische Aufgabe liege in der Bereitstellung einer Alternative zum Verfahren von D2. Die objektive technische Aufgabe muss jedoch anspruchsvoller formuliert werden, nämlich als die Bereitstellung eines Verfahrens zur Abdichtung von Oberflächen, welches zu einer ausgehärteten Dichtmasse mit einer erhöhten Reißdehnung führt (siehe oben). Hinsichtlich dieser anspruchsvoller formulierten Aufgabe hatte die Beschwerdeführerin keine Einwände geltend gemacht. Eine erfinderische Tätigkeit ist daher anzuerkennen.
9. Es folgt, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags und folglich auch der der von ihm abhängigen Ansprüche 2 bis 8 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht. Der Hauptantrag ist mithin gewährbar.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in geänderter Fassung mit folgenden Ansprüchen und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten:
Ansprüche 1 bis 8 des 2. Hilfsantrags, eingereicht mit Schriftsatz vom 1. August 2017.