T 2957/18 16-02-2023
Download und weitere Informationen:
BRENNKRAFTMASCHINENVENTILTRIEBVERSTELLVORRICHTUNG
Neuheit - (nein)
Beschwerdebegründung - Substantiierung Hilfsanträge
Beschwerdebegründung - Gründe deutlich und knapp angegeben (nein)
Spät eingereichter Antrag - zugelassen (nein)
I. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hat Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt, mit der das Europäische Patent mit der Nummer 2 823 160 widerrufen wurde.
II. Die Parteien wurden zur mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer geladen. In einer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Meinung mit, wonach die angefochtene Entscheidung voraussichtlich zu bestätigen sein würde.
III. Mit ihrem Schreiben vom 16. Januar 2023 nahm die Beschwerdeführerin zur Mitteilung der Kammer Stellung.
IV. Am 16. Februar 2023 fand die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.
V. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent auf der Grundlage des Hauptantrags, eingereicht mit der Beschwerdebegründung, hilfsweise auf der Grundlage eines der in der Beschwerdebegründung erwähnten Hilfsanträge 1 bis 47 oder auf der Grundlage des Hilfsantrags 3a, erwähnt im Schreiben vom 16. Januar 2023, Seite 12, aufrecht zu erhalten.
VI. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
VII. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag hat folgenden Wortlaut:
"Brennkraftmaschinenventiltriebverstellvorrichtung für ein Kraftfahrzeug, mit
zumindest einer Nockenwelle (10a; 10b), die zumindest vier axial verschiebbar angeordnete Nockenelemente (11a, 12a, 13a, 14a; 11b, 12b, 13b, 14b, 15b, 16b ),
die als separate, getrennt voneinander ausgebildete Bauteile ausgebildet sind, umfasst,
dadurch gekennzeichnet, dass jeweils zwei der Nockenelemente (11a, 12a, 13a, 14a; 11b, 12b, 13b, 14b, 15b, 16b), die benachbart angeordnet sind, als gemeinsam zu schaltende Nockenelementgruppe (17a, 18a; 17b, 18b, 19b) ausgebildet sind."
Der Wortlaut der Ansprüche 1 von Hilfsanträgen 1 bis 47 und 3a ist für die vorliegende Entscheidung nicht relevant und wird folglich hier nicht wiedergegeben.
VIII. Auf folgenden Stand der Technik wurde von den Parteien unter anderem Bezug genommen:
D1 : DE 10 2005 006 489 A1.
IX. Die Argumente der Beschwerdeführerin können wie folgt zusammengefasst werden.
Hauptantrag
Bei richtiger Auslegung des Wortlauts von Anspruch 1 im Sinne des Streitpatents sei die beanspruchte Vorrichtung als neu gegenüber der aus D1 bekannten Vorrichtung anzusehen. Die durch ein Komma aneinandergereihten Ausdrücke im Anspruch 1, "separate" und "getrennt voneinander ausgebildete", vermittelten unterschiedliche Informationen. Es sei klar, dass nicht der gleiche Sachverhalt doppelt ausgedrückt werden solle. Das Adjektiv "separat" sei mit dem Adjektiv "unverbunden" gleichzusetzen, da das Adjektiv
"unverbunden" ein Synonym für das Adjektiv "separat" ist, was sich auch aus der Herkunft des Adjektivs "separat" vom lateinischen Verb "separare" erklären lasse. Im übrigen fordere die im Anspruch zwar nicht explizit definierte, aber dennoch in Übereinstimmung mit der im Streitpatent, Spalte 2, Zeilen 6 bis 11, beschriebenen Funktion einer zeitlich versetzten axialen Verschiebbarkeit beider Nockenelemente einer Nockenelementgruppe, dass die Nockenträger nicht miteinander verbunden sein können.
Die in D1 offenbarten Nockenträger, die zwar unbestreitbar getrennt voneinander ausgebildet sind, seien demgegenüber nicht als separate, d.h. im Sinne des Patents unverbundene Bauteile ausgebildet. Nach Absatz 15 der D1 seien die jeweiligen Nockenträger 16 einer Nockenelementgruppe über den Verbindungssteg 19 gekoppelt und somit verbunden, folglich nicht separat ausgebildet.
Hilfsanträge 1 bis 47 und 3a
Im Rahmen der Beschwerdebegründung wurde insbesondere zu dem schriftlich eingereichten Hauptantrag und den Hilfsanträgen 1 bis 8, 24 und 28 bis 32 vorgetragen. In der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern bestünden die Erfordernisse, das Vorbringen knapp zu halten und ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge anzuführen, und genau diesen Erfordernissen sei die Beschwerdeführerin nachgekommen, indem sie die Hilfsanträge schriftlich eingereicht und im Übrigen auf die diesbezügliche, ausführliche Substantiierung verwiesen hat. Die Hilfsanträge seien Gegenstand der Zwischenentscheidung und daher Grundlage und Bestandteile des Beschwerdeverfahrens. Außerdem seien zumindest die Hilfsanträge 1 bis 8, 24 und 28 bis 32 substantiiert. Zu den Hilfsanträgen 1 bis 8 wurde ausführlich und substantiiert in der Einspruchserwiderung (ab Seite 19) vorgetragen, und zu den Hilfsanträgen 24 bis 32 wurde ausführlich und substantiiert in der Erwiderung auf die Ladung zur Einspruchsverhandlung (ab Seite 12) vorgetragen.
X. Die Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen.
Hauptantrag
Die Formulierung "als separate, getrennt voneinander ausgebildete Bauteile" stelle nicht mehr als eine Wort-verdoppelung dar und bedeute lediglich, dass die Nockenelemente nicht einstückig bzw. integral hergestellt sind. Die ungerechtfertigt einschränkende Auslegung in dem von der Beschwerdeführerin verstandenen Sinn habe keine Grundlage im Patent. Die von ihr herangezogene Passage des Streitpatents in Spalte 2, der zufolge der Ausdruck "separat" als "unverbunden" zu verstehen sei, um eine in dieser Passage erwähnte zeitlich versetzte Verschiebung beider Nockenelemente einer Nockenelementgruppe zu ermöglichen, offenbare letzteres nur als eine Möglichkeit. Der Anspruch definiere weder diese Funktionalität noch eine konkrete strukturelle Anordnung, die eine Verbindung der beiden Nockenelemente ausschließe.
Folglich stehe die Übertragung axialer Schubkräfte durch den in D1 offenbarten Verbindungssteg 19 zwischen den Nockenträgern auch nicht im Widerspruch damit, dass die Nockenträger 16 separate, getrennt voneinander ausgebildete Bauteil im Sinne von Anspruch 1 bilden.
Hilfsanträge 1 bis 47
Die im Beschwerdeverfahren eingereichten Hilfsanträge 1 bis 47 seien mangels Substantiierung unzulässig. Eine pauschale Rückverweisung auf das Einspruchsverfahren reiche diesbezüglich nicht aus.
Hauptantrag - Neuheit
1. Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags ist nicht neu gegenüber der aus D1 bekannten Brennkraftmaschinenventiltriebverstellvorrichtung (Artikel 54 (1) und (2) EPÜ).
1.1 Es ist unbestritten, dass die in Figur 2 der D1 schematisch dargestellte Vorrichtung eine Nockenwelle und vier axial verschiebbare Nockenelemente in Form von Nockenträgern (16) mit jeweils darauf befindlichen Nocken aufweist. Es ist weiter unbestritten, dass die Nockenelemente oder Nockenträger (16) getrennt voneinander ausgebildete Bauteile sind, wobei jeweils zwei benachbart angeordnet und als gemeinsam zu schaltende Nockenelementgruppe, entsprechend dem kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1, ausgebildet sind (siehe D1, Absätze 24 und 25).
1.2 Streitig ist allein die Frage, ob die unstreitig getrennt voneinander ausgebildeten Nockenträger (16) - z.B. die Elemente 16 der in Figur 2 links dargestellten Nockenelementgruppe für den ersten und zweiten Zylinder 20a, 20b - auch als "separate" Bauteile ausgebildet sind. Die Kammer hat überhaupt keine Zweifel, dass der Fachmann die getrennt voneinander ausgebildeten Nockenträger auch als separate Bauteile versteht. Das bestrittene Merkmal ist deswegen aus der D1 bekannt.
1.3 Die dem widersprechende Auffassung der Beschwerdeführerin beruht auf einer ungerechtfertigt eingeschränkten Auslegung des Adjektivs "separat" im Sinne von "unverbunden", für die weder Anspruch 1 noch das Streitpatent im Ganzen eine Grundlage bilden.
Wie auch die Beschwerdeführerin auf Grundlage eines etymologischen Arguments erkannt hat, bedeutet das Adjektiv "separat" im eigentlichen Sinn "getrennt". Die Kammer sieht keinen Grund, warum der Fachmann von diesem normalen Wortsinn abweichen sollte. Eine Begriffsdefinition, die es mit "unverbunden" gleichsetzen würden, ist im gesamten Streitpatent nirgends enthalten. Dass "separat" ein mögliches Synonym für "unverbunden" sein kann, bedeutet nicht im Umkehrschluss, dass der Fachmann "separat" im vorliegenden Fall notwendigerweise als "unverbunden" verstehen würde. Die Tatsache, dass zwei Gegenstände als separate Bauteile ausgebildet sind, schließt dem allgemeinen Sprachgebrauch nach nicht aus, dass die beiden miteinander verbunden sein können (z.B. Mutter und Schraube, zwei Räder an einer Fahrzeugachse). Nichts im Anspruch deutet für den Fachmann darauf hin, dass der gewählte Wortlaut darauf abziele, eine Verbindung oder Kopplung beider Bauteile auszuschließen. Allein die Tatsache, dass der Wortlaut damit die gleiche technische Information doppelt ausdrückt, reicht vorliegend nicht, um dem Ausdruck "separat" eine weiter einschränkende Bedeutung beizumessen.
Wie ebenfalls von der Beschwerdeführerin anerkannt, ist eine zeitlich versetzte Verschiebbarkeit beider Nockenelemente nicht in Anspruch 1 definiert. Der Hinweis auf die in Offenbarung der Patentschrift in Spalte 2, Zeilen 6 bis 11 würde - abgesehen davon, dass die Kammer keinen Grund sieht, bei der Beurteilung der Neuheit den Anspruchswortlaut eingeschränkt im Lichte der Beschreibung auszulegen - zu keiner anderen Beurteilung führen, da diese Funktionalität dort nur als Möglichkeit offenbart wird ("...zeitlich versetzt erfolgen kann.", Hervorhebung durch die Kammer), worauf auch die Beschwerdegegnerin hingewiesen hat.
Darüber hinaus hat die Beschwerdegegnerin unter Bezugnahme auf Absatz 20 des Streitpatents auch darauf hingewiesen, dass eine Verbindung zumindest in Form eines Kontakts (oder einer abschnittsweisen Überlappung) der Nockenelemente zur Umsetzung ihrer zeitlich versetzten axialen Verschiebung erforderlich ist, was einer allgemein "unverbundenen" Ausbildung beider Bauteile widerspricht.
1.4 Da dem Adjektiv "separat" nicht die einschränkende Bedeutung "unverbunden" beigemessen werden kann, kann es dahingestellt bleiben, in welcher Weise der in D1 gezeigte Verbindungssteg 19 eine Verbindung zwischen den getrennt voneinander ausgebildeten Nockenelementen 16 bilden könnte. Darüber hinaus wird in Absatz 24 der D1 explizit offenbart, dass der Verbindungssteg 19 als von den beiden Nockenträgern 16 unabhängiges Bauteil ausgebildet ist.
Hilfsanträge 1 bis 47
2. Die Kammer hat ihr Ermessen nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 dahingehend ausgeübt, die in der Beschwerdebegründung erwähnten Hilfsanträge 1 bis 47 im Verfahren nicht zu berücksichtigen.
2.1 Wie auch von der Beschwerdegegnerin in ihrer Beschwerdeerwiderung vorgetragen, hat es die Beschwerdeführerin versäumt, die Änderungen der jeweiligen Hilfsanträge in der Beschwerdebegründung zu erläutern und darzulegen, warum die ausstehenden Einwände gegebenenfalls überwunden wären, vgl. hierzu die Bedingungen des Artikels 12 (3) VOBK 2020 und des Artikels 12 (2) VOBK 2007, der ersterem inhaltlich im wesentlichen entspricht. Die Hilfsanträge sind somit unsubstantiiert.
Auch wenn die pauschalen Verweise der Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung auf ihren Vortrag in der Vorinstanz (siehe z.B. Punkt 3.3 auf Seite 18) als "knapp gehalten" aufgefasst werden können, entspricht dies nicht dem Sinn des Wortlauts von Artikel 12 (2) VOBK 2007 oder Artikel 12 (3) VOBK 2020, wonach die Beschwerdebegründung "deutlich und knapp" angeben muss, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen. Insbesondere entsprechen solche generellen Hinweise nicht dem weiteren Erfordernis der zitierten Artikel in beiden Versionen der Verfahrensordnung, wonach in der Beschwerdebegründung der gesamte Sachvortrag der Beschwerdeführerin enthalten sein sollte und ausdrücklich (und spezifisch) unter anderem alle Tatsachen und Argumente angeführt werden sollten.
Eine möglicherweise vorhandene Substantiierung der im Einspruchsverfahren bereits eingereichten Hilfsanträge in den Schriftsätzen im Einspruchsverfahren kann in der Regel nicht ausreichen, die Begründung der zwischenzeitlich ergangenen angefochtenen Entscheidung zu entkräften, bzw. dazulegen, warum die geänderten Ansprüche der Hilfsanträge der Entscheidung den Boden entziehen würden. Dazu bedarf es regelmäßig weiteren Sachvortrags, der sich mit den tragenden Gründen der Entscheidung auseinandersetzen muss und darlegt, warum eine Änderung beispielsweise in Hilfsantrag 1 (2, 3, 4...) hier u.a. den ausstehenden und auf D1 beruhenden Neuheitseinwand hinsichtlich des nicht gewährbaren Hauptantrags ausräumt.
2.2 Ungeachtet der Frage, inwieweit der spätere diesbezügliche schriftliche Vortrag der Beschwerdeführerin in ihrer Antwort auf die Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020, in der auf die mangelnde Substantiierung hingewiesen wurde, eine Änderung ihres Vorbringens nach Artikel 13 VOBK darstellen könnte, enthält auch dieser keine vollständige Substantiierung der Hilfsanträge. Wie zuvor angedeutet wird auch in diesem Schreiben nicht dargelegt, warum die Änderungen an Anspruch 1 der jeweiligen Hilfsanträge den auf D1 beruhenden Neuheitseinwand überwinden würden.
Hilfsantrag 3a
3. Die Kammer hat Hilfsantrag 3a, der erstmalig im Schreiben der Beschwerdeführerin in Antwort auf die Mitteilung der Kammer nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 erwähnt wurde, nicht in das Verfahren zugelassen (Artikel 13 (1) VOBK 2020). Abgesehen davon, dass der Antrag nicht ausformuliert vorgelegt wurde, hat die Beschwerdeführerin weder eine Begründung für die Einreichung dieses Antrags zu diesem späten Zeitpunkt des Verfahrens geliefert, noch hat sie begründet, warum die Änderungen an Anspruch 1 den ausstehenden Neuheitseinwand beruhend auf D1 beheben würden.
4. In Ermangelung eines im Verfahren zu berücksichtigenden Anspruchssatzes, der die tragenden Gründe der angefochtenen Entscheidung ausräumt, kann dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Aufhebung der Entscheidung nicht entsprochen werden.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.