T 1131/19 22-09-2021
Download und weitere Informationen:
Vorrichtung zum Entmanteln eines Rohrendes einer mit einer Kunststoffbeschichtung beschichteten Brems- oder Kraftstoffleitung
Neuheit (ja)
Erfinderische Tätigkeit (ja)
Ausführbarkeit (ja)
Klarheit (ja)
Unzulässige Erweiterung (nein)
I. Der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 837 536 wurde mit der am 18. Februar 2019 zur Post gegebenen Entscheidung der Einspruchsabteilung zurückgewiesen. Dagegen wurde von der Einsprechenden form- und fristgerecht gemäß Artikel 108 EPÜ Beschwerde eingelegt.
II. Folgendes Dokument wird in dieser Entscheidung zitiert:
D1 (DE 101 40 925 A1).
III. Es fand am 22. September 2021 eine mündliche Verhandlung statt. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Basis des Hauptantrags eingereicht als Hilfsantrag 1 am 22. Oktober 2019 mit der Beschwerdeerwiderung.
IV. Anspruch 1 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
"Vorrichtung zum Entmanteln eines Rohrendes (1) einer mit einer Kunststoffbeschichtung (15) beschichteten Brems -oder Kraftstoffleitung (2), die einen metallischen Rohrkern (13) aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass die Vorrichtung zumindest ein Druckelement (25) aufweist, mit dem die Kunststoffbeschichtung (15) durch eine mechanische Walkbearbeitung vom Rohrkern (13) ablösbar ist, bei der die Kunststoffbeschichtung (15) wechselweise einer Druckbelastung und einer Druckentlastung unterworfen ist, und dass die Druckbelastung und die Druckentlastung durch das Druckelement (25) derart bemessen ist, dass die Kunststoffbeschichtung (15) bei der Walkbearbeitung unter Änderung der Gefügestruktur versprödet."
Anspruch 10 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
"Verfahren zum Entmanteln eines Rohrendes (1) einer mit einer Kunststoffbeschichtung (15) beschichteten Brems -oder Kraftstoffleitung (2), insbesondere mittels einer Vorrichtung nach einem der vorhergehenden Ansprüche, bei dem eine mechanische Walkbearbeitung der Kunststoffbeschichtung erfolgt, bei der die Kunststoffbeschichtung (15) wechselweise einer Druckbelastung und einer Druckentlastung unterworfen wird und darauffolgend von dem Rohrkern (13) abgelöst wird, wobei die Druckbelastung und die Druckentlastung durch das Druckelement (25) derart bemessen ist, dass die Kunststoffbeschichtung (15) bei der Walkbearbeitung unter Änderung der Gefügestruktur versprödet."
V. Die Einsprechende führte aus, dass die Erfindung nicht hinreichend klar und vollständig offenbart sei, derart dass der Fachmann sie ausführen könne. Insbesondere werde festgestellt, dass der Begriff "Walkbearbeitung" dem Fachmann nicht bekannt sei und in der einschlägigen Bedeutung nur im Streitpatent (im Folgenden als EP-B bezeichnet) und im prioritätsbegründenden Dokument (DE 10 2013 011 213 B3) verwendet werde.
Die angegriffene Entscheidung enthalte keine Erklärung, wie für den Fachmann der Begriff "Walkbearbeitung" gemäß EP-B mit dem aus dem aus Reifen aus Gummi bekannten Prozess des Walkens, welcher Energieverluste bei der Kraftübertragung beim Fahren bewirke, überhaupt vergleichbar sei. Hiergegen spreche bereits, dass die Beschwerdegegnerin selbst, die "Walkbearbeitung" gemäß EP-B als auf einem neuen physikalischen Prinzip beruhend bezeichne (siehe EP-B, Spalte 2, Zeilen 28-29).
Die Patentschrift enthalte keine Angaben wie durch eine, wie auch immer geartete, allgemeine Form der "Walkbearbeitung", d.h. eine Bearbeitung "bei der die Kunststoffbeschichtung wechselweise einer Druckbelastung und einer Druckentlastung unterworfen ist" (siehe erteilter Anspruch 1 bzw. EP-B, Absatz [0008], Zeilen 9-12), die Kunststoffbeschichtung von dem Rohrkern abzulösen sei.
Die bevorzugte Ausgestaltung des erteilten Anspruch 3 sei gerade ein Beleg dafür, dass die obige, allgemeine Definition der "Walkbearbeitung" gemäss dem Absatz [0008] von EP-B (und erteiltem Anspruch 1) keine für den Fachmann ausführbare Lehre darstelle.
Der Gegenstand des Verfahrensanspruchs 10 beinhalte einen über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinausgehenden Gegenstand, da sich die durch die Änderungen bedingten Merkmale in dieser Form weder aus den erteilten Ansprüchen noch aus der Beschreibung ergäben.
Zur Frage der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 des nunmehrigen Hauptantrags, welches insbesondere die Merkmale des erteilten Anspruchs 3 enthalte, werde nicht Stellung bezogen, da die Beschwerdekammer bereits entschieden habe, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des vormaligen, zurückgenommenen Hauptantrags (d.h. des erteilten Anspruchs 1) im Hinblick auf D1 neu und erfinderisch sei.
Absatz [0009] der Beschreibung des Streitpatents (EP-B) bedürfe aus Gründen der Klarheit einer Anpassung an den neuen Anspruch 1 (und Anspruch 10) des Hauptantrags, da ansonsten Zweifel darüber entstehen könnten, ob die sich aus der "Walkbearbeitung" ergebende Versprödung der Kunststoffbeschichtung (zwingend und notwendig) wesentlicher Bestandteil der Erfindung nach Anspruch 1 sei, oder lediglich eine bevorzugte Ausführungsform darstelle.
VI. Die Patentinhaberin legte dar, dass die Erfindung ausführbar sei. Im Sinne des Streitpatents (EP-B) sei der Begriff "Walkbearbeitung" stets als physikalischer Prozess zu verstehen, bei dem zwingend und notwendig die Kunststoffbeschichtung unter Änderung der Gefügestruktur verspröde und sich dadurch prozesssicher von dem metallischen Rohrkern ablösen lasse. Dieses sei ein neues physikalisches Wirkprinzip welches damit auf diesem speziellen Gebiet, im gegebenen technischen Zusammenhang des Anspruchs 1, zur Anwendung komme.
Folglich gebe es gemäß der Offenbarung von EP-B keine Unterscheidung zwischen einer allgemeinen "Walkbearbeitung" (die lediglich eine wechselweise erfolgende Druckbelastung und Druckentlastung der Kunststoffbeschichtung impliziere), wie von der Einsprechenden behauptet, und einer spezifischeren "Walkbearbeitung", bei der auch eine Versprödung der Kunststoffbeschichtung erfolge. Somit sei die beanspruchte technische Lehre ausführbar, da durch die "Walkbearbeitung", wie dem Fachmann bekannt sei, eine Materialermüdung und eine sich daraus ergebende Versprödung der Kunststoffschicht eintrete, die das Ablösen der Kunststoffschicht bewirke.
Also werde gemäß der Erfindung eine an sich "negative" Eigenschaft der Thermoplaste (Versprödung) zur Erzielung des gewünschten Ergebnisses (Ablösen der Kunststoffbeschichtung) und zur Lösung der gewünschten Aufgabe eingesetzt. Dies sei aus dem Stand der Technik nicht bekannt und auch nicht in naheliegender Weise ableitbar.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die Erfindung ist so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann die Erfindung ausführen kann (Artikel 83 EPÜ) .
Die Einwände der Einsprechenden basieren darauf, dass eine "Walkbearbeitung", die im weitesten Sinne allgemein lediglich als Prozess zu verstehen sei, bei dem "die Kunststoffbeschichtung wechselweise einer Druckbelastung und einer Druckentlastung unterworfen" sei (EP-B, Absatz [0008]; erteilter Anspruch 1 und 11), vom Fachmann nicht ausführbar sei. Insbesondere sei nicht ersichtlich, wie eine solche allgemeine "Walkbearbeitung" zu einer Ablösung der Kunststoffbeschichtung vom metallischen Rohrkern führen könne.
Die Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass durch den Wortlaut des geänderten Anspruchs 1 (und 10) gemäss dem geltenden Hauptantrag nunmehr eindeutig feststeht, dass "die Druckbelastung und die Druckentlastung durch das Druckelement (25) derart bemessen ist, dass die Kunststoffbeschichtung (15) bei der Walkbearbeitung unter Änderung der Gefügestruktur versprödet".
Die technische Lehre von EP-B impliziert folglich keine allgemeine "Walkbearbeitung", bei der die Kunststoffbeschichtung lediglich einer Druckbelastung und einer Druckentlastung unterworfen ist und nicht notwendig und zwingend durch Änderung der Gefügestruktur versprödet.
Dies wird auch durch die Offenbarung in Absatz [0009] von EP-B bestätigt, wonach "im Unterschied zum Stand der Technik ... die Kunststoffbeschichtung weder durch Abschälen noch durch Laserbearbeitung abgetragen" wird, "vielmehr wird die abzutragende Kunststoffbeschichtung einer Walkarbeit unterworfen, bei der die Kunststoffbeschichtung unter Änderung der Gefügestruktur versprödet und sich dadurch prozesssicher von dem metallischen Rohrkern ablösen lässt".
Der Fachmann entnimmt folglich aus der Offenbarung von EP-B implizit, wie auch seitens der Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung betont wurde, dass die "Walkbearbeitung" notwendig und zwingend während einer hinreichenden Zeitspanne auszuführen ist, damit durch Materialermüdung die Versprödung der Gefügestruktur der Kunststoffbeschichtung und deren Ablösen vom metallischen Rohrkern eintritt. Es entspricht auch dem allgemeinen Fachwissen, dass die Materialermüdung bei Thermoplaste zur Versprödung der Gefügestruktur führen kann. Dies wurde von der Beschwerdeführerin nicht bestritten.
Da im übrigen der vorliegende Anspruch 1 die Erfindung im Sinne der im Patent offenbarten Walkbearbeitung definiert, ist nicht erkennbar, warum der Fachmann nicht in der Lage sein sollte, diese auszuführen.
3. Der Gegenstand des Verfahrensanspruchs 10
verstößt nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ, da er nicht über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinausgeht. Tatsächlich sind die hinzugefügten Merkmale aus Absatz [0029] der Beschreibung entnommen (siehe veröffentlichte Patentanmeldung (als EP-A bezeichnet)). Die Trennung dieser Merkmale vom gegebenen Kontext führt nicht zu einer Erweiterung des Anmeldungsgegenstands, da diese isolierten Merkmale bereits in dieser Form im abhängigen Anspruch 3 von EP-A auftreten.
4. Der Gegenstand des Anspruchs 1 (und des Anspruchs 10) ist im Hinblick auf D1 neu (Artikel 54 EPÜ) und auch nicht naheliegend (Artikel 56 EPÜ).
Dies folgt unmittelbar aus der Entscheidung der Beschwerdekammer zum Gegenstand des Anspruchs 1 des vormaligen, von der Beschwerdegegnerin zurückgenommenen Hauptantrags (erteilter Anspruch 1). Hierzu befand die Beschwerdekammer, dass das Merkmal (des erteilten Anspruchs 1 und des Anspruchs 1 (und 10) gemäß geltendem Hauptantrag) wonach "die Vorrichtung zumindest ein Druckelement (25) aufweist, mit dem die Kunststoffbeschichtung (15) durch eine mechanische Walkbearbeitung vom Rohrkern (13) ablösbar ist, bei der die Kunststoffbeschichtung (15) wechselweise einer Druckbelastung und einer Druckentlastung unterworfen ist" in D1 nicht offenbart ist und sich im Hinblick auf D1 für den Fachmann auch nicht in naheliegender Weise ergibt.
Die Beschwerdekammer kam zu diesem Schluss, weil sie der Auffassung war, dass erstens gemäss D1 die Kunststoffbeschichtung bereits an der Stirnfläche der Rollwerkzeuge über die Fase 28 vollständig abgeschoben wird (siehe D1, [0029]), und zweitens "da die Rollwerkzeuge eine definierte Position besitzen, so dass deren Inkreis dem kalibrierten Aussendurchmesser des entschichteten Rohrendes entspricht" (siehe D1, [0008]). Damit wird gemäß D1 die Kunststoffbeschichtung nicht einer Walkbearbeitung im Raum zwischen den Rollwerkzeugen unterworfen.
5. Die Beschreibung wurde dem neuen Anspruchssatz angepasst um den Erfordernissen von Artikel 84 EPÜ Rechnung zu tragen. Dabei war eine Anpassung von Absatz [0009] von EP-B nicht notwendig, da der angepasste Absatz [0007] unmissverständlich klar macht, dass die gestellte Aufgabe durch die Merkmale des Patentanspruchs 1 oder des Patentanspruchs 10 gelöst wird. Damit ist auch laut der Beschreibung klar, dass das Merkmal wonach "die Druckbelastung und die Druckentlastung durch das Druckelement (25) derart bemessen ist, dass die Kunststoffbeschichtung (15) bei der Walkbearbeitung unter Änderung der Gefügestruktur versprödet" ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil der Erfindung ist.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit
der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent in geändertem
Umfang mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:
Beschreibung:
Spalten 1 bis 5 eingereicht während der mündlichen
Verhandlung.
Ansprüche:
Nr.1-10 gemäß Hauptantrag eingereicht als Hilfsantrag 1
am 22. Oktober 2019 mit der Beschwerdeerwiderung.
Zeichnungen:
Figuren der Patentschrift.