T 0583/20 26-01-2023
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Barrieresystem für ein Hochspannungsgerät und Hochspannungsgerät mit einem Barrieresystem
Einspruchsgründe - Hauptantrag
Einspruchsgründe - mangelnde Patentierbarkeit (ja)
Neuheit - Hilfsantrag 1 (nein)
Spät eingereichter Antrag - Hilfsantrag 2
Spät eingereichter Antrag - wäre bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorzubringen gewesen (ja)
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin betrifft die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit welcher das europäische Patent Nr. 2 637 177 widerrufen worden ist.
Die Einspruchsabteilung war unter anderem zu der Auffassung gelangt, dass die Gegenstände der erteilten Ansprüche 1 und 3 gegenüber den Dokumenten D3 (GB 991,546) und E9 (DE 402424) jeweils nicht neu sind, sowie dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des vor ihr anhängigen Hilfsantrags gegenüber D3 und E9 nicht neu ist.
II. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte mit der Beschwerdebegründung, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent wie erteilt aufrecht zu erhalten, hilfsweise, das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche des mit der Beschwerdebegründung eingereichten ersten oder zweiten Hilfsantrags aufrecht zu erhalten.
Zudem beantragte die Beschwerdeführerin, die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zulassung des Dokuments E9 aufzuheben.
Der erste Hilfsantrag entspricht dem vor der Einspruchsabteilung anhängigen Hilfsantrag, wobei "dadurch gekennzeichnet, dass" ersetzt wurde durch "wobei". Der zweite Hilfsantrag wurde erstmals mit der Beschwerdebegründung eingereicht.
III. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen. Außerdem beantragte sie sinngemäß, den ersten und zweiten Hilfsantrag nicht zum Verfahren zuzulassen.
IV. In einer gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung verschickten Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 hat die Kammer den Parteien ihre vorläufige Meinung dargelegt, wonach die Entscheidung der Einspruchabteilung das Dokument E9 zuzulassen nicht aufzuheben sei, der Hauptantrag und der erste Hilfsantrag aufgrund mangelnder Neuheit ihres Gegenstandes nicht gewährbar seien, und der zweite Hilfsantrag nicht ins Verfahren zuzulassen sei.
V. Die Beschwerdeführerin hat auf diese vorläufige Meinung der Kammer nicht erwidert, jedoch mit Schreiben vom 12. Januar 2023 mitgeteilt, dass sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde.
VI. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 26. Januar 2023 als Videokonferenz in Abwesenheit der Beschwerdeführerin statt.
VII. Anspruch 1 des erteilten Patents (Hauptantrag) lautet wie folgt:
"Barrieresystem (9) für ein Hochspannungsgerät mit Ölisolation,
dadurch gekennzeichnet, dass
das Barrieresystem (9) mindestens einen durchgehenden Wickel (6) mit einer Mehrzahl von Windungen aus Wellpappe (4) aufweist."
VIII. Der unabhängige Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 lautet:
"Barrieresystem (9) für ein Hochspannungsgerät mit Ölisolation, wobei das Barrieresystem (9) genau einen durchgehenden Wickel (6) mit einer Mehrzahl von Windungen aus Wellpappe (4) aufweist, wobei sich zwischen den Windungen (3) aus der Wellpappe (4) jeweils mindestens eine Glattpappiereinlage (5) befindet, wobei der Wickel (6) allein das Barrieresystem (9) bildet."
IX. Angesichts der Entscheidung der Kammer, den Hilfsantrag 2 aufgrund Artikel 12 (6) VOBK 2020 nicht zum Beschwerdeverfahren zuzulassen, ist dessen Wortlaut hier nicht wiedergegeben.
X. Die Beschwerdegegnerin hat unter anderem den auf Dokument E9 gestützten Neuheitseinwand im Beschwerdeverfahren wiederholt und die Zulassung des Dokuments E9 verteidigt. Die Beschwerdeführerin hat unter anderem die Ansicht vertreten, dass E9 mangels prima facie Relevanz nicht hätte zugelassen werden dürfen und weder den Gegenstand des Hauptantrags noch den der Hilfsanträge neuheitsschädlich vorwegnehme.
XI. Die weiteren verfahrensrelevanten Argumente der Parteien werden gemeinsam mit den Entscheidungsgründen erörtert.
1. Zulässigkeit der Beschwerde
Die Beschwerde wurde frist- und formgerecht eingereicht und ausreichend substantiiert. Daher ist die Beschwerde zulässig im Sinne des Artikels 108 EPÜ und der Regel 99 EPÜ.
2. Zulassung des Dokuments E9
Die Beschwerdeführerin argumentierte, E9 sei prima facie nicht relevant und wäre daher nicht zuzulassen gewesen. Sie beantragte daher, die Entscheidung der Einspruchsabteilung, Dokument E9 zuzulassen, aufzuheben.
Die Kammer ist von den Argumenten der Beschwerdeführerin nicht überzeugt und gewährt diesen Antrag daher nicht.
Ungeachtet der Frage, ob die Entscheidung der ersten Instanz, ein Dokument zuzulassen überhaupt überprüfbar ist, sollte sich eine Beschwerdekammer gemäß ständiger Rechtsprechung jedenfalls nur dann über die Art und Weise hinwegsetzen, in der die erste Instanz bei einer Entscheidung in einer bestimmten Sache ihr Ermessen ausgeübt hat, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat und damit ihr eingeräumtes Ermessen überschritten hat (siehe G 7/93, Punkt 2.6 der Gründe, sowie Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 10. Auflage, 2022, IV.C.4.5.2).
Ein Ermessensfehlgebrauch wurde von der Beschwerdeführerin weder vorgetragen noch ist er ersichtlich. Mit ihrem Einwand, das Dokument E9 sei von der Einspruchsabteilung fehlerhaft für prima facie relevant gehalten worden, rügt die Beschwerdeführerin keinen Ermessensfehler, sondern stellt das Ergebnis der Ermessensausübung in Frage, obwohl dies - wie dargelegt - im Beschwerdeverfahren nicht überprüft wird. Im übrigen ergibt sich auch aus der Würdigung der Kammer, dass E9 für den erteilten Anspruch 1 neuheitsschädlich und damit relevant ist.
3. Hauptantrag - Neuheit - Artikel 100 a) i.V.m. 54 (2) EPÜ
3.1 Die Beschwerdeführerin argumentierte, E9 sei für den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht neuheitsschädlich. Das in E9 verwendete dünne Papier sei zur Herstellung eines Barrieresystems ungeeignet. Es sei zum einen keine Wellpappe in E9 offenbart und zum anderen fehle es dem laut E9 verwendeten dünnen Papier an der notwendigen Festigkeit.
3.2 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Beschwerdeführerin während des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung keinen auf diese Argumente gestützten Vortrag vorgebracht hat. Stattdessen hat die Beschwerdeführerin vor der Einspruchsabteilung lediglich vorgetragen, keines der Dokumente lege ein Barrieresystem offen, wie es der Anspruch 1 definiere. Die Entgegenhaltungen beträfen Leitungsdurchführungen oder Kondensatoren.
3.3 Ungeachtet der Frage, ob der neue Vortrag verspätet sein könnte, ist die Kammer von den Argumenten der Beschwerdeführerin auch inhaltlich nicht überzeugt. Laut Seite 2, Zeilen 46 bis 50 von E9 ist es besonders zweckmäßig, wenn Papier oder Gebilde "ähnlich der Wellpappe" verwendet werden. Auch der Anspruch 1 in E9 ist nicht auf Papier beschränkt, sondern nennt als Material "Papier o. dgl.". Wellpappe als Material für das Barrieresystem dürfte somit, wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, jedenfalls implizit in E9 offenbart sein.
3.4 Die Kammer ist hinsichtlich der strittigen Unterscheidung von Wellpapier und Wellpappe zu der Auffassung gelangt, dass diese auch im Streitpatent nicht eindeutig getroffen wird. So ist beispielsweise in Figur 3 mit dem Bezugszeichen 4 die beanspruchte Wellpappe und mit dem Bezugszeichen 5 die beanspruchte Glattpapiereinlage dargestellt, ohne dass sich aus der Figur 3 ein Unterschied dieser Materialien ergeben würde.
3.5 Dass, wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, auf Seite 2 Zeile 16ff. von E9 Wellpappe angeblich als nachteilig verworfen würde, ist für die Kammer nicht nachvollziehbar. Der zitierte Absatz betrifft holzartiges Hartpapier oder isolierstoffgetränkte Gewebe.
3.6 Im übrigen vermag die Kammer nicht zu erkennen, aus welchem Merkmal des Anspruchs 1 sich die von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Festigkeit des beanspruchten Barrieresystems ergeben sollte.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags ist folglich gegenüber der Offenbarung des Dokuments E9 im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ nicht neu.
Der Hauptantrag ist daher nicht gewährbar und der Einspruchsgrund unter Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikel 54 (2) EPÜ steht der Aufrechterhaltung des Patents entgegen.
4. Erster Hilfsantrag - Neuheit - Artikel 54 (2) EPÜ
4.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 des ersten Hilfsantrags ist gegenüber jenem des Hauptantrags im Wesentlichen dadurch abgeändert, dass nur genau ein durchgehender Wickel beansprucht wird, welcher allein das Barrieresystem bildet, und dass sich zwischen den Windungen des Wickels aus der Wellpappe jeweils mindestens eine Glattpapiereinlage befindet.
4.2 Die zusätzlichen Merkmale sind jedoch, wie von der Beschwerdegegnerin zutreffend vorgetragen, ebenfalls aus dem Dokument E9 bekannt. In dessen Figur 1 ist ein Wickel gezeigt, der eine Glattpapiereinlage zwischen den Windungen aufweist. Es spricht auch nichts in E9 dagegen, dass der eine Wickel alleine das Barrieresystem bildet. Die Tatsache, dass nach E9 ein Gehäuse um den Wickel herum vorhanden ist, hindert nicht die Funktion des Wickels als Barrieresystem. Im Gegenteil ist auch das beanspruchte Barrieresystem auf ein Gehäuse angewiesen, da andernfalls die anspruchsgemäße Ölisolation unmöglich wäre.
4.3 Daher ist die Kammer zu der Auffassung gelangt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des ersten Hilfsantrags gegenüber E9 nicht neu im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ und der erste Hilfsantrag folglich nicht gewährbar ist.
Angesichts der Schlussfolgerung der Kammer, dass Hilfsantrag 1 aufgrund mangelnder Neuheit nicht gewährbar ist, kann die von der Beschwerdegegnerin aufgeworfene Frage, ob der Hilfsantrag 1 zulässig ist, dahinstehen.
5. Zweiter Hilfsantrag - Zulässigkeit - Artikel 12 (6) VOBK 2020
Der zweite Hilfsantrag wurde erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebracht und stellt daher eine Änderung im Sinne von Artikel 12 (4) VOBK 2020 dar, deren Zulassung im Ermessen der Kammer steht. Die Beschwerdeführerin hat keine Gründe vorgetragen, warum der zweite Hilfsantrag nicht in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, vorgebracht wurde oder warum Umstände vorliegen sollten, die eine Zulassung in diesem späten Verfahrensstadium rechtfertigen würden. Es sind auch keine entsprechenden Gründe ersichtlich, sondern es hätte im Hinblick auf die bereits im Einspruchsverfahren erhobenen Angriffe der Beschwerdegegnerin Veranlassung bestanden, einen entsprechenden Antrag bereits im erstinstanzlichen Verfahren einzureichen. Die Kammer lässt daher den zweiten Hilfsantrag gemäß Artikel 12 (6) VOBK 2020 nicht zum Beschwerdeverfahren zu.
6. Schlussfolgerung
Da kein gewährbarer Antrag der Beschwerdeführerin vorliegt, hat die Beschwerde keinen Erfolg.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.