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T 0979/19 11-04-2022
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System und Verfahren zur Steuerung der Erntegutüberladung
CNH Industrial Belgium nv
Deere & Company/John Deere GmbH & Co. KG
I. Die Beschwerden richten sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 2 510 775 in geändertem Umfang nach Artikel 101 (3) (a) und 106 (2) EPÜ aufrechtzuerhalten.
II. Die Einspruchsabteilung hatte unter anderem entschieden, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des während der mündlichen Verhandlung eingereichten Hauptantrags erfinderisch sei.
III. In ihrer Entscheidung hat die Einspruchsabteilung unter anderem die folgende Entgegenhaltung berücksichtigt:
D1 EP 2 020 174 A1
IV. Die Beschwerdeführerinnen Einsprechende 1 und 2 beantragen die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
V. Die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerden.
VI. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Auffassung mit. Die mündliche Verhandlung fand am 11. April 2022 in Anwesenheit aller Parteien als Videokonferenz statt.
VII. Der unabhängige Anspruch 1 in der von der Einspruchs-abteilung aufrechterhaltenen Fassung hat den folgenden Wortlaut:
"System zur Steuerung der Erntegutüberladung von einer selbstfahrenden landwirtschaftlichen Erntemaschine (1) in den Ladebehälter (2) eines Transportfahrzeugs (3), umfassend eine der Erntemaschine (1) zugeordnete Überladeeinrichtung (4), aus der Erntegut in Form eines Erntegutstrahls (5) austritt, und eine Erkennungs-einrichtung, welche die relative Lage des Ladebehälters (2) gegenüber der Erntemaschine (1) ermittelt und an eine Steuereinheit (7) übermittelt, wobei die Erkennungseinrichtung eine Kamera aufweist und die Kamera zudem den Befüllstand des Ladebehälters (2) beobachtet, wobei die Steuereinheit (7) zumindest einen der Überladeeinrichtung (4) zugeordneten Aktor (8, 9, 10) derart betätigt, dass der Erntegutstrahl (5) innerhalb des Ladebehälters (2) auftrifft, um diesen mit Erntegut zu befüllen, dadurch gekennzeichnet, dass bei Erreichen eines maximalen Füllstandes eines Abschnitts des Ladebehälters (2) die Steuereinheit (7) selbständig ein Umschwenken der als Auswurfkrümmer (4) ausgeführten Überladeeinrichtung (4) veranlasst, um einen anderen Abschnitt des Ladebehälters (2) zu befüllen und dass die Steuereinheit (7) weiterhin betreibbar ist, für das Transportfahrzeug (3) ein Steuersignal (S) zu generieren, das eine zum Überladen in den Ladebehälter (2) geeignete Relativposition des Transportfahrzeugs (3) gegenüber der Erntemaschine (1) vorgibt, wobei das Steuersignal (S) in einen dem Transportfahrzeug (3) zugeordneten Fahrregler (11) eingeht, welcher das Transportfahrzeug (3) selbsttätig gegenüber der Erntemaschine (1) positioniert, wobei die selbstfahrende Erntemaschine (1) als Leitfahrzeug das Transportfahrzeug (3) mitsteuert und wobei die Regelung des Auswurfkrümmers (4) durch die Regelung der Relativpositionierung des Transportfahrzeugs (3) in der Weise überlagert wird, dass die Steuereinheit (7) einer Annäherung des Überladevorgangs an einen kritischen Zustand durch ein geeignetes Steuersignal (S) an das Transportfahrzeug entgegenwirkt."
VIII. Die Einsprechenden als Beschwerdeführerinnen haben zu dem entscheidungserheblichen Punkt im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Der Gegenstand von Anspruch 1 werde ausgehend von D1 in Zusammenschau mit dem allgemeinen Fachwissen nahegelegt.
IX. Die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin hat zu dem entscheidungserheblichen Punkt im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Der Gegenstand von Anspruch 1 beruhe im Lichte des genannten Standes der Technik auf erfinderischer Tätigkeit.
1. Die Beschwerden sind zulässig.
2. Anwendungsgebiet der Erfindung
Die Erfindung betrifft ein System zur Steuerung der Erntegutüberladung von einer selbstfahrenden landwirtschaftlichen Erntemaschine (1) in den Ladebehälter (2) eines Transportfahrzeugs (3). Die Erntegutüberladung erfolgt mittels einer als Auswurfkrümmer (4) ausgeführten Überladeeinrichtung, aus der ein Erntegutstrahl (5) austritt. Dazu betätigt eine Steuereinheit (7) zumindest einen der Überlade-einrichtung zugeordneten Aktor (8, 9, 10) derart, dass der Erntegutstrahl innerhalb des Ladebehälters auftrifft, siehe die Figur 2 der Patentschrift.
Bei der Erntegutüberladung sollen Verluste durch zu Boden fallendes Erntegut gering gehalten werden, siehe Absatz 0003 der Patentschrift. Dazu ermittelt eine Erkennungseinrichtung mit einer Kamera (6) die relative Lage des Ladebehälters gegenüber der Erntemaschine und übermittelt diese an die Steuereinheit. Die Kamera beobachtet zudem den Befüllstand des Ladebehälters. Bei Erreichen eines maximalen Füllstandes eines Abschnitts des Ladebehälters veranlasst die Steuereinheit selbständig ein Umschwenken der Überladeeinrichtung, um einen anderen Abschnitt des Ladebehälters zu befüllen. Außerdem ist die Steuereinheit so betreibbar, dass sie für das Transportfahrzeug ein Steuersignal generiert, das eine zum Überladen in den Ladebehälter geeignete Relativposition des Transportfahrzeugs gegenüber der Erntemaschine vorgibt. Somit steuert die selbstfahrende Erntemaschine als Leitfahrzeug das Transportfahrzeug mit, wobei das Steuersignal in einen Fahrregler (11) des Transportfahrzeugs eingeht, welcher das Transport-fahrzeug gegenüber der Erntemaschine positioniert. Dabei wird die Regelung des Auswurfkrümmers durch die Regelung der Relativpositionierung des Transport-fahrzeugs derart überlagert, dass die Steuereinheit einer Annäherung des Überladevorgangs an einen kritischen Zustand durch ein geeignetes Steuersignal an das Transportfahrzeug entgegenwirkt. Das erlaubt eine rechtzeitige Anpassung des Überladevorgangs, so dass er verlust- bzw. unterbrechungsfrei fortgeführt werden kann, siehe Absatz 0014 der Patentschrift.
Ein Verfahren zur Steuerung der Erntegutüberladung von einer selbstfahrenden Erntemaschine in den Ladebehälter eines Transportfahrzeugs wird ebenfalls beansprucht.
3. Erfinderische Tätigkeit
Die angefochtene Zwischenentscheidung bejahte die erfinderische Tätigkeit von Anspruch 1 ausgehend vom Dokument D1, siehe Absatz 6.1 der Entscheidungsgründe. Die Beschwerdeführerinnen Einsprechende 1 und 2 bestreiten diesen von der Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin geteilten Befund der Entscheidung.
3.1 Auch die Kammer hält das Dokument D1 für einen erfolgversprechenden Ausgangspunkt, da es die Erntegutüberladung von einem Feldhäcksler in den Anhänger eines Traktors betrifft. Dabei tritt das Erntegut als Erntegutstrahl 7 aus dem Auswurfkrümmer 4 des Feldhäckslers 2 aus. Eine Kamera 18 beobachtet den Füllstand des Anhängers 25, ermittelt dessen relative Lage gegenüber dem Feldhäcksler und übermittelt beides an die Signalverarbeitungseinheit 22 des Feldhäckslers, siehe die Absätze 0030 bis 0035 und die Figur 2. Diese sendet ein Steuersignal E an die Aktoren des Auswurf-krümmers, so dass der Erntegutstrahl innerhalb des Anhängers auftrifft, um ihn mit Erntegut zu befüllen und bei Erreichen eines maximalen Füllstandes eines Abschnitts des Anhängers ein Umschwenken des Auswurfkrümmers zu veranlassen. Außerdem erzeugt die Signalverarbeitungseinheit 22 (neben einem Steuersignal F für den Feldhäcksler) ein weiteres Steuersignal G für den Traktor 24, um durch Veränderung seines Lenkwinkels oder seiner Fahrgeschwindigkeit eine zum Überladen in den Anhänger 25 geeignete Relativposition gegenüber dem Feldhäcksler vorzugeben, siehe den Absatz 0034 des Dokuments. Dabei geht das vom Feldhäcksler als Leitfahrzeug generierte Steuersignal G in den implizit vorhandenen Fahrregler des Traktors ein, um ihn selbst-tätig gegenüber dem Feldhäcksler zu positionieren.
3.2 Die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin bestreitet jedoch, dass die Regelung des Auswurfkrümmers 4 in D1 durch die Regelung der Relativpositionierung des Traktors 24 derart überlagert werde, dass einer Annäherung des Überladevorgangs an einen kritischen Zustand durch ein geeignetes Steuersignal entgegenwirkt wird. Der Beschwerdegegnerin zufolge, siehe Schreiben vom 24. März 2022, Seite 2 unten, fasst diese Überlagerung ein Aufeinanderfolgen der beiden Regelungen zusammen, und zwar so, dass die Veränderung der Position des Auswurfkrümmers zeitlich gesehen vor einer Veränderung der Relativposition des Transportfahrzeugs erfolgt.
3.3 Die Kammer sieht das anders. In Absatz 0035 behandelt das Dokument D1 das Umfahren von Hindernissen wie Bäumen und Telegrafenmasten, die in Figur 2 schematisch als schattierter Bereich 36 dargestellt sind. Beim Umfahren des Hindernisses 36 müssen der Feldhäcksler nach rechts (in Figur 2 nach oben) und der Traktor nach links (in Figur 2 unten) ausweichen, so dass sich die beiden Fahrzeuge dabei voneinander entfernen. Um dennoch zu gewährleisten, dass der Erntegutstrahl weiterhin in den Anhänger gelangt, begrenzt die Signalverarbeitungseinheit 22 den seitlichen Abstand 39 zwischen Anhänger und Feldhäcksler, siehe Spalte 9, Zeilen 40 bis 45. Das anderenfalls auftretende "Übersteuern" (Spalte 9, Zeile 51: "oversteering") von Auswurfkrümmer, Feldhäcksler und Traktor soll dadurch verhindert werden, dass das Umschwenken des Auswurfkrümmers durch Fahrbefehle an den Feldhäcksler und/oder den Traktor ersetzt wird (Spalte 9, Zeile 57 bis Spalte 10, Zeile 1).
3.4 Selbst wenn man die Sichtweise der Beschwerdegegnerin Patentinhaberin teilt, wonach das Merkmal "die Regelung des Auswurfkrümmers durch die Regelung der Relativ-positionierung des Transportfahrzeugs überlagert wird" in dem Sinne zu verstehen sei, dass die Veränderung der Position des Auswurfkrümmers zeitlich vor einer Veränderung der Relativposition des Transportfahrzeugs erfolge, wird dieses Merkmal bereits in D1 offenbart. Die Kammer versteht nämlich das Ausführungsbeispiel in Absatz 0035 des Dokuments in dem Sinne, dass der Auswurfkrümmer bereits verschwenkt worden ist, bevor Fahrbefehle an den Traktor geschickt werden. Nur bei dieser zeitlichen Reihenfolge kann das Verschwenken des Auswurfkrümmers durch die Fahrbefehle ersetzt werden (Spalte 9, Zeile 57: "replaced"), da "ersetzen" in diesem Zusammenhang bedeutet, dass die Fahrbefehle an die Stelle des Verschwenkens treten. Das vorherige Verschwenken des Auswurfkrümmers wird durch die Angabe "kinematic movement possibilities" in Spalte 9, Zeilen 21 und 22 bestätigt, da es den Zustand vor dem anschließenden Umfahren des Hindernisses beschreibt, siehe Spalte 9, Zeilen 25ff.
3.5 Folglich unterscheidet sich das System zur Steuerung der Erntegutüberladung nach Anspruch 1 von der Offenbarung der D1 nur darin, dass die Überlagerung der Regelung des Auswurfkrümmers und der Regelung der Relativpositionierung des Transportfahrzeugs in der Weise erfolgt, dass die Steuereinheit einer Annäherung des Überladevorgangs an einen kritischen Zustand durch ein geeignetes Steuersignal an das Transportfahrzeug - also durch Fahrbefehle an den Traktor - entgegenwirkt. Ein kritischer Zustand tritt zum Beispiel beim Erreichen der Außengrenze der Endlage der Überladeeinrichtung, des Ladebehälters oder der maximalen Füllhöhe auf (siehe Absatz 0014 der Patentschrift).
Die Kammer stimmt der Beschwerdegegnerin darin zu, dass um eine Annäherung an einen solchen kritischen Zustand entgegenwirken zu können, die Signalverarbeitungs-einheit 22 bereits vor Erreichen des kritischen Zustands ein geeignetes Steuersignal für den Traktor generieren muss. Sie legt diese Angabe entsprechend aus.
Einer solchen vorausschauenden Vorgehensweise liegt unbestritten die objektive technische Aufgabe zugrunde, den Überladevorgang verlust- bzw. unterbrechungsfrei fortzuführen, siehe Absatz 0014 der Patentschrift.
3.6 Die Kammer muss darum klären, ob der Fachmann auch in D1 Erntegutverluste beim Überladevorgang dadurch vermeiden würde, dass er bereits vor Erreichen eines kritischen Zustands des Überladevorgangs mit einem Steuersignal an den Traktor reagiert.
3.6.1 Die Kammer teilt in diesem Zusammenhang nicht die Sichtweise der Beschwerdegegnerin, wonach die "kritische Situation" in D1 unbestimmt sei, siehe die Erwiderung vom 24. März 2022, Seite 6, zweiter vollständiger Absatz. Die Regelung in D1 ist nämlich - wie auch im Streitpatent - darauf gerichtet, kein Erntegut neben den Ladebehälter des Anhängers fallen zu lassen (Absatz 0004: "conveyed beyond the side walls of the storage container"; Absatz 0023: "falls to the ground as lost product"). Die Ursache eines solchen Erntegutverlustes, also ein Überschreiten einer maximalen Füllhöhe oder einer Außengrenze des Ladebehälters (Absatz 0008), stellt folglich in D1 die "kritische Situation" bzw. den "kritischen Zustand" im Sinne von Anspruch 1 dar.
3.6.2 Bereits in der angefochtenen Entscheidung wurde die Auffassung vertreten, dass dem Fachmann bekannt ist, dass in Steuerungen eine gewisse Verzögerung zwischen der Generierung eines Steuersignals und der eigentlichen Steuerung liegt (Entscheidungsgründe, Seite 13, letzter Absatz). Somit wird der Fachmann bei der Umsetzung der Steuervorgänge nach D1, die letztendlich die Vermeidung von Erntegutverlusten beim Überladevorgang bezwecken, dieses Fachwissen nutzen und die zeitliche Verzögerung zwischen Signal und Durchführung bei der Steuerung des Traktors berücksichtigen. Dazu wird er auf naheliegende Weise einen Fahrbefehl an den Traktor - also das Steuersignal für das Transportfahrzeug im Sinne von Anspruch 1 - früher erzeugen, also bereits vor Erreichen der maximalen Füllhöhe oder der Außengrenze des Ladebehälters, und somit bereits bei Annäherung an einen kritischen Zustand. Somit gelangt er ohne erfinderisches Zutun zum Erfindungsgegenstand.
3.6.3 Ungeachtet dessen, dass konkrete Zeitangaben für die Dauer der Positionsänderung, also wie viel früher vor Erreichen der genannten kritischen Zustände ein Fahrbefehl an den Traktor erzeugt werden muss, im Anspruchswortlaut fehlen, stellen diese nach Auffassung der Kammer eine fachübliche Optimierung dar. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern umfasst der Begriff des Fachmanns einen erfahrenen Mann der Praxis, der insbesondere über die normalen Mittel und Fähigkeiten für routinemäßige Arbeiten und Versuche verfügt (RdBK, 9. Auflage 2019, I.D.8.1.1). Da der Fachmann gezwungen ist, bei der praktischen Umsetzung der Lehre der D1 die Signalverarbeitungseinheit 22 der D1 an die konkrete Paarung von Feldhäcksler und Traktor anzupassen, wird er durch Routineversuche geeignete Zeitangaben finden.
4. Aus diesen Gründen gelangt die Kammer im Gegensatz zur angefochtenen Entscheidung zu dem Ergebnis, das der Gegenstand von Anspruch 1 ausgehend von D1 nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruht, Artikel 56 EPÜ.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das europäische Patent wird widerrufen.