European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2022:T139019.20220524 | ||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Datum der Entscheidung: | 24 Mai 2022 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1390/19 | ||||||||
Anmeldenummer: | 03750586.4 | ||||||||
IPC-Klasse: | A61L 29/16 A61L 31/16 |
||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
Download und weitere Informationen: |
|
||||||||
Bezeichnung der Anmeldung: | MEDIZINISCHE VORRICHTUNG ZUR ARZNEIMITTELABGABE | ||||||||
Name des Anmelders: | Bayer Intellectual Property GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Cook Medical Technologies LLC C.R. Bard, Inc. |
||||||||
Kammer: | 3.3.10 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
|
||||||||
Schlagwörter: | Änderungen - zulässig (ja) Neuheit - (ja) Erfinderische Tätigkeit - (ja) |
||||||||
Orientierungssatz: |
- |
||||||||
Angeführte Entscheidungen: |
|
||||||||
Anführungen in anderen Entscheidungen: |
|
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerden richten sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent EP 1 539 267 unter Artikel 101(3)(a) EPÜ in geänderter Form aufrechtzuerhalten.
II. Im Einspruchsverfahren war das Patent auf der Grundlage von Artikel 100(a) EPÜ wegen mangelnder Neuheit (Artikel 54 EPÜ) und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ), sowie unter Artikel 100(b) und (c) EPÜ angegriffen worden.
III. Unter anderem wurde auf die folgenden Dokumente verwiesen, die auch für die vorliegende Entscheidung relevant sind:
D3: WO 02/076509
D4: US 2003/0153870
D10: US 6,197,013
D11: US 5,797,935
D23: US 6,394,995
IV. In ihrer Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, Anspruch 1 des erteilten Patents sei unzulässig geändert worden (Artikel 123(2) EPÜ). Demgegenüber erfülle der ihr vorliegende Hilfsantrag 1 die Erfordernisse der Artikel 83, 84, 123(2) und (3), sowie 53(c), 54 und 56 EPÜ.
V. Gegen diese Entscheidung wurden von der Patentinhaberin, sowie von der Einsprechenden 2 Beschwerden eingelegt.
VI. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Meinung mit und verwies auf Punkte, die im Laufe der mündlichen Verhandlung zur Erörterung kommen könnten.
VII. Am 24. Mai 2022 fand eine mündliche Verhandlung statt.
VIII. Der für die vorliegende Entscheidung relevante Anspruch 1 des vorliegenden Hauptantrags (erteilten Patents) hat den folgenden Wortlaut:
"Medizinische Vorrichtung zur Arzneimittelabgabe, welche einen Ballonkatheter (12) mit einem Ballon (14) umfasst, wobei an der Oberfläche des Ballons (14) ein lipophiler, weitgehend wasserunlöslicher, an beliebige Gewebebestandteile bindender Arzneistoff mit nach Gewebekontakt sofortiger Wirkstofffreigabe haftet, wobei der Ballonkatheter (12) weiterhin mindestens eine aus dem Ballon herausragende oder auf der Oberfläche des Ballons (14) aufsitzende Vorrichtung (24) zur Schlitzung von Stenosen zumindest im Bereich der erkrankten Gewebsabschnitte oder Organteile aufweist."
IX. In ihrer Beschwerdebegründung und im weiteren Verfahren brachte die Beschwerdeführerin-Patentinhaberin (im folgenden die Patentinhaberin) hinsichtlich des für die vorliegende Entscheidung relevanten Antrags - des Patents in der erteilten Fassung - im Wesentlichen folgendes vor:
Die Entscheidung der Einspruchsabteilung sei fehlerhaft, da Anspruch 1 des erteilten Patents während des Erteilungsverfahrens nicht unzulässig geändert worden sei. Es finde sich eine Basis für den Anspruch in der ursprünglich eingereichten Beschreibung (Artikel 123(2) EPÜ). Der im erteilten Patent beanspruchte Gegenstand sei zudem neu, insbesondere im Hinblick auf die Offenbarungen der Dokumente D3 und D10 (Artikel 54 EPÜ). Er beruhe auch auf einer erfinderischen Tätigkeit, und zwar ausgehend von der technischen Lehre des Dokuments D3 als nächstliegendem Stand der Technik.
X. In ihrer Beschwerdebegründung und im weiteren Verfahren brachte die Beschwerdeführerin-Einsprechende 2 (im folgenden die Einsprechende) hinsichtlich des für die vorliegende Entscheidung relevanten Patents in seiner erteilten Fassung im Wesentlichen folgendes vor:
Anspruch 1 sei gegenüber der ursprünglich eingereichten Fassung unzulässig geändert worden, da im geänderten Anspruch wesentliche Anspruchsmerkmale nicht mehr enthalten seien (Artikel 123(2) EPÜ). Die beanspruchte medizinische Vorrichtung sei nicht neu im Lichte der Offenbarungen der Dokumente D3 und D10 (Artikel 54 EPÜ), und beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit,und zwar ausgehend von jedem der Dokumente D3 und D10 als möglichem nächstliegenden Stand der Technik (Artikel 56 EPÜ).
XI. Anträge der Parteien
Die Patentinhaberin beantragt, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten. Hilfsweise beantragt sie die Aufrechterhaltung auf der Basis der Hilfsanträge 1 bis 9, die bereits im Einspruchsverfahren vorgelegt worden waren.
Die Einsprechende beantragt, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Patent vollständig zu widerrufen.
Entscheidungsgründe
Hauptantrag (Patent in der erteilten Fassung)
1. Änderungen (Artikel 100(c) und 123(2) EPÜ)
1.1 Nachfolgend verweist die Kammer, wie die Parteien und die Einspruchsabteilung, im Zusammenhang mit Änderungen gegenüber der Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung auf die veröffentlichte Anmeldung des Streitpatents, Dokument WO 2004/028610 A2.
1.2 Anspruch 1 der ursprünglich eingereichten Anmeldung hat den folgenden Wortlaut:
"Medizinische Vorrichtung zur Arzneimittelabgabe für die selektive Therapie bestimmter erkrankter Gewebeabschnitte oder Organteile, dadurch gekennzeichnet,
dass an der Oberfläche von zumindest kurzzeitig das erkrankte Gewebe unter Druck kontaktierenden Vorrichtungen lipophile, weitgehend wasserunlöslichen, an beliebige Gewebebestandteile bindende Arzneistoffe mit nach Gewebekontakt sofortiger Wirkstofffreigabe haften, wobei als Wirkstoffträger mindestens ein Ballonkatheter (12) vorgesehen ist und der Ballonkatheter (12) mindestens eine aus mindestens einem Ballon (14) herausragende oder auf der Oberfläche des Ballons (14) aufsitzende Vorrichtung (24) zur Schlitzung von Stenosen zumindest im Bereich der erkrankten Gewebsabschnitte oder Organteile aufweist."
1.3 Die Einspruchsabteilung hat in ihrer Entscheidung festgestellt, dass der geänderte Anspruch 1 keine Basis in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen habe, insbesondere nicht im darin enthaltenen Anspruch 1. Ihrer Ansicht nach sei ausgehend von diesem Anspruch das Merkmal "zumindest teilweise erkranktes Gewebe unter Druck kontaktierenden" gestrichen worden. Dies führe zu einer unerlaubten Zwischenverallgemeinerung.
1.4 Die Patentinhaberin brachte vor, dass Anspruch 1 des erteilten Patents eine Basis in der ursprünglich eingereichten Beschreibung finde, und zwar ohne dass hierzu zusätzlich auf den Wortlaut des ursprünglich eingereichten Anspruchs 1 zurückgegriffen werden müsse. Sie verwies hierzu insbesondere auf die Zeilen 1 bis 18 der Seite 4 in Verbindung mit den Zeilen 7 und 8 der Seite 8 sowie den Zeilen 13 bis 15 der Seite 5 der ursprünglichen Beschreibung. Unter Berücksichtigung dieser Offenbarungen liege ihrer Ansicht nach keine von der Einspruchsabteilung festgestellte unerlaubte Zwischenverallgemeinerung vor.
1.5 Von der Einsprechenden wurde vorgebracht, dass der geänderte Anspruch 1 weder eine Basis im ursprünglichen Anspruch 1, noch in den von der Patentinhaberin herangezogenen Stellen der ursprünglich eingereichten Beschreibung habe. Insbesondere werde an diesen Stellen zusätzlich offenbart, dass es sich bei dem lipophilen Wirkstoff um einen "stark" lipohilen Wirkstoff handle (Seite 8, Zeile 7). Dass hierin ein Unterschied bestehe gehe aus der Angabe eines Verteilungskoeffizienten an der entsprechenden Stelle hervor. Auch finde sich an den genannten Stellen lediglich eine Basis für die Anwesenheit mehrerer Arzneistoffe, wohingegen im geänderten Anspruch 1 auch lediglich ein einzelner vorhanden sein könne. Diese Arzneistoffe müssten zudem stark wirksam sein (Seite 8, Zeilen 8 bis 10). Keines dieser Merkmale werde jedoch im geänderten Anspruch berücksichtigt. Zudem werde an den genannten Stellen nicht das anspruchsgemäße Merkmal offenbart, dass die sofortige Wirkstofffreigabe "nach Gewebekontakt" erfolge. Dieses Merkmal könne lediglich Anspruch 1 der eingereichten Fassung entnommen werde, der jedoch zusätzlich das sich auf das Kontaktieren unter Druck beziehende Merkmal beinhalte. Insgesamt sei somit die von der Einspruchsabteilung angeführte Begründung korrekt.
1.6 Die Kammer folgt aus folgenden Gründen den Ausführungen der Patentinhaberin:
1.6.1 In den Zeilen 1 bis 18 der Seite 4 werden "arzneistofftragende Ballonkatheter oder ähnliche medizinische Vorrichtungen" offenbart, die eine "sofortige Wirkstofffreigabe ermöglichen" (Zeilen 1 bis 4). Der Fachmann entnimmt der Seite 4 des weiteren die Anspruchsmerkmale, wonach der Ballonkatheter eine aus dem "Ballon herausragende oder auf der Oberfläche des Ballons aufsitzende Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen zumindest im Bereich der erkrankten Gewebsabschnitte oder Organteile aufweist" (Zeilen 15 bis 18). Dem Fachmann wird somit eine medizinische Vorrichtung zur Arzneimittelabgabe offenbart, welche einen Ballonkatheter mit einem Ballon umfasst wobei der Ballonkatheter zudem die sich auf die Vorrichtung zum Schlitzen von Stenosen beziehenden Merkmale des Anspruchs 1 aufweist.
1.6.2 Anspruch 1 verlangt zudem, wie von der Einsprechenden vorgebracht wurde, dass der Arzneistoff an der Oberfläche des Ballons haftet und dass die sofortige Wirkstofffreigabe "nach Gewebekontakt" auftritt. Diese Merkmale werden in den Zeilen 1 bis 18 der Seite 4 nicht explizit offenbart. Jedoch wird an anderer Stelle beschrieben (siehe die Zeilen 13 bis 15 der Seite 5), dass die Arzneistoffe auf dem Weg zum Ziel auf dem Ballon haften, und dann während der kurzen Kontaktzeit an das Gewebe abgegeben werden. Das genannte Merkmal wird daher ebenfalls offenbart, und der Fachmann wird dieses auch in Verbindung mit den auf der Seite 4 der Beschreibung genannten Merkmalen lesen.
1.6.3 Aus den Zeilen 8 und 9 der Seite 8 entnimmt der Fachmann darüber hinaus, dass als Arzneistoffe "stark lipophile, weitgehend wasserunlösliche an beliebige Gewebebestandteile bindende stark wirksame Arzneistoffe" in Frage kommen. Der Fachmann wird auch diese Offenbarung in Verbindung mit der medizinischen Vorrichtung zur Arzneimittelabgabe lesen (siehe den vorstehenden Absatz).
Zwar offenbart die genannte Stelle "stark" lipophile Arzneistoffe, jedoch hält die Kammer das Vorbringen der Patentinhaberin dahingehend für überzeugend, dass mit dem Begriff "stark" im vorliegenden Zusammenhang keine zusätzliche technische Information verbunden ist. Insbesondere enthalten weder die ursprüngliche Beschreibung, noch die ursprünglichen Ansprüche Hinweise darauf, dass zwischen "lipophil" und "stark lipophil" zu unterscheiden ist. Bereits in den Zeilen 8 bis 9 der Seite 8 wird zwar zunächst auf "stark lipophile" Arzneistoffe verwiesen, jedoch wird direkt im Anschluss daran beschrieben, was unter die Bezeichnung "lipophile Arzneistoffe" fällt. Ebenso bezeichnet im vorliegenden Fall das Merkmal "Arzneistoff" im Anspruch 1 keinen im Vergleich zu der in den Zeilen 8 und 9 der Seite 8 verwendeten Bezeichnung "stark wirksame Arzneistoffe" unterschiedlichen technischen Sachverhalt. Die Kammer kann auch nicht erkennen, inwiefern die sich auf die Arzneistoffe beziehenden Stellen der Beschreibung des Streitpatents nicht auch die Anwesenheit eines einzelnen Arzneistoffs offenbaren.
1.7 Für den Fachmann ergeben sich daher durch den geänderten Anspruch 1 keine technischen Sachverhalte, die er nicht schon den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen entnehmen konnte, auch wenn in der ursprünglichen Beschreibung nicht der exakte Wortlaut des Anspruchs 1 offenbart wird. Daher erfüllt Anspruch 1 des erteilten Patents die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ.
2. Neuheit (Artikel 100(a) und 54 EPÜ)
2.1 Die Einsprechende brachte vor, die beanspruchte Vorrichtung sei nicht neu im Lichte der Offenbarungen der Dokumente D3 und D10. Dies wurde von der Patentinhaberin bestritten.
2.2 Dokument D3
2.2.1 Die Einsprechende argumentierte ausgehend von Beispiel 7a des Dokuments. Strittig zwischen den Parteien war insbesondere, ob aus dem Dokument unmittelbar und eindeutig hervorgeht, dass der darin offenbarte Katheter auch "mindestens eine aus dem Ballon herausragende oder auf der Oberfläche des Ballons aufsitzende Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen (...) aufweist."
2.2.2 Nach Ansicht der Einsprechenden werde dieses Merkmal durch die im Beispiel 7a als alternativ bezeichnete Ausführungsform offenbart. Darin werde beschrieben, dass auf den Ballonkatheter im Bereich des Ballons ein Stent aufgebracht wird. Ein Stent sei dazu geeignet, Stenosen zu schlitzen. Diese Auffassung sei sowohl durch die Absätze [0023] und [0055] der Beschreibung des Streitpatents als auch durch dessen Ansprüche 2 und 3 gestützt. Darin werde die Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen strukturell sehr breit beschrieben, nämlich lediglich dadurch, dass sie aus einer drahtartigen Vorrichtung bestehe, die gegebenenfalls eine gitterartige Konstruktion bilde. Dies treffe auch auf Stents zu. Zudem werde im Absatz [0023] explizit auf mit Stents versehene Ballonkatheter verwiesen.
2.2.3 Die Kammer erachtet das Vorbringen der Einsprechenden aus folgenden Gründen nicht als überzeugend:
Im Beispiel 7a wird dem Fachmann offenbart, dass auf den beschriebenen Ballonkatheter ein Stent aufgebracht wird. Dass es sich dabei um eine Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen handelt, wird dem Fachmann an dieser Stelle jedoch nicht offenbart. Von der Einsprechenden wurden auch keine anderen Stellen im Dokument D3 herangezogen, die eine diesbezügliche Offenbarung beinhaltet. Auch aus den von der Einsprechenden herangezogenen Passagen des Streitpatents lässt sich eine derartige Funktion nicht entnehmen. Zwar wird in Absatz [0023] des Streitpatents eine Ausführungsform beschrieben, bei der ein Stent auf einen beschichteten Ballonkatheter geschoben wird. Jedoch wird der Fachmann nach Auffassung der Kammer darunter nicht die anspruchsgemäße aus der Ballonoberfläche herausragende oder auf dieser aufsitzende Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen verstehen. Vielmehr wird eine solche Vorrichtung beispielhaft in den Absätzen [0015] (Zeilen 23 bis 32 der Spalte 3) und [0055] bis [0058] in Verbindung mit der Figur des Streitpatents beschrieben, nämlich als mindestens eine drahtartige Vorrichtung, die die parallel zur Längsachse des Ballons angeordnet ist, insbesondere aber als zwei oder mehreren drahtartigen Vorrichtungen, die eine gitterartige Konstruktion bilden. Alternativ besteht die Schlitzvorrichtung aus mindestens einer klingenartigen Vorrichtung oder aus einem aus dem Ballon herausragenden oder auf der Oberfläche des Ballons aufsitzenden Vorsprung. Nach Ansicht der Kammer handelt es sich dabei weder um den im Absatz [0023] genannten Stent, noch wird an diesen Stellen generell ein Stent beschrieben. Ebenso liefern die Ansprüche 2 und 3 diesbezüglich keine zusätzlichen Informationen. Daher kann der Fachmann auch unter Zuhilfenahme der Angaben des Streitpatents Dokument D3 nicht eindeutig und unzweifelhaft entnehmen, dass es sich bei dem im Beispiel 7a genannten Stent um eine Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen handelt.
2.2.4 Bereits aus diesem Grund ist die beanspruchte Vorrichtung zur Arzneimittelabgabe neu gegenüber der Offenbarung des Dokuments D3 (Artikel 54 EPÜ).
2.3 Dokument D10
2.3.1 Die Einsprechende stützte ihr Vorbringen vor allem auf die Abbildungen 4 und 8 des Dokuments D10. Strittig zwischen den Parteien war dabei insbesondere, ob der Fachmann die im Dokument als "probes 5" bezeichneten Überstände eindeutig und unzweifelhaft als "Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen" ansieht.
2.3.2 Nach Ansicht der Kammer ist dies aus folgenden Gründen nicht der Fall:
Im Dokument D10 werden Vorrichtungen offenbart, die Überstände ("probes 5") aufweisen. Gemäß den Erläuterungen der Zeilen 2 bis 9 der Spalte 3 bestehen diese, von den Parteien als pyramidenförmig bezeichneten Überstände aus Seitenflächen 6 und scharfen Spitzen 7, welche eine Plaque durchdringen kann, um dadurch den Transport eines Wirkstoffs an seinen Bestimmungsort zu ermöglichen. Die Überstände sind bevorzugt kegelförmig ausgebildet (Spalte 3, Zeilen 43 bis 44). Die Kammer folgt den Ausführungen der Patentinhaberin, wonach die derart geformten Überstände zwar eine Vielzahl mehr oder weniger großer Löcher in einer Plaque hervorrufen, dass diese jedoch, auch aufgrund der beabsichtigten Verwendung - nämlich der Abgabe eines Wirkstoffs über die durch die "probes" auf der Innenseite einer Gefäßwand gebildeten Löcher (siehe den Anspruch 1 des Dokuments D10) - keine Schlitze verursachen. Die Kammer folgt den Ausführungen der Patentinhaberin auch dahingehend, dass selbst bei einem unbeabsichtigten Hin-und Herbewegen der mit den pyramidenförmigen Überständen ausgestatteten Ballonkatheters innerhalb des Gefäßes keine Schlitze entstehen, sondern allenfalls ungewollte Vergrößerungen der zunächst gebildeten Löcher. Eine Schlitzung des Gewebes kann auch aufgrund der kegelförmigen Ausgestaltung der Überstände nicht erfolgen. Somit wird auch im Dokument D10 dem Fachmann nicht eindeutig und unzweifelhaft eine Vorrichtung zur Arzneimittelabgabe offenbart, die über eine anspruchsgemäße Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen verfügt.
2.3.3 Die im Hauptantrag beanspruchte Vorrichtung zur Arzneimittelabgabe ist bereits aus diesem Grund auch neu gegenüber der Offenbarung des Dokuments D10 (Artikel 54 EPÜ).
2.4 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der beanspruchte Gegenstand neu ist gegenüber der Offenbarung der Dokumente D3 und D10 (Artikel 54 EPÜ).
3. Erfinderische Tätigkeit (Artikel 100(a) und 56 EPÜ)
Nächstliegender Stand der Technik
3.1 Die Einsprechende hat erfinderische Tätigkeit ausgehend von der Offenbarung der Dokumente D3 und D10 als möglichem nächstliegenden Stand der Technik argumentiert. Die Patentinhaberin sieht lediglich im Dokument D3 eine geeignete Wahl des nächstliegenden Stands der Technik.
3.2 Aus den nachfolgend angeführten Gründen eignet sich die Offenbarung des Dokuments D3 besser als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit:
Das Streitpatent betrifft medizinische Vorrichtungen, insbesondere Ballonkatheter, zur Arzneimittelabgabe für die selektive Therapie bestimmter Gewebeabschnitte oder Organteile (Absatz [0001] der Beschreibung). Die Patentinhaberin hat sich zur Aufgabe gestellt, eine Vorrichtung bereitzustellen, die ohne schädigenden Einfluss auf gesundes Gewebe eine starke therapeutische Wirkung ausübt, den Patienten nur wenig belastet und mit geringem Aufwand angewendet und hergestellt werden kann (Absatz [0013]).
Dokument D3 bezieht sich auf mit Wirkstoffen beschichtete Ballonkatheter und ihre Verwendung zur Restenoseprophylaxe (Seite 1, Zeilen 4 bis 6). Im Dokument wird auf die Vorteile einer örtlich begrenzten Behandlung verwiesen, welche die Belastung des Patienten auf ein Minimum reduziert (Seite 9, Zeilen 20 bis 25). Dies ist die gleiche Aufgabe, die sich das Streitpatent stellt.
Dokument D10 hingegen beschäftigt sich mit einer effizienten Übertragung von Wirkstoffen, insbesondere DNA-haltigem Material durch Plaques in Arterien (Spalte 2, Zeilen 23 bis 25 und Spalte 6, Zeilen 6 bis 8). Hierzu werden insbesondere Vorrichtungen zur Verfügung gestellt, deren Überstände mit Wirkstoffen beschichtet werden. Im Dokument D10 wird das Ziel verfolgt, Wirkstoffe über die Spitzen der auf einem Katheter aufgebrachten Überstände an das Gewebe abzugeben (Spalte 3, Zeilen 2 bis 9). Die Wirkstoffe in D10 befinden sich nicht, wie vorliegend beansprucht, auf der Ballonoberfläche, sondern auf den daraus ragenden Überständen (Spalte 11, Zeilen 56 bis 58). Dokument D10 offenbart auch keine Vorrichtung zum Schlitzen von Stenosen, wie von der Einsprechenden vorgebracht, und liegt daher nicht näher am beanspruchten Gegenstand als D3 (siehe Punkt 2.3.2 dieser Entscheidung).
Wie nachstehend gezeigt, erachtet die Kammer die beanspruchte Vorrichtung ausgehend von Dokument D3 als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend. Da sich diese Vorrichtung auch von den im Dokument D10 offenbarten Vorrichtungen zumindest durch die Anwesenheit der Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen unterscheidet, führt auch eine Betrachtung ausgehend von Dokument D10 als möglichem nächstliegenden Stand der Technik zu derselben Schlussfolgerung.
Unterscheidungsmerkmal und technische Aufgabe
3.3 Die beanspruchte Vorrichtung umfassend einen Ballonkatheter mit einem Ballon unterscheidet sich von dem im Dokument D3 offenbarten Ballonkatheter dadurch, dass "der Ballonkatheter (...) eine aus dem Ballon herausragende oder auf der Oberfläche des Ballons aufsitzende Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen zumindest im Bereich der erkrankten Gewebsabschnitte oder Organteile aufweist." (siehe unter Punkt 2.2 dieser Entscheidung).
3.4 Die Patentinhaberin verwies auf Absatz [0015] der Beschreibung des Streitpatents. Dort werde offenbart, dass durch "die Ausbildung einer Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen (...) kalzifizierte Gefäßverengungen oder In-Stent-Restenosen geschlitzt werden, wodurch die Elastizität der so behandelten Gewebeabschnitte deutlich erhöht wird und zudem die Zugänglichkeit für die Arzneistoffe verbessert wird". Die Patentinhaberin leitete daraus als technische Aufgabe die Bereitstellung einer medizinischen Vorrichtung mit verbesserter Arzneistoffabgabe ab.
3.5 Von der Einsprechenden wurde vorgebracht, dass weder gezeigt wurde, ob es durch das Unterscheidungsmerkmal tatsächlich zu einer Verbesserung der Zugänglichkeit für die Arzneistoffe komme, noch dass dies glaubhaft sei. Ebenso sei auch nicht belegt worden, dass die Elastizität der behandelten Gewebeabschnitte erhöht werde. Daher sei die gelöste technische Aufgabe lediglich in der Bereitstellung einer Alternative zu sehen.
3.6 In Ermangelung von geeigneten Nachweisen bezüglich etwaiger Verbesserungen gegenüber der im Dokument D3 offenbarten Vorrichtungen folgt die Kammer der Auffassung der Einsprechenden, wonach die objektive technische Aufgabe zumindest in der Bereitstellung einer Alternative zu dem aus Dokument D3 bekannten Ballonkatheter gesehen werden kann. Da die Kammer zudem, wie nachstehend erläutert, zu der Auffassung gelangt, dass bereits dieses Problem in nicht-naheliegender Weise gelöst wurde, erübrigt sich eine Beurteilung von erfinderischer Tätigkeit ausgehend von ambitionierteren Problemstellungen.
Vorgeschlagene Lösung
3.7 Dieses Problem wird anspruchsgemäß durch die medizinische Vorrichtung gemäß Anspruch 1 gelöst, die eine Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen aufweist.
Nicht-Naheliegen der vorgeschlagenen Lösung
3.8 Die Einsprechende sah die vorgeschlagene Lösung als für den Fachmann naheliegend an. Bereits im Dokument D3 werde darauf verwiesen, dass die Vermeidung von Gefäßverletzungen zu einer Verringerung von Restenosen führe (Seite 1, Zeilen 14 bis 26). Dieses Problem sei bereits gelöst, nämlich wie beispielsweise im Absatz [0032] in Verbindung mit Abbildung 15 des Dokuments D4 beschrieben durch die Verwendung von Ballonkathetern mit Elementen, die zur Bildung von Schlitzen in Stenosen führten. Dies führe zu einer Verringerung an Traumata an den behandelten Gefäßen. Auch aus Dokument D11 sei dem Fachmann dieser Zusammenhang bekannt (Abbildung 12, Bezugszeichen 12 sowie Spalte 1, Zeilen 55 bis 56 und Spalte 2, Zeilen 24 bis 32). Daher werde der Fachmann die technische Lehre des Dokuments D3 durch das Aufbringen einer Schlitzvorrichtung abändern, ohne dass er dabei erfinderisch tätig werden müsse.
3.9 Die Kammer erachtet diese Argumentation der Einsprechenden nicht als überzeugend. Wie von der Patentinhaberin vorgebracht, kennt der Fachmann zwar den von der Einsprechenden geltend gemachten Zusammenhang zwischen einer Schlitzung von Stenosen und einer damit verbundenen Verringerung von Traumata im behandelten Gewebe, jedoch wird in keinem der von der Einsprechenden herangezogenen Dokumente die Kombination einer Schlitzvorrichtung mit einem wirkstoff-beschichteten Ballonkatheter nahegelegt. So werden in den Dokumenten D4 und D11 lediglich Ballonkatheter offenbart, die zwar über eine Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen verfügen, jedoch wird darin die Verwendung der Katheter auch zur Verabreichung von Arzneimitteln nicht offenbart. Daher wird auch eine Kombination der beiden Maßnahmen nicht nahegelegt. Zwar wird, wie von der Patentinhaberin vorgebracht, beispielsweise im Dokument D23 offenbart, verschiedene Vorgänge durchzuführen, jedoch wird dem Fachmann darin gelehrt, diese verschiedene Vorgänge sequentiell durchzuführen (Spalte 6, Zeilen 11 bis 21), und somit also nicht unter Verwendung eines Katheters, der an der Oberfläche des Ballons einen Arzneistoff trägt und der weiterhin mindestens eine Vorrichtung zur Schlitzung von Stenosen aufweist. Eine anspruchsgemäße Anordnung wird dem Fachmann somit aus dem herangezogenen Stand der Technik nicht nahegelegt.
3.10 Somit beruht der Gegenstand von Anspruch 1 des erteilten Patents auch auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.
4. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass keiner der von der Einsprechenden gegen die Gewährbarkeit des Patents in der erteilten Fassung vorgebrachten Gründe durchgreifend ist.
Weitere Anträge
5. Da keiner der vorgebrachten Gründe gegen die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Form spricht, können die vorgelegten Hilfsanträge 1 bis 9 unberücksichtigt bleiben.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird in der erteilten Fassung aufrechterhalten.