T 2774/19 03-05-2022
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GELAGERTE HAUPTWELLE FÜR EINE WINDKRAFTANLAGE
I. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, den Einspruch gegen das Streitpatent zurückzuweisen.
Die Einspruchsabteilung hatte unter anderem entschieden, dass der Gegenstand der Ansprüche in der erteilten Fassung auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
II. Am 3 Mai 2022 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
III. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
IV. Anspruch 1 des einzigen Antrags (Patent wie erteilt), lautet (Merkmalsgliederung von der Kammer hinzugefügt):
M1.1 |"Gelagerte Hauptwelle für eine Windkraftanlage, beinhaltend folgende Merkmale: |
M1.2 |- Eine erste Lagerstelle umfasst eine Rollenlagerung mit wenigstens einer Rollenreihe, |
M1.3 |- die Rollenlagerung ist als |
M1.3a|eine Pendelrollenlagerung oder |
M1.3b|eine Toroidalrollenlagerung ausgebildet, |
M1.4 |- die Rollenlagerung umfasst wenigstens ein einstückig ausgebildetes Laufbahnelement, auf dem die Rollen zum Abrollen vorgesehen sind,|
M1.5 |- unmittelbar an dem Laufbahnelement sind Dichtmittel zum Abdichten eines die Rollen beinhaltenden Raumes angeordnet, |
M1.6 |- die Dichtmittel umfassen |
M1.6a|eine berührungslose Dichtung oder |
M1.6b|eine, an einer Gegenfläche zum schleifenden Anliegen vorgesehene Dichtung, |
|gekennzeichnet dadurch, dass |
M1.7 |- ein Rollenlager mit in das Rollenlager integrierten Dichtungen eingesetzt ist. |
V. Für die vorliegende Entscheidung waren die folgenden Dokumente relevant:
E1|WO 2006/019347 A1JP63-297175|
E2|DE 103 10 639 A1 |
VI. Die Beschwerdeführerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
E1, Figur 1, offenbarte ein Pendelrollenlager gemäß den Anspruchsmerkmalen M1.3 bis M1.7.
Die durch die Unterscheidungsmerkmale M1.1 und M1.2 gelöste Aufgabe sei eine mögliche Anwendung für das Lager der E1 zu finden.
In der E2 sei eine Windkraftanlage mit einer durch ein Pendelrollenlager gelagerte Hauptwelle offenbart. Absatz [0014] der E2 beschreibe die Anforderungen an dieses Lager. Das in der E1 gezeigte Lager entspreche genau diesen Anforderungen. Daher sei es für den Fachmann naheliegend, das Lager der E1 für die Lagerung einer Hauptwelle einer Windkraftanlage zu verwenden, insbesondere da diese Anwendung keinen überraschenden Effekt oder irgendwelche Synergien bewirke. Ferner lieferten weder E1 noch E2 technische Argumente gegen eine Anwendung des Lagers der E1 für die Lagerung einer Hauptwelle einer Windkraftlage.
Der Fachmann gelange somit ohne erfinderisches Zutun zum Gegenstand des Anspruchs 1.
VII. Die Beschwerdegegnerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
Die Patentinhaberin habe als erste erkannt, dass das aus der E1 bekannte Lager für die Lagerung einer Hauptwelle einer Windkraftanlage verwendet werden könne. Wenn dies für den Fachmann naheliegend gewesen wäre, wäre die Erfindung früher realisiert worden was jedoch nicht der Fall gewesen sei.
Der von der Beschwerdeführerin vorgetragene Aufgabe-Lösungsansatz ausgehend von der E1 sei prinzipiell fehlerhaft und führe dazu, dass Anwendungserfindungen grundsätzlich ein erfinderischer Schritt abzuerkennen sei. Die Anwendung des Lagers der E1 für die Lagerung einer Hauptwelle einer Windkraftanlage sei nur bei einer - unzulässigen - rückschauende Betrachtungsweise naheliegend. E2 offenbare die Verwendung von offenen Pendelrollenlager mit einer äußeren Abkapselung zur Lagerung einer Hauptwelle einer Windkraftanlage und läge die Anwendung von einem abgekapselten Lager für eine gelagerte Hauptwelle einer Windkraftanlage somit nicht nahe.
1. Es ist unstrittig, dass E1, Figur 1, ein Pendelrollenlager gemäß den Merkmalen M1.3 bis M1.3a, M1.4 bis M1.6, M1.6b und M1.7 offenbart.
1.1 E1 spezifiziert jedoch keine Anwendung des Lagers.
1.2 Die Beschwerdeführerin sieht die durch die beanspruchte Hauptwelle gelöste Aufgabe darin, eine mögliche Anwendung für das Lager der E1 zu finden.
1.3 Die Beschwerdegegnerin hat der von der Beschwerdeführerin formulierten Aufgabe nicht widersprochen. Sie hat aber vorgetragen, dass die erfinderische Tätigkeit nicht ausgehend von E1 zu beurteilen sei, weil ein solchen Vorgehen jeglicher Anwendungserfindung einen erfinderischen Schritt aberkenne.
1.4 Die Kammer sieht darin jedoch keinen grundlegenden Fehler. Ein erfinderischer Schritt kann bei einer Anwendungserfindung nämlich auch bei einer Anwendungserfindung dann vorliegen, wenn die Anwendung für den Fachmann nicht naheliegend ist.
1.5 Im vorliegenden Fall ist die Anwendung des Lagers der E1 für die Lagerung einer Hauptwelle einer Windkraftanlage aus den folgenden Gründen jedoch naheliegend.
Das Pendelrollenlager der E1 ist groß, selbstausrichtend und fähig große Winkel- und Axialverschiebungen zwischen den Lagerringen zu ertragen, siehe Seite 1, Zeilen 23 bis 27.
Laut Absatz [0014] der E2 sind Pendelrollenlager für die Lagerung von Rotorwellen von Windkraftanlagen geeignet, weil sie eine hohe Tragfähigkeit haben, hohe stoßartige Kräfte aufnehmen können und selbst beim Auftreten von größeren Durchbiegungen und Winkelabweichungen zwischen Rotorwellenachse und der Achse des Lagergehäuses einsatzbereit bleiben.
Der Fachmann findet daher in der E2 die Lehre, dass Pendelrollenlager für die Anwendung als Hauptlager für die Rotorwelle einer Windkraftanlage grundsätzlich geeignet sind. Selbst wenn der Auffassung der Beschwerdegegnerin gefolgt würde, wonach das Ausführungsbeispiel der E2 ein offenes Pendelrollenlager mit einer externen Abdichtung zeige, findet der Fachmann weder in E1 noch in E2 eine Lehre die gegen eine Anwendung des abgedichteten Lagers der E1 in einer Windkraftanlage spricht.
Darüber hinaus hat die Beschwerdegegnerin weder überraschende noch synergetisch Effekte geltend gemacht, die durch die Anwendung des Lagers der E1 für die Lagerung einer Rotorwelle einer Windkraftanlage hervorgerufen werden.
Die Anwendung des Lagers der E1 als Hauptlager für die Rotorwelle einer Windkraftanlage, d. h. eine gelagerte Hauptwelle für eine Windkraftanlage mit einer ersten Lagerstelle, war somit naheliegend, so dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Artikel 56 EPÜ).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben
2. Das Patent wird widerrufen