T 0823/20 22-12-2022
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Fahrbare Vorrichtung zum Ausbringen von flüssigen und/oder festen Wirkstoffen und Verfahren zur Steuerung der Vorrichtung
Amazonen-Werke
Herbert Dammann GmbH
Topcon Positioning Systems, Inc.
I. Die Beschwerden richten sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 2 591 657 in geändertem Umfang nach Artikel 101 (3) (a) und 106 (2) EPÜ aufrechtzuerhalten.
II. Die Einspruchsabteilung hatte unter anderem entschieden, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des während der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags B_1 auf erfinderischer Tätigkeit gegenüber einer Kombination von B13 mit dem allgemeinen Fachwissen oder mit der B2 beruhe.
In ihrer Entscheidung hat die Einspruchsabteilung unter anderem die folgenden Entgegenhaltungen berücksichtigt:
B2 JP 2004194618 A
B2' deutsche Übersetzung der B2
B13 EP 1 444 894 A1
III. Die Beschwerdegegnerin Einsprechende 2 hat ihren Einspruch am 5. Oktober 2021 zurückgenommen. Sie ist darum nicht mehr am Verfahren beteiligt.
IV. Mit einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Auffassung nach erfolgter Ladung zur mündlichen Verhandlung mit. Die mündliche Verhandlung fand am 22. Dezember 2022 in Anwesenheit der Patentinhaberin und der Einsprechenden 1 statt. Für die Verfahrensbeiteiligten Einsprechende 3 und 4 war, obwohl ordnungsgemäß geladen, niemand anwesend. Die Beschwerdegegnerin Einsprechende 4 hatte mit Schreiben vom 14. Dezember 2022 mitgeteilt, dass sie nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen werde.
V. Die Beschwerdeführerin Patentinhaberin (nachfolgend Patentinhaberin) beantragt, die Beschwerde der Beschwerdeführerin Einsprechende 1 zurückzuweisen, somit die Aufrechterhaltung des Patents auf Basis des Hilfsantrags B_1, der in der angegriffenen Entscheidung als gewährbar erachtet wurde. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nahm sie alle ihre weiteren Anträge zurück.
VI. Die Beschwerdeführerin Einsprechende 1 (nachfolgend Einsprechende 1) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
VII. Der unabhängige Anspruch 1 des für diese Entscheidung relevanten Hauptantrags (aufrecht erhaltene Fassung gemäß Hilfsantrag B_1) hat den folgenden Wortlaut:
"Verfahren zur Bewegungssteuerung und/oder -regelung einer Ausbringvorrichtung (9) zum Ausbringen von flüssigen und/oder festen Wirkstoffen, welche ein an einem selbstfahrenden oder gezogenen Fahrzeug (10) angeordnetes, ungefähr parallel zu einer Fahrtrichtung (14) um einen Aufhängepunkt (30) schwenkbar gelagertes Ausbringgestänge (12) mit einem Mittelteil (34) und seitlichen Auslegerarmen (36) umfasst, wobei das Mittelteil (34) über wenigstens eine regelbare Stell-einrichtung (40) mit einem Aufbau- oder Rahmenabschnitt (11) und/oder mit einem starr oder beweglich gelagerten Stützabschnitt (13) des Fahrzeuges (10) gekoppelt ist, wobei die regelbare Stelleinrichtung (40) mit wenigstens einem Sensorelement (54,54a, 54b, 15 54c, 64) ausgestattet ist, das Stell- bzw. Relativbewegungen erfasst, die zwischen dem Mittelteil (34) der Ausbringvorrichtung (9) und dem Stütz-, Aufbau- oder Rahmenabschnitt (13, 11) auftreten, wobei das Sensorelement (54, 54a, 54b, 54c) Bewegungen der Stelleinrichtung (40) zwischen dem Stütz-, Aufbau- oder Rahmenabschnitt (13, 11) und der Anlenkung (38) am Mittelteil (34) erfasst und daraus ein Ausgangssignal (56) zur Ansteuerung der Stelleinrichtung (40) generiert, indem das wenigstens eine Sensorelement durch Drucksensoren gebildet ist, die in einem pneumatischen oder hydraulischen Druckfluidkreislauf der Stelleinrichtung (40) angeordnet sind und Druckschwankungen erfassen, die sich aus einer Relativbewegung zwischen dem Ausbringgestänge (12) und dem Fahrzeug (10) bei Schwenkbewegungen um den Aufhängepunkt (30) ergeben, und wobei die Stelleinrichtung (40) in einem ersten Betriebsmodus, in dem das Ausbringgestänge (12) weitestgehend von Drehmomenten um die Schwenkachse durch den Aufhängepunkt (30), resultierend aus Fahrzeugbewegungen (26) um die Fahrzeuglängsachse (28), entkoppelt ist, eine weitgehend stellkraftfreie mechanische Verbindung herstellt, und die in einem zweiten Betriebsmodus bzw. in einem Verstellmodus eine definierte Stellkraft und/oder ein definiertes Stellmoment zwischen dem Mittelteil (34) und dem Stütz-, Aufbau- oder Rahmenabschnitt (13, 11) zur Verschwenkung des Ausbringgestänges (12) relativ zum Stützabschnitt (13), Aufbau oder Rahmen (11) einleitet, weitgehend unabhängig von Störmomenten, die aus Fahrzeugbewegungen resultieren, bei dem die im ersten Betriebsmodus weitgehend stellkraftfreie mechanische Verbindung zwischen dem Mittelteil (34) und dem Stütz-, Aufbau- oder Rahmenabschnitt ( 13, 11) des Fahrzeugs ( 10) und/oder der Ausbringvorrichtung (9) mittels annähernd in Echtzeit den Relativbewegungen zwischen dem Ausbringgestänge (12) bzw. dessen Mittelteil (34) und dem Fahrzeug (10) und/oder dem Stütz-, Aufbau- oder Rahmenabschnitt ( 13, 11) folgenden Stellbewegungen der Stelleinrichtung (40) hergestellt und aufrechterhalten wird; und bei dem die im zweiten Betriebsmodus mit definierter Stellkraft und/oder mit definiertem Stellmoment beaufschlagte mechanische Verbindung zwischen dem Mittelteil (34) und dem Stütz-, Aufbau- oder Rahmenabschnitt (13, 11) des Fahrzeugs (10) und/oder der Ausbringvorrichtung (9) mittels annähernd in Echtzeit den Relativbewegungen zwischen dem Ausbringgestänge (12) bzw. dessen Mittelteil (34) und dem Fahrzeug (10) und/oder dem Stütz-, Aufbau- oder Rahmenabschnitt (13, 11) folgenden Stellbewegungen der Stelleinrichtung (40) hergestellt und aufrechterhalten
wird."
VIII. Die Einsprechende 1 hat zu den entscheidungserheblichen Punkten im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 werde ausgehend vom Dokument B13 in Kombination mit dem Dokument B2 und dem allgemeinen Fachwissen nahegelegt.
IX. Die Patentinhaberin hat zu den entscheidungserheblichen Punkten im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 beruhe auf erfinderischer Tätigkeit.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Anwendungsgebiet der Erfindung
Die Erfindung betrifft ein Verfahren zur Bewegungs-steuerung und/oder -regelung einer Ausbringvorrichtung für Wirkstoffe, z.B. eine Feldspritze. Die an einem Fahrzeug 10 montierte Ausbringvorrichtung umfasst ein Ausbringgestänge 12 mit einem Mittelteil 34 und zwei seitlichen Auslegearmen 36. Das Mittelteil 34 ist an einer Drehlagerung 32 am Fahrzeug drehbar aufgehängt, so dass es Schwenkbewegungen um eine parallel zur Fahrzeuglängsachse orientierte Achse ausführen kann. Um alle ungewollten Reaktionsbewegungen des Ausbring-gestänges zuverlässig zu unterdrücken, soll z.B. im Falle einer Stelleinrichtung 40 in Form eines Hydraulikzylinders 42 dessen Kolbenstange 48 nahezu verzögerungfrei allen Relativbewegungen des Fahrzeugs 10 gegenüber dem Ausbringgestänge 12 folgen, die zu Schwenkbewegungen um die Drehlagerung 32 führen. Dabei wirkt das beanspruchte Verfahren den Wankbewegungen des Ausbringgestänges um die Fahrzeuglängsachse entgegen, damit die (im Falle einer Feldspritze an den Auslegearmen angebrachten) Spritzdüsen stets einen gleichbleibenden Abstand zum Boden haben. Dazu ist das Mittelteil des Ausbringgestänges über die regelbare Stelleinrichtung 40 (also der Hydraulikzylinder 42) mit dem Fahrzeug verbunden, siehe die Figuren 1 und 2a-2d der Patentschrift. Während der Ausführung des Verfahrens erfasst ein als Drucksensoren im Druckfluid-kreislauf der Stelleinrichtung ausgebildetes Sensor-element 54 Stell- bzw. Relativbewegungen zwischen dem Mittelteil des Ausbringgestänges und dem Fahrzeug. In einem ersten Betriebsmodus der Stelleinrichtung - z.B. für die Fahrt in ebenem Gelände - soll das Gestänge trotz Anregung durch Bodenunebenheiten in Ruhe bleiben. In einem zweiten Betriebsmodus der Stelleinrichtung - z.B. beim Wechsel zur Fahrt entlang einer geneigten Bodenfläche - soll zusätzlich die Neigung des Gestänges an die Hangneigung angepasst werden.
Außerdem wird eine Ausbringvorrichtung beansprucht.
3. Erfinderische Tätigkeit
Die angefochtene Zwischenentscheidung bejahte die erfinderische Tätigkeit von Hilfsantrag B_1 ausgehend vom Dokument B13, siehe Absatz 8.2 der Entscheidungsgründe. Die Einsprechende 1 bestreitet diesen von der Patentinhaberin verteidigten Befund der Entscheidung.
3.1 Auch die Kammer hält das Dokument B13 für einen erfolgversprechenden Ausgangspunkt, da es eine Feldspritze mit einem dreigeteilten Ausbringgestänge offenbart, dessen Wankbewegungen um die Fahrzeug-längsachse vermindert werden sollen (Absatz 0005: "improved automated boom roll control means"). Ein linker und ein rechter Auslegearm 15, 18 des Ausbring-gestänges sind an einem Mittelteil 9 befestigt, das wiederum über einen Wankrahmen 8 um einen Aufhängepunkt 10 am Rahmen 7 des Fahrzeugs schwenkbar gelagert ist, siehe die Figuren 4-6 der B13. Seitlich beabstandet vom Aufhängepunkt ist ein Hydraulikzylinder 11 zwischen dem Rahmen und dem Wankrahmen angeordnet, so dass der Wankrahmen gegenüber dem Fahrzeug um dessen Längsachse verdreht werden kann. Da der Wankrahmen über zwei Zentrierfedern 12 und den Dämpfer 13 mit dem Mittelteil des Ausbringgestänges gekoppelt ist, führt eine Verdrehung des Wankrahmens mit zeitlicher Verzögerung auch zu einer Verdrehung des Ausbringgestänges. Ultraschallsensoren 14 und 17 an den Enden der Auslegearme messen deren jeweiligen Abstand vom Boden und ein zur Wegmessung genutzter Ultraschallsensor 21 am Wankrahmen misst die Ausdehnung der Zentrierfedern. Diese dient als Maß für die Auslenkung des Mittelteils des Ausbringgestänges gegenüber dem Wankrahmen. Anhand der drei Messwerte erzeugt eine Steuereinrichtung 25 ein Verstellsignal für den Hydraulikzylinder, um über den Wankrahmen ein Drehmoment auf das Ausbringgestänge auszuüben, siehe die Absätze 0016-0018 des Dokuments. In einem ersten Betriebsmodus der Steuereinrichtung wird das Ausbringgestänge bei einer Fahrt in ebenem Gelände von Drehmomenten um den Aufhängepunkt, die von Unebenheiten unter den Fahrzeugrädern herrühren, entkoppelt, siehe den ersten Unterpunkt in Absatz 0024 des Dokuments ("if a left wheel were to ride up onto a ridge..."). In einem zweiten Betriebsmodus der Steuereinrichtung wird das Ausbringgestänge relativ zum Fahrzeugrahmen verschwenkt, siehe den zweiten Unterpunkt in Absatz 0024 ("if the right wing sensor 17 is higher than the left wing sensor 14 then a clockwise correction may take place...").
3.2 Die Kammer hat in ihrer Mitteilung, Abschnitt 3.1, bezüglich der Offenbarung eines weitestgehend von Drehmomenten entkoppelten Ausbringgestänges, einer weitgehend stellkraftfreien mechanischen Verbindung, einer weitgehend von Störmomenten unabhängigen Einleitung der Stellkraft bzw. des Stellmoments im Dokument B13 bereits die folgende vorläufige Meinung geäußert:
3.1 Die Entscheidung zur Neuheit (und zur erfinderischen Tätigkeit) hängt von der Auslegung der Merkmale 1.4 und 1.5 ab. ... Zudem verlangen diese Merkmale wegen der relativen Begriffe "weitgehend von Drehmomenten entkoppelt" und "weitgehend stellkraftfrei" sowie "weitgehend unabhängig von Störmomenten" keine vollständige Entkopplung bzw. Freiheit von Kräften und Momenten, so dass sie keine klare Abgrenzung vom Stand der Technik bilden. Daher legt die Kammer diese Merkmale vorläufig in dem Sinne aus, dass das Gestänge bei der Fahrt in ebenem Gelände trotz Anregung durch Bodenunebenheiten weitgehend parallel zum Boden bleibt (Merkmal 1.4), bzw. dass bei einer Fahrt entlang von Höhenlinien eines Hangs die Neigung des Gestänges an die Hangneigung angepasst wird (Merkmal 1.5).
Die Patentinhaberin hat dazu in ihrem Schreiben vom 11. November 2022, siehe den dritten Absatz auf Seite 5 des Schreibens, mit dem Gegenargument Stellung genommen, dass der Fachmann die relativen Begriffe "weitgehend von Drehmomenten entkoppelt" und "weitgehend stellkraftfrei" sowie "weitgehend unabhängig von Störmomenten" so verstehe, dass die mechanische Verbindung zwischen Gestänge und Aufbau- oder Rahmenabschnitt zwar keine vollständige bzw. perfekte Entkopplung bzw. Freiheit von Kräften und Momenten verlange, jedoch innerhalb des technisch Machbaren von Drehmomenten entkoppelt bzw. stellkraftfrei bzw. unabhängig von Störmomenten, die aus Fahrzeugbewegungen resultieren, sein solle. Die Kammer stimmt der Patentinhaberin darin zu, dass Merkmale wie "von Drehmomenten entkoppelt", "stellkraftfrei" oder "unabhängig von Störmomenten" durchaus von der Fachperson als innerhalb des technisch Machbaren frei, unabhängig oder entkoppelt ausgelegt werden. Jedoch lässt der relative Begriff "weitgehend" in diesem Merkmalen Abweichungen vom technisch Machbaren zu, deren Höhe nicht im Anspruch definiert ist. Mithin erlauben die genannten Merkmale keine Abgrenzung vom Stand der Technik, so dass die Kammer sie als in B13 offenbart ansieht.
3.3 Die Kammer hat in ihrer Mitteilung, Abschnitte 4.1.3 und 4.2.2, bezüglich der Offenbarung von annähernd in Echtzeit folgenden Stellbewegungen im Dokument B13 bereits die folgende vorläufige Meinung geäußert:
4.1.3 ... da die Fahrzeugbewegungen während der beiden in Absatz 24 des Dokuments genannten Betriebsmodi keinen wesentlichen Einfluss auf das Gestänge haben sollen. Zudem scheint ein möglicher Zeitversatz aufgrund der Feder-Dämpfer-Kopplung in B13 unerheblich zu sein, da die Stellbewegungen des Zylinders 11 implizit "annähernd in Echtzeit" (Welche Abweichung von an einer Echtzeitregelung sind umfasst?) hergestellt und aufrechterhalten werden.
4.2.2 ... da der Begriff "in Echtzeit" noch Abweichungen von einer Echtzeitregelung zulässt (Beschwerdebegründung der Patentinhaberin, Seite 57: "Der Fachmann versteht ,,in Echtzeit" als Stellbewegungen, die innerhalb des technisch machbaren in Echtzeit den Relativbewegungen zwischen Ausbring-gestänge und Rahmenabschnitt folgen, so dass etwaige Verzögerungen auf ein Minimum reduziert werden.").
Die Patentinhaberin hat dazu weder in ihrem Schreiben vom 11. November 2022 noch während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer weiter Stellung genommen. Mangels weiterer Ausführungen sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Sichtweise abzuweichen. Somit sieht sie auch annähernd in Echtzeit folgende Stellbewegungen als in B13 offenbart an.
3.4 Folglich unterscheidet sich das Verfahren zur Bewegungssteuerung und/oder -regelung einer Ausbringvorrichtung nach Anspruch 1 des HilfsantragsB_1 von der Offenbarung der B13 unbestritten darin, dass das Sensorelement durch Drucksensoren gebildet ist, die in einem pneumatischen oder hydraulischen Druckfluidkreislauf der Stelleinrichtung angeordnet sind und Druckschwankungen erfassen, die sich aus einer Relativbewegung zwischen dem Ausbringgestänge und dem Fahrzeug bei Schwenkbewegungen um den Aufhängepunkt ergeben. In Übereinstimmung mit der Patentinhaberin liegt diesen Unterscheidungsmerkmalen auch aus Sicht der Kammer die objektive technische Aufgabe zugrunde, eine alternative Sensorik zur Erfassung von Störmomenten des Trägerfahrzeugs anzugeben.
3.5 Zur Lösung dieser Aufgabe würde eine Fachperson die B2 heranziehen, da sie ebenfalls eine Feldspritze 1 mit einem dreigeteilten Ausbringgestänge 16a, 16b, 16c offenbart, dessen Wankbewegungen um die Fahrzeug-längsachse vermindert werden sollen, siehe Absatz 0007 der B2 ("Wanksteuerung der Schädlingsbekämpfungs-sprühvorrichtung 16"). Unter Verwendung der Terminologie der deutschen Übersetzung B2' besitzt das Ausbringgestänge dieser Feldspritze 1 einen linken und rechten Ausleger 16b, 16c, die am mittleren Balken 16a befestigt sind und durch je einen Hebe/Senk-Zylinder 19 angehoben oder abgesenkt werden können, siehe die Figuren 1-3. Der mittlere Balken ist am Gestängehalte-element 18 der Feldspritze um ein Achsenzentrum 23 schwenkbar gelagert. Seitlich vom Achsenzentrum ist zwischen dem Gestängehalteelement und dem mittleren Balken des Ausbringgestänges ein hydraulischer Horizontalzylinder 24 mit einem Drucksensor 35 angeordnet. Der Drucksensor misst den Innendruck in der oberen Kammer des Horizontalzylinders und wird bei der Wanksteuerung primär dazu verwendet, das Schwingen des linken bzw. rechten Auslegers zu tilgen, indem eine Steuereinheit 25 bei Anstieg des Drucks den in Fahrtrichtung linken Ausleger bzw. bei Fallen des Drucks den rechten Ausleger durch dessen Hebe/Senk-Zylinder absenkt, siehe die Absätze 0020-0022 des Dokuments. Die Feldspritze besitzt außerdem noch Neigungssensoren 31 und 33 an der Hauptmaschine bzw. am Gestänge. Bei einer ersten Ausführungsform der B2 ermittelt die Steuereinheit durch Subtraktion der beiden Neigungswerte von Hauptmaschine und Gestänge einen relativen Neigungswinkel des mittleren Balkens des Ausbringgestänges. Dieser relative Neigungswinkel wird anschließend durch einen Wanksteuerbefehl an die beiden Horizontalventile 38 und 39 korrigiert, siehe die Absätze 0008 und 0019 des Dokuments.
3.6 Die Kammer teilt im Hinblick auf den mittleren Balken 16a des Ausbringgestänges der B2 nicht die Sichtweise der Patentinhaberin, wonach dessen Wanksteuerung nur anhand der Neigungssensoren am Fahrzeug und am Gestänge durchgeführt werden könne, während der Drucksensor 35 am hydraulischen Horizontalzylinder 24 lediglich zur Korrektur des Schwingens der Ausleger des Ausbring-gestänges verwendet werde. Das Dokument enthält nämlich noch eine zweite Ausführungsform, bei welcher der Drucksensor zur Wanksteuerung des mittleren Balkens herangezogen wird (Absatz 0023 der B2': "Es ist auch ein Aufbau möglich, bei dem die Wanksteuerung des mittleren Balkens 16a durch Ausfahren bzw. Einziehen des Horizontalzylinders 24 gemäß den Detektions-informationen des Drucksensors 35 vorgenommen wird."). Bei dieser zweiten Ausführungsform bildet der Drucksensor ein Sensorelement, das in einem hydraulischen Druckfluidkreislauf (Absatz 0020 der B2': "Ölhaltedruck") der vom Horizontalzylinder 24 gebildeten Stelleinrichtung angeordnet ist. Da sich der Horizontalzylinder laut Figur 3 in Fahrtrichtung links neben dem Achsenzentrum 23 - dem Drehpunkt des mittleren Balkens 16a des Ausbringgestänges - befindet, werden die vom Drucksensor in der oberen Kammer des Horizontalzylinders erfassten Druckschwankungen von einer Relativbewegung zwischen dem Ausbringgestänge und dem Fahrzeug bei Schwenkbewegungen um den Aufhängepunkt hervorgerufen. Daher erfasst der Drucksensor 35 bei der zweiten Ausführungsform der B2 Störmomente des Trägerfahrzeugs, so dass die Fachperson nach Auffassung der Kammer diese Ausführungsform zur Lösung der objektiven technischen Aufgabe heranziehen könnte.
3.7 Das Argument der Patentinhaberin, wonach der Drucksensor 35 der B2 nicht mit dem Hydraulikzylinder 11 der aus B13 bekannten Feldspritze funktionieren würde, überzeugt die Kammer nicht. Es mag sein, dass sich dort ein von Wankbewegungen des Ausbringgestänges 9, 15, 18 erzeugter Druck im Hydraulikzylinder 11 nur langsam aufbaut, da das Ausbringgestänge über die Federn 12 und den Dämpfer 13 mit dem Wankrahmen 8 (und dem damit verbundenen Hydraulikzylinder 11) gekoppelt ist. Das spricht aus Sicht der Kammer jedoch nicht gegen eine Kombination von B13 und B2, denn dort ist bereits ein Dämpfer zwischen dem am Fahrzeug montierten Gestängehalteelement 18 und dem relativ zum Fahrzeug um den Aufhängepunkt 23 schwenkbaren mittleren Balken 16a angeordnet. Dieser nicht in den Figuren der B2 gezeigte Dämpfer verhindert bei der vom Horizontalzylinder 24 durchgeführten Wanksteuerung des mittleren Balkens ein Schwingen durch eine plötzliche Steuerkraft bzw. absorbiert Schwingungen durch eine plötzliche externe Kraft, siehe Absatz 0016 der B2'. Bei der aus B13 bekannten Feldspritze befindet sich der Dämpfer 13 in einer analogen Position zwischen dem Mittelteil 9 des Ausbringgestänges und dem Wankrahmen 8 und absorbiert somit ebenfalls Schwingungen, die durch eine plötzliche externe Kraft hervorgerufen werden, die vom Fahrzeug mittels des Wankrahmens auf das Ausbringgestänge ausgeübt wird. Daher würde die Fachperson nach Auffassung der Kammer wegen dieses ähnlichen Aufbaus die zweite Ausführungsform der B2 auch zur Lösung der objektiven technischen Aufgabe heranziehen.
Die Kammer gelangt somit zum Zwischenfazit, dass die von B13 ausgehende Fachperson durch das Dokument B2 dazu veranlasst wird, die Auslenkung des Mittelteils 9 des Ausbringgestänges gegenüber dem Wankrahmen 8 durch einen Drucksensor im hydraulischen Druckfluidkreislauf des Hydraulikzylinders 11 zu erfassen. Für die Frage der erfinderischen Tätigkeit ist darum entscheidend, ob die Fachperson dann mehrere Drucksensoren in B13 vorsehen würde.
3.8 Die Kammer muss daher nun im Hinblick auf die Unterscheidungsmerkmale "Drucksensor" und "mehrere Sensoren" untersuchen, ob - wie von der Patentinhaberin vorgetragen - eine Kombinationserfindung oder - wie von der Einsprechenden 1 vorgetragen - eine bloße Aggregation von Merkmalen, die Teilaufgaben lösen, vorliegt. Die Patentinhaberin vertrat im Hinblick auf das Unterscheidungsmerkmal "mehrere Sensoren" während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer und auch in ihrer Eingabe vom 11. November 2022 die Auffassung, dass jegliche konkrete Anregung zu diesem weiteren Schritt fehle, siehe Seite 9 dieser Eingabe, und dass ein weiterer Schritt nach dem "could-would"-Ansatz nicht zulässig sei. Auch in ihren Eingaben vom 8. Dezember 2021 (Seiten 11 und 12) vom 23. März 2021 (Seite 27), vom 11. November 2020 (Seite 30) oder in ihrer Beschwerdebegründung (Seite 67) gab sie keine Gründe für das Vorliegen einer Kombinationserfindung an.
Die Kammer ist nicht davon überzeugt, dass eine Kombinationserfindung vorliegt. Der Umstand, dass zwei Maßnahmen - eine Druckmessung statt einer Wegmessung mittels Ultraschall bzw. mehrere Sensoren statt eines einzigen Sensors - zur Messung von Relativbewegungen zwischen dem Ausbringgestänge und dem Fahrzeug bei Schwenkbewegungen um den Aufhängepunkt des Gestänges beitragen, reicht nämlich nicht aus, um das Vorliegen einer Kombinationserfindung zu belegen. Vielmehr müssen nach ständiger Rechtsprechung die Merkmale dafür in einer funktionellen Wechselwirkung zueinander stehen in dem Sinne, dass sie einen über die Summe ihrer Einzelwirkungen hinausgehenden kombinatorischen Effekt aufweisen (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 10. Auflage 2020, I.D.9.3.2). Aus Sicht der Kammer erfasst ein Drucksensor eine alternative Messgröße, während mehrere Sensoren mangels einer beanspruchten Einbauposition oder aus der Patentschrift ableitbarer Wirkungen aus Sicht der Fachperson lediglich eine Redundanz oder auch eine Mittelwertbildung ermöglichen, nicht aber zu der von der Patentinhaberin behaupteten präziseren Messung führen. Diese stark unterschiedlichen Maßnahmen hängen offensichtlich nicht strukturell zusammen, und wirken nur insoweit zusammen, dass sie das gleiche - schon aus B13 bekannte - Ziel, Relativbewegungen zwischen dem Ausbringgestänge und dem Fahrzeug zu erfassen, verfolgen. Sonst wirken diese Maßnahmen unabhängig voneinander und beeinflussen sich auch nicht gegenseitig. Da kein synergetisches Zusammenwirken mit der Druckmessung besteht, ist das Vorsehen von mehreren Sensoren lediglich als unabhängige, zusätzliche Maßnahme zur Messung von Relativbewegungen zwischen dem Ausbringgestänge und dem Fahrzeug zu betrachten. Die Kammer ist davon überzeugt, dass eine Fachperson anhand des allgemeinen Fachwissens auf naheliegende Weise mehrere Sensoren statt eines einzigen Sensors vorsieht, um zum Beispiel eine redundante Messung oder eine durch Mittelwertbildung zuverlässigere Messung zu ermöglichen. Somit wird dieses Merkmal durch das allgemeine Fachwissen nahegelegt.
3.9 Aus diesen Gründen gelangt die Fachperson durch eine Kombination von B13, B2 und des allgemeinen Fachwissens zum Gegenstand von Anspruch 1, ohne erfinderisch tätig zu werden.
4. Der Hilfsantrag B_1 ist nicht gewährbar, da Anspruch 1 dieses Antrags nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruht, Artikel 56 EPÜ. Im Gegensatz zum Befund der angegriffenen Entscheidung stellt die Kammer somit fest, dass unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen dieses Übereinkommens nicht genügen. Daher ist das Patent zu widerrufen, Artikel 101 (3) b) EPÜ.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.