T 0069/19 09-06-2022
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SCHEIBENBREMSE
Knorr-Bremse
Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH
I. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, den Einspruch gegen das Streitpatent zurückzuweisen.
II. Die Einspruchsabteilung hatte unter anderem entschieden, dass
1) der Gegenstand der Ansprüche in der erteilten Fassung neu sei und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, und
2) das Streitpatent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen kann.
III. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt, die als Videokonferenz durchgeführt wurde.
IV. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
V. Der unabhängige Anspruch 1 des einzigen Antrags lautet wie folgt (Merkmalsgliederung in eckigen Klammern hinzugefügt):
[M1] Scheibenbremse, insbesondere für Nutzfahrzeuge, mit einem Bremssattel (10) und einer auf den Bremssattel abgestimmten Bremswelle (32) zum Zuspannen der Bremse,
[M2] wobei der Bremssattel eine Einbauöffnung (28) zum Einbauen der Bremswelle aufweist und
[M3] wobei der Bremssattel und die Bremswelle jeweils eine Codierung aufweisen, die einen Einbau der Bremswelle durch die Einbauöffnung nur dann erlaubt, wenn die beiden Codierungen zueinander passen,
gekennzeichnet durch
[M4] eine die Kontur der Einbauöffnung (28) zumindest teilweise bestimmende Codiermaske.
VI. In der vorliegenden Entscheidung wird auf folgende Entgegenhaltung Bezug genommen:
E9: DE 102 19 148 C1
VII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, soweit für die Entscheidung relevant, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Die E9 offenbare sämtliche Merkmale des Anspruchs 1 des Streitpatents, weshalb dessen Gegenstand nicht neu sei.
VIII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin, soweit für die Entscheidung relevant, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Bei der anspruchsgemäßen Codiermaske handle es sich nach fachmännischem Verständnis um ein separates Bauteil, welches in der E9 nicht offenbart sei. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents sei daher neu gegenüber E9.
1. Neuheit
1.1 Die Entgegenhaltung E9 offenbart unstreitig in den Figuren 4 und 6 jeweils eine (Bezugnahmen in runden Klammern beziehen sich auf E9)
[M1] Scheibenbremse, insbesondere für Nutzfahrzeuge, mit einem Bremssattel (1) und einer auf den Bremssattel (1) abgestimmten Bremswelle (7) zum Zuspannen der Bremse, wobei
[M2] der Bremssattel (1) eine Einbauöffnung zum Einbauen der Bremswelle (7) aufweist.
1.2 Bezüglich des Merkmals [M3] argumentierte die Beschwerdegegnerin, die E9 lehre nicht, die Einbauöffnung im Bremssattel 1 oder die Zuspannwelle 7 zu codieren.
Der Anspruch 1 lässt jedoch offen, was unter zueinander passenden Codierungen zu verstehen ist. Der abhängige Anspruch 2 definiert als eine bevorzugte Ausgestaltung der Erfindung, dass die Bremswelle und die Einbauöffnung jeweils eine erste und eine zweite Abmessung haben, und dass es zur Codierung gehört, dass die erste Abmessung der Bremswelle kleiner als die erste Abmessung der Einbauöffnung und die zweite Abmessung der Bremswelle kleiner als die zweite Abmessung der Einbauöffnung ist. Absatz [0008] der Beschreibung, der diese bevorzugte Ausgestaltung erläutert, resümiert diesbezüglich:
"Mit anderen Worten wird bei dieser erfindungsgemäß bevorzugten Ausgestaltung die Codierung durch die Abmessungen der Einbauöffnung einerseits und der Bremswelle andererseits realisiert."
Genau dies offenbart die E9 in den genannten Ausführungsbeispielen. Auch hier ist jeweils die erste Abmessung der Bremswelle kleiner als die erste Abmessung der Einbauöffnung und die zweite Abmessung der Bremswelle kleiner als die zweite Abmessung der Einbauöffnung. Eine zu große Bremswelle würde in der E9 nicht durch die Einbauöffnung passen und könnte folglich nicht eingebaut werden.
Die E9 offenbart also auch die Bedingung des Merkmals [M3].
1.2.1 Hinsichtlich des Merkmals [M4] argumentierte die Beschwerdegegnerin, eine Codiermaske sei nach fachmännischem Verständnis ein separates Bauteil, denn Masken im Allgemeinen seien immer zusätzliche Teile, die etwas abdecken, wie beispielsweise Masken zum Sputtern, zum Aufdampfen oder zur Halbleiter-herstellung. Dieses Verständnis stehe im Einklang mit Absatz [0006] der Beschreibung des Streitpatents, wonach eine Codiermaske etwas sei, das am Bremssattel angebracht wird. Auch der Hinweis in Absatz [0033] des Streitpatents, dass die erfindungsgemäße Codiermaske in den Zeichnungen nicht dargestellt ist, deute darauf hin, dass es sich um ein Bauteil handelt, das auf die Einbauöffnung aufgebracht werden muss.
Im vorliegenden Fall definiert der Anspruch 1 die Codiermaske über deren Funktion, nämlich als etwas, das die Kontur der Einbauöffnung zumindest teilweise bestimmt (Merkmal [M4]). Der Anspruch 1 im Allgemeinen und der Begriff Codiermaske im Speziellen sind insoweit klar und für den Fachmann ohne Weiteres verständlich. Daher besteht keine Veranlassung, die Beschreibung zur Interpretation des Anspruchs heranzuziehen. Im Gegenteil darf für die Beurteilung der Neuheit der Wortlaut des Anspruchs nicht durch ausschließlich aus der Beschreibung zu entnehmende Merkmale eingeschränkt werden.
Etwas, das die Kontur der Einbauöffnung zumindest teilweise bestimmt, kann durchaus ein separates Bauteil sein, wie von der Beschwerdegegnerin ausgeführt. Es kann sich aber auch um die randseitige Begrenzung der Einbauöffnung selbst handeln. Der Anspruch 1 enthält nichts, was letztere Interpretation ausschließen würde. Gleiches gilt für das fachmännische Verständnis des allgemeinen Begriffs "Maske". Der Begriff für sich genommen legt nicht zwingend fest, dass die Maske mit dem damit "maskierten" Gegenstand keine strukturelle Einheit bilden darf. Zwar mag es für die von der Beschwerdegegnerin angeführten Masken zum Sputtern, zum Aufdampfen oder zur Halbleiterherstellung zutreffen, dass sie als separates Bauteil vorliegen müssen, damit ein technisch sinnvolles Ergebnis erzielt werden kann. Anspruchsgemäß handelt es sich aber um eine Codiermaske, die ihre oben definierte Funktion zweifellos auch dann technisch sinnvoll erfüllen kann, wenn sie nicht als separates Bauteil ausgeführt ist.
Daher stellen die randseitigen Begrenzungen der in den Figuren 4 und 6 der E9 gezeigten Einbauöffnungen jeweils eine Codiermaske im Sinne des Merkmals [M4] dar, die die Kontur der Einbauöffnung zumindest teilweise bestimmt.
1.2.2 Die E9 offenbart folglich sämtliche Merkmale des Anspruchs 1 des Patents wie erteilt, weshalb dessen Gegenstand nicht neu ist (Artikel 54 EPÜ).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
Das europäische Patent wird widerrufen.