T 3136/19 08-03-2021
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Verfahren zur Abbremsung eines Fahrzeuges
Knorr-Bremse
Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH
I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, den Einspruch zurückzuweisen.
II. Die Einspruchsabteilung hatte u.a. entschieden, dass Anspruch 1 des Patents wie erteilt die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ erfüllt.
III. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents in vollem Umfang.
Mit Schreiben vom 7. Juli 2020 beantragte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin), die Beschwerde zurückzuweisen und das Streitpatent in erteilter Fassung aufrecht zu erhalten, und gab an, dass eine Erwiderung auf die Beschwerdebegründung nicht beabsichtigt sei und nach Aktenlage entschieden werden sollte.
IV. Der unabhängige Verfahrensanspruch 1 wie erteilt (einziger Antrag) lautet:
Verfahren zur Abbremsung eines Fahrzeuges, welches wenigstens eine Vorderachse (VA) und eine Hinterachse (HA) sowie eine auf die Räder (5, 7) dieser Achsen (VA, HA) einwirkende blockiergeschützte Bremsanlage (1, 2, 3, 4, 6, 8, 9, 10, 14, 15) und ein Mittel (12) zur Erfassung des Bremswunschs des Fahrers aufweist, wobei zur Erzielung einer gewünschten Bremskraftverteilung zwischen der Vorderachse (VA) und der Hinterachse (HA) die Bremskraft an der Hinterachse (HA) automatisch derart angepasst wird, dass der Bremsschlupf an der Hinterachse im Wesentlichen dem Bremsschlupf der Vorderachse entspricht, und wobei ein die wirkliche Abbremsung des Fahrzeugs repräsentierender tatsächlicher Verzögerungswert bestimmt wird, dadurch gekennzeichnet, dass kein Soll-Verzögerungswert bestimmt wird, sondern ein dem Bremswunsch des Fahrers zugeordneter Grenzverzögerungswert (zmin, zmax) bestimmt wird und die Bremskraft an wenigstens einer Achse (VA, HA) automatisch angepasst wird, wenn ein unerwünschter Unterschied zwischen dem gemessenen tatsächlichen Verzögerungswert (z) und dem Grenzverzögerungswert (zmin, zmax) festgestellt wird.
V. Das für diese Entscheidung zutreffende Vorbringen der Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung (insbesondere Kapitel III und IV.2) lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Die im Prüfungsverfahren vorgenommene Änderung "dass kein Soll-Verzögerungswert bestimmt wird" sei in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen nicht eindeutig und zweifelsfrei offenbart.
In Absatz [0013] der A2-Veröffentlichung, auf dem die vorgenommene Änderung angeblich basiere, heiße es, dass "bei der vorliegenden Erfindung kein Soll-Verzögerungswert verwendet" werde. Auch sei der Wortlaut aus dem Kontext entnommen.
Absatz [0013] beziehe sich auf Absatz [0012]. Gemäß Absatz [0012], insbesondere Spalte 3, Zeilen 2 bis 16, umfasse Anspruch 1 ein Verfahren zur Abbremsung eines Fahrzeugs mit EBS, bei welchem stets ein Soll-Verzögerungswert bestimmt werde. Bei einem EBS repräsentiere der Soll-Verzögerungswert den Bremswunsch des Fahrers, mit dem gemäß Anspruch 1 ein Grenzverzögerungswert bestimmt werde.
Absatz [0013] offenbare lediglich, dass in Verbindung mit einem EBS in der Erfindung der bestimmte Soll-Verzögerungswert nicht wie im Stand der Technik für den Vergleich mit dem tatsächlichen Verzögerungswert verwendet werde. Hierfür werde in der Erfindung der Grenzverzögerungswert verwendet.
1. Anspruch 1 erfüllt nicht die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ.
2. Der ursprünglichen Anmeldung ist keine Basis für das Merkmal in Anspruch 1 "es wird kein Soll-Verzögerungswert bestimmt" entnehmbar.
3. Anspruch 1 umfasst ein Verfahren, das mit einem elektronisch gesteuerten Bremssystem (EBS) verwendet werden kann (Absätze [0012, 0017] der A2-Veröffentlichung). Gemäß Absatz [0012] wird bei einem EBS der Bremswunsch des Fahrers durch einen Soll-Verzögerungswert repräsentiert. Wird das beanspruchte Verfahren nun mit einem EBS verwendet, wird folglich auch immer ein Soll-Verzögerungswert bestimmt.
4. Den ursprünglichen Anmeldeunterlagen ist an keiner Stelle ein Verfahren nach Anspruch 1 in Verbindung mit einem EBS entnehmbar, bei dem kein Soll-Verzögerungswert bestimmt wird. Der Gegenstand des Anspruchs 1 geht folglich entgegen den Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ über den Offenbarungsgehalt der ursprünglichen Anmeldeunterlagen hinaus.
5. In der angefochtenen Entscheidung lag die Begründung bezüglich Artikel 123(2) EPÜ darin, dass innerhalb des beanspruchten Verfahrens kein Soll-Verzögerungswert bestimmt werde. Ein nicht bestimmter Wert könne auch nicht verwendet werden.
Dieser Argumentation folgt die Kammer insbesondere in Verbindung mit einem EBS nicht.
Sowohl Absatz [0012] (ab Spalte 3, Zeile 2) als auch Absatz [0013] beziehen sich auf Verfahren zur Regelung der Bremskraft mit EBS. Dabei wird der Soll-Verzögerungswert in der Erfindung gemäß Absatz [0013] nicht wie in Absatz [0012] beschrieben verwendet. In Absatz [0012] heißt es, dass im Stand der Technik der Soll-Verzögerungswert mit einer tatsächlichen Verzögerung verglichen wird, um die Bremskraft zu regeln. Gemäß Absatz [0013] und Anspruch 1 wird in der Erfindung ein Grenzverzögerungswert mit einer tatsächlichen Verzögerung verglichen, um die Bremskraft zu regeln.
Der Grenzverzögerungswert ist gemäß Anspruch 1 wiederum dem Bremswunsch (bei einem EBS repräsentiert durch den Soll-Verzögerungswert) zugeordnet. Der Bremswunsch geht folglich in das beanspruchte Verfahren ein.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.