T 2877/19 08-03-2022
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Streckbremseinrichtung für Kraftfahrzeuge
Ausreichende Offenbarung - Nacharbeitbarkeit (nein)
Ausreichende Offenbarung - Hauptantrag (nein)
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Änderung nach Ladung - stichhaltige Gründe (nein)
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (nein)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung ein, wonach das europäische Patent EP 1 923 284 in der Fassung des Hilfsantrags 1 die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.
II. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass
- der Hilfsantrag 1 ausreichend klar sei,
- das Patent gemäß diesem Antrag die Erfindung so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen könne, und
- der Gegenstand der Ansprüche gemäß diesem Antrag neu und erfinderisch sei.
III. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
a) Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den vollständigen Widerruf des Patents.
b) Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag), hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des Hilfsantrags eingereicht in der mündlichen Verhandlung als "Hilfsantrag Beschwerdeverfahren".
IV. Der unabhängige Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 (Hauptantrag im Beschwerdeverfahren) lautet wie folgt:
"Streckbremseinrichtung für ein Kraftfahrzeug bestehend aus einem Zugfahrzeug und einem Anhänger, mit mindestens einem in einem Zugfahrzeug angeordneten Druckluftbehälter, in einem Zugfahrzeug angeordneten Federspeicherbremszylinder und mindestens einem in dem Zugfahrzeug angeordneten Anhängerbremsventil, und mit einem im Zugfahrzeug angeordnetem Steuergerät zur Ansteuerung des Federspeicherbremszylinder und des Anhängerbremsventils, dadurch gekennzeichnet,
dass die Federspeicherbremszylinder (15, 16) über ein erstes Magnetventil (10) mit dem Druckluftbehälter (12) verbindbar sind, dass das Anhängerbremsventil (17) über ein zweites Magnetventil (11; 20; 26) mit dem Druckluftbehälter verbindbar ist und dass das Steuergerät (2) über elektrische Leitungen (7, 8) mit dem ersten Magnetventil (10) und dem zweiten Magnetventil (11, 26) separat ansteuerbar sind,
wobei zur Einregelung des Druckes in den Federspeicherbremszylindern und dem Anhängerbremsventil in mindestens eine aber wahlweise auch in beide Zuleitungen ein Druck-/Spannungs-Wandler eingesetzt ist, dessen elektrisches Ausgangssignal dem Steuergerät zugeführt wird, wobei das Steuergerät eingerichtet ist, dann nach einem vorgegebenen Regelalgorithmus feinstufig die Drücke in den Federspeicherbremszylindern und dem Anhängerbremsventil einzuregeln, was vom Fahrer durch Betätigung der entsprechenden Bedienorgane oder auch vollautomatisch vom Steuergerät gesteuert wird."
V. Das mit der Beschwerdebegründung vorgebrachte Vorbringen der Beschwerdeführerin (Einsprechende) lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Der von der Einspruchsabteilung als gewährbar angesehene Hauptantrag hätte nicht zum Verfahren zugelassen werden dürfen, da er erst in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgelegt wurde, die Verspätung aber nicht durch eine überraschende Wende im Verfahren begründet gewesen sei.
b) Der im unabhängigen Anspruch des Hauptantrags genannte Begriff "feinstufig" sei unbestimmt und wage, so dass der Anspruch unklar sei.
c) Der unabhängige Anspruch des Hauptantrags nenne auch Bauteile einer Parkbremse, die keinen Einfluss auf die im Anspruch beanspruchte Streckbremseinrichtung hätte. Daher sei der Anspruch nicht ausreichend knapp gefasst.
d) Der unabhängige Anspruch umfasse auch eine Variante bei der nur ein Druck-Spannungswandlers in der Zuleitung zu den Federspeicherbremszylindern des Zugfahrzeugs vorgesehen ist, mit dem dann aber nicht gleichzeitig auch der Druck im Anhängerbremssystem regelbar sei. Die Erfindung sei daher in dieser Variante nicht ausführbar.
Gleiches gelte für einen Druck-Spannungswandler nur in der Zuleitung zum Anhängerbremsventil, der nicht gleichzeitig auch zur Regelung des Drucks in den Federspeicherbremszylindern des Zugfahrzeugs herangezogen werden könne.
e) Der Fachmann kenne aufgrund seines Fachwissens bzw. durch D7 (DE 103 36 611 A1) die Vorteile einer Regelung des Bremsdrucks und würde dieses Wissen daher auch auf D1 (EP 1 719 766 A2) bzw. D3 (DE 198 57 393 A1) anwenden. Der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs sei daher nicht erfinderisch.
f) Der im Beschwerdeverfahren eingereichte Hilfsantrag sei ohne rechtfertigende Gründe verspätet vorgelegt worden und dürfe daher nicht zum Verfahren zugelassen werden.
VI. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Die Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung, den Hauptantrag zum Verfahren zuzulassen, sei nicht fehlerbehaftet.
b) Der Begriff "feinstufig" sei für den Fachmann ausreichend klar.
c) Die im unabhängigen Anspruch genannten Bauteile seinen alle dem Wortlaut des Anspruchs folgend Teil der beanspruchten Streckbremseinrichtung - und zwar unabhängig davon, ob sie auch einen Beitrag zu einer eventuell zusätzlich vorhandenen Parkbremse haben. Der Anspruch sei daher ausreichend knapp gefasst.
d) Das Patent offenbare in Figur 2 eine Streckbremseinrichtung mit zwei Druck-Spannungswandlern, wobei je einer in der Zuleitung zu den Federspeicherbremszylindern des Zugfahrzeugs und in der Zuleitung zum Anhängerbremsventil angeordnet sind. Mit dieser Anordnung könne man sowohl den Druck im Bremssystem des Zugfahrzeugs, als auch im Bremssystems des Anhängers messen. Somit sei wenigstens ein Weg zur Ausführung der Erfindung angegeben.
e) Der Fachmann würde die Lehre von D7 weder auf D1, noch auf D3 anwenden. Zudem habe er keine Anregung, die aus D1 bzw. D3 bekannte Steuerung durch eine wesentlich kompliziertere Regelung zu ersetzen.
f) Der Hilfsantrag behebe prima facie den geltend gemachten Einwand der Ausführbarkeit und sei daher zum Verfahren zuzulassen.
Hauptantrag - Ausführbarkeit
1. Der der angegriffenen Entscheidung zugrundeliegende Hauptantrag offenbart die in Anspruch 1 definierte Erfindung nicht so ausreichend deutlich und vollständig, dass ein Fachmann sie ausführen kann (Artikel 83 EPÜ).
1.1 Anspruch 1 des Hauptantrags verlangt im Kennzeichen, dass "zur Einregelung des Drucks in den Federspeicherbremszylindern und dem Anhängerbremsventil in mindestens eine aber wahlweise auch in beide Zuleitungen ein Druck-Spannungswandler eingesetzt ist". In einer ersten Variante der Erfindung muss also nur ein einziger Druck-Spannungswandler entweder in der Zuleitung zu den Federspeicherbremszylindern des Zugfahrzeugs, oder aber in der Zuleitung zum Anhängerbremsventil vorgesehen sein. In einer zweiten Variante ist je ein Druck-Spannungswandler in beiden Leitungen angeordnet.
Diese Angaben findet sich identisch auch in Absatz [0013] des erteilten Patents.
1.2 Es ist aus Sicht der Kammer jedoch technisch unmöglich, mit nur einem einzigen Druck-Spannungswandler in einer der beiden Zuleitungen den Druck sowohl an den Federspeicherbremszylindern, als auch dem Anhängerbremsventil zu bestimmen. Nachdem die Federspeicherbremszylinder unabhängig vom Anhängerbremsventil geregelt werden (siehe Beschreibung der Streckbremsfunktion in Absatz [0027]), liegen in den beiden Zuleitungen und entsprechend auch an den beiden Bremsen unterschiedliche Drücke vor, die somit zu unterschiedlichen Messwerten führen müssen. Dies ist nach Überzeugung der Kammer mit einem einzigen Druck-Spannungswandler nicht umsetzbar.
1.3 Der Vertreter der Beschwerdegegnerin konnte auf Nachfrage der Kammer und telefonischer Rückfrage während einer Unterbrechung der mündlichen Verhandlung bei der Anmelderin/Beschwerdegegnerin nicht erklären, wie es technisch möglich sein könnte, mit einem einzigen Druck-Spannungswandler den Druck in beiden Zuleitungen zu ermitteln.
1.4 Im erteilten Patent findet sich hierzu auch keine weitere Angabe, die über die in Anspruch 1 und Absatz [0013] wiedergegebene Information hinausgeht.
1.5 In diesem Zusammenhang reicht es entgegen der Argumentation der Beschwerdegegnerin für die Ausführbarkeit der Erfindung auch nicht aus, dass ein Ausführungsbeispiel mit je einem Druck-Spannungswandler in beiden Leitungen in Figur 2 und den entsprechenden Absätzen [0023] - [0027] der Beschreibung offenbart wird. Dieses Ausführungsbeispiel zeigt zwar eine mögliche Ausgestaltung für die zweite im Anspruch definierte Variante mit Druck-Spannungswandlern in beiden Zuleitungen, nicht aber eine Ausführungsform für die ebenfalls im Anspruch beanspruchte erste Variante mit nur einem einzigen Druck-Spannungswandler.
1.6 Der Fachmann kann daher die Erfindung in der ersten Variante des Anspruchs 1 mit nur einem einzigen Druck-Spannungswandler nicht ausführen.
2. Es kann daher offen bleiben, ob die Einspruchsabteilung bei ihrer Ermessensentscheidung, den Hauptantrag zum Verfahren zuzulassen, einen Fehler gemacht hat, da der Hauptantrag bereits materiell-rechtlich nicht den Erfordernissen des EPÜ genügt.
Hilfsantrag - Zulassung
3. Der in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Hilfsantrag (Hilfsantrag Beschwerdeverfahren) wird nicht zum Verfahren zugelassen (Artikel 13(2) VOBK 2020).
3.1 Gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
3.2 Der Einwand der fehlenden Ausführbarkeit wurde von der Beschwerdeführerin bereits in der Beschwerdebegründung erhoben (Seiten 12 und 13, Kapitel 2).
3.3 Die Beschwerdegegnerin hat sich im schriftlichen Verfahren vor der mündlichen Verhandlung nicht geäußert. In der mündlichen Verhandlung reichte sie erst nach der Diskussion des Hauptantrages und Verkündung der Auffassung der Kammer, dass dieser nicht den Erfordernissen des Artikels 83 EPÜ genügt, den Hilfsantrag ein.
3.4 Für diese zum spätestmöglichen Zeitpunkt erfolgte Änderung ihres Beschwerdevorbringens konnte die Beschwerdegegnerin keine stichhaltigen Gründe angeben, die das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände nachweisen hätten können und so die verspätete Vorlage rechtfertigen hätten können.
3.5 Die Tatsache, dass die Kammer in der mündlichen Verhandlung von ihrer im Ladungsbescheid mitgeteilten vorläufigen Meinung zum Hauptantrag abwich, stellt dabei keinen außergewöhnlichen Umstand dar, da es in der Natur eines strittigen Verfahrens liegt, dass eine vorläufige Meinung sich im Verlauf des Verfahrens noch ändern kann.
3.6 Der Hilfsantrag musste daher unberücksichtigt bleiben.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.