T 3249/19 (DYNAMISCH ADRESSIERBARES MASTER-SLAVE-SYSTEM / ebm-papst) 22-06-2022
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DYNAMISCH ADRESSIERBARES MASTER-SLAVE-SYSTEM SOWIE VERFAHREN ZUM DYNAMISCHEN ADRESSIEREN VON SLAVE-EINHEITEN
Ausreichende Offenbarung - (ja)
Beschwerdeentscheidung - Zurückverweisung an die erste Instanz (ja)
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent EP 3 007 387 zu widerrufen. Gemäß der Entscheidung steht der Einspruchsgrund nach Artikel 100 (b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents entgegen.
II. In einem Bescheid nach Artikel 15(1) VOBK 2020 teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Meinung über die Erfolgsaussichten der Beschwerde und die voraussichtliche Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung mit.
III. Die mündliche Verhandlung fand am 22. Juni 2022 in Form einer Videokonferenz statt.
IV. Schlussanträge der Beteiligten
Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent wie erteilt aufrechtzuerhalten, hilfsweise, das Patent in eingeschränkter Form auf der Basis eines der Hilfsanträge 1 bis 8, eingereicht im Einspruchsverfahren mit Schreiben vom 16. September 2019 und wiederum eingereicht mit der Beschwerdebegründung, aufrechtzuerhalten, weiter hilfsweise, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung der Einspruchsgründe nach Artikel 100 (a) und (c) EPÜ zurückzuverweisen.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung der Einspruchsgründe nach Artikel 100 (a) und (c) EPÜ zurückzuverweisen.
V. Anspruch 1 wie erteilt (Hauptantrag der Beschwerdeführerin) lautet wie folgt (Merkmalkennzeichnung hinzugefügt durch die Kammer):
[1] "Master-Slave-System (100) zur dynamischen Adressvergabe von Slave-Einheiten (2) umfassend
[2] eine Master-Einheit (1) mit einem Digitalausgang (6) zur Bereitstellung einer seriellen Signalfolge von Signalen (S) und wenigstens zwei Slave-Einheiten (2),
[3] wobei die Slave-Einheiten (2) jeweils einen digitalen seriellen Speicher (3) mit einer Größe von einem Bit aufweisen und
[4] jeweils einen Eingang (3a) und einen Ausgang (3b) aufweisen,
[5] wobei die Slave-Einheiten (2) über die Eingänge (3a) und die Ausgänge (3b) über eine Signalleitung (5) seriell miteinander verbunden sind und
[6] wobei der Eingang (3a) einer ersten Slave-Einheit (2) über die Signalleitung (5) mit dem Digitalausgang (6) der Master-Einheit (1) verbunden ist,
[7] wobei das Master-Slave-System (100) so konfiguriert ist, dass am Eingang (3a) der Slave-Einheit (2) ein Signalwechsel einer vom Digitalausgang (6) bereitgestellten seriellen Signalfolge von Signalen (S) detektiert wird,
[8] wobei in Reaktion auf den Signalwechsel das Master-Slave System konfiguriert ist,
[8.1] - die Adresse (A) der entsprechenden Slave-Einheit (2) jeweils um den Wert "1" zu erhöhen,
[8.2] - den Signalwechsel im Speicher (3) zu hinterlegen, wobei nur der positive Flankenwechsel eines Signalwechsels der seriellen Signalfolge von Signalen (S) hinterlegt wird und
[8.3] - ein korrespondierendes Signal am Ausgang (3b) der entsprechenden Slave-Einheit (2) weiterzugeben und damit am Eingang der jeweils nächsten benachbarten Slave-Einheit (2) bereitzustellen."
VI. Der Wortlaut der Ansprüche der Hilfsanträge 1 bis 8 ist für diese Entscheidung ohne Belang.
1. Das Streitpatent betrifft ein Master-Slave-System zur dynamischen Adressvergabe bei Slave-Einheiten. Die Slave-Einheiten sind seriell miteinander verbunden. Mittels Signalwechsel am Ausgang der Master-Einheit werden Adressen der Slave-Einheiten erhöht.
Hauptantrag der Beschwerdeführerin (Patent wie erteilt), Artikel 100 (b) EPÜ
2. Die angefochtene Entscheidung hebt darauf ab, dass der Fachmann die Erfindung nicht so ausführen könne, dass jede Slave-Einheit eine systemweit eindeutige Adresse bekommt.
3. Die Kammer stimmt zu, dass beim Ausführen des beanspruchten Gegenstands eine solche Wirkung nicht über den beanspruchten Schutzumfang erreicht wird.
4. Die Ansprüche definieren nicht, dass jede Slave-Einheit eine systemweit eindeutige Adresse bekommen muss.
5. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern kann ein Einwand wegen mangelnder Offenbarung jedoch nicht damit begründet werden, dass die Anmeldung es einem Fachmann nicht ermöglicht, eine technische Wirkung zu erzielen, die im Anspruch nicht definiert ist, siehe die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, neunte Ausgabe vom Juli 2019, Kapitel II.C.3.2 sowie die weitestgehend entsprechenden Ausführungen in den Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, Kapitel F III-12.
6. Die Beschwerdegegnerin argumentierte, dass im Absatz 13 der Patentschrift angegeben sei, durch die erfinderische Konfiguration werde gewährleistet, dass jede Slave-Einheit eine systemweit eindeutige Adresse bekomme. Aus diesem Grund sei die systemweite Eindeutigkeit der Adressen ein implizites Merkmal des Anspruchs 1.
6.1 Die Kammer folgt diesem Argument nicht.
6.2 Absatz 13 lautet:
"Eine solche erfinderische Konfiguration hat zur Folge, dass die Adresserhöhungen der Slave-Einheiten der Reihe beginnend mit ihrer eigenen Adresse erfolgt, wodurch gewährleistet wird, dass bei vollständiger Ausführung des Adressierverfahrens jeder Slave-Einheit in dem Master-Slave-System eine eindeutige individuelle Adresse zugewiesen wird."
6.3 Die Formulierung "eine solche erfinderische Konfiguration" bezieht sich offensichtlich auf die zuvor in den Absätzen 9 bis 12 beschriebene Konfiguration. Diese Konfiguration entspricht wiederum nicht den Merkmalen des Anspruchs 1. So wird in Absatz 9 angegeben, dass zum Zeitpunkt der Einleitung der Adressierung der Slave-Einheiten alle Slave-Einheiten zunächst dieselbe Adresse haben. Weiterhin wird laut Absatz 12 der signalisierte Zustand jeweils um eine Periode zeitlich verzögert an die nächste Slave-Einheit weitergegeben.
6.4 Laut Absatz 13 wird dann bei vollständiger Ausführung des Adressierverfahrens jeder Slave-Einheit eine eindeutige individuelle Adresse zugewiesen. Anspruch 1 beschreibt aber keine vollständige Ausführung, sondern nur einen Signalwechsel.
6.5 Daraus folgt, dass die systemweite Eindeutigkeit der Adressen sich nicht zwingend aus den beanspruchten Merkmalen ergibt. Aus diesem Grund kann sie nicht als implizites Merkmal des Anspruchs 1 angesehen werden.
7. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung bezieht sich auf die in den Ansprüchen definierte Erfindung und insbesondere auf die Kombination der strukturellen und funktionellen Merkmale der beanspruchten Erfindung.
7.1 Im Folgenden verwendet die Kammer die in der Erwiderung der Beschwerdegegnerin auf Seiten 2 und 3 angegebene und im Punkt V. wiedergegebene Merkmalsgliederung des Anspruchs 1.
7.2 Die Ausführbarkeit der Merkmale 1 bis 6 ist von den Beteiligten nicht in Frage gestellt worden. Die Kammer sieht ebenso wenig diesbezügliche Probleme.
7.3 Die Anspruchsmerkmale 7, 8 und 8.1 bis 8.3 sind für den Fachmann mit Grundkenntnissen der Schaltungstechnik ohne weiteres ausreichend offenbart.
Ob diese Merkmale klar formuliert sind und zu welchen Wirkungen sie führen, ist eine davon getrennt zu betrachtende Frage, die im Rahmen dieses Beschwerdeverfahren aus rechtlichen Gründen nicht weiter zu erörtern ist.
8. Aus diesen Gründen ist die Kammer der Meinung, dass der Einspruchsgrund nach Artikel 100 (b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegen steht. Daher hat die Beschwerde Erfolg.
9. Die angefochtene Entscheidung befasst sich nicht mit den von der Einsprechenden vorgebrachten Einspruchsgründen nach Artikel 100 (a) und (c) EPÜ. In der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung sind diese Gründe auch nicht zur Sprache gekommen.
In dieser Situation hat die Kammer besondere Gründe dafür gesehen, ihr Ermessen dahingehend auszuüben, die Sache an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen (Artikel 11 VOBK 2020).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.