T 0902/20 04-02-2022
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Innenbekleidungssystem für Fahrzeuge im Personenverkehr
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (NEIN)
Zulassung in das Verfahren - Hilfsantrag (NEIN)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts über die Aufrechterhaltung des europäischen Patents Nr. 2199175 in geändertem Umfang, zur Post gegeben am 31. Januar 2020.
II. Die Einspruchsabteilung hat festgestellt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 (beide Ausführungsformen) auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen, ausgehend von Dokument US 6,416,116 B1 (E5).
III. Am 4. Februar 2022 wurde vor der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Beschwerde zurückzuweisen (Hauptantrag) hilfsweise ein Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage des Hilfsantrags 1 vom 26. September 2019 aufrechtzuerhalten, beantragt im Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 19. November 2021.
IV. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
Innenbekleidungssystem für Fahrzeuge im Personenverkehr, insbesondere Seitenwand- und Deckenbekleidungen in Schienenfahrzeugen des Nah- und Fernverkehrs, bestehend aus
austauschbaren Dekorplatten und Formteilen, wie Vouten im Übergangsbereich zwischen den Seitenwand- und Deckenbekleidungen, sowie
Sitzträgerprofilen zur Befestigung der Passagiersitze, wobei
das Innenbekleidungssystem als modulares Stecksystem ausgeführt ist,
bei dem die einzelnen Dekorplatten und Formteile (2, 3, 4) mit ineinandersteckbaren Kantenbereichen (6, 9) versehen sind,
dadurch gekennzeichnet, dass
entweder zur Verbindung der Voute (4) mit einer ein Seitenwandteil bildenden Dekorplatte (2 oder 3) die u-förmige Erweiterung desKantenbereiches (6, 9) an der Voute (4) vorgesehen ist, wobei die Einstecktiefe der Dekorplatte (2 oder 3) der Seitenwand und die lichte Weite der u-förmigenErweiterung so gestaltet sind, dass zwischen Seitenwandbekleidung (3) und Voute (4) durch die Steckverbindung hindurch Luft (7,15) zirkulieren kann,
oder
die Steckverbindung zwischen Voute (4) und Deckenbekleidung (2) vorgesehen ist, während im Bereich zwischen Voute (4) und Seitenwandbekleidung (3) ein unmittelbar an die Voute (4) und die Seitenwandbekleidunq (3) grenzender Spalt zur Luftzirkulation (15) belassen ist.
V. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) brachte im Wesentlichen die folgenden Argumente vor:
Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nahegelegt, ausgehend von Dokument E5.
Letztlich ginge es nur um das Merkmal, dass der Spalt angrenzend an die Voute und die Seitenwandbekleidung angeordnet sei. Dies sei aber für den Fachmann nahegelegt, denn zur Vereinfachung des Gesamtaufbaus und für die Zwecke der Gewichtseinsparung würde der Lüftungskanal (duct 69) teilweise oder vollständig ersetzt werden und die Zuführung der Luft in den Fahrgastraum unmittelbar durch einen Spalt zwischen dem Panel 47 und der Seitenwand gewährleisten.
Mündlich, in der Verhandlung vor der Beschwerdekammer wurde ergänzt, dass der Fachmann alternativ die Voute nach unten verlängern und damit eine einteilige Gestaltung von Voute und Teil 70 (first wall) erreichen könne, die die Aufgabe des Streitpatents, nämlich eine deutlich vereinfachte Montage (vgl. Patentschrift Paragraph [0007]) lösen könne.
Des weiteren sei auch keine erfinderische Tätigkeit, ausgehend von E2 kombiniert mit dem allgemeinen Fachwissen, gegeben.
Der Hilfsantrag könne und dürfe nicht mehr in das Verfahren zugelassen werden, da offensichtlich keine außergewöhnlichen Umstände vorlägen. Jedenfalls habe die Beschwerdegegnerin keine solchen genannt.
Weiterhin sei auch völlig unklar, gegen welche Einwände sich der Hilfsantrag richte.
Die Beschwerdegegnerin habe diesen ohne Begründung und Erklärung eingereicht.
VI. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) erwiderte die Argumente wie folgt:
Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe auf einer erfinderischen Tätigkeit. Es sei nicht zu erkennen, warum der Fachmann, ausgehend von E5 den Lüftungskanal (duct 69) umgestalten oder weglassen solle. Die Vorrichtung nach E5 sei auskonstruiert und eine Änderung beruhe auf einer rückschauenden Betrachtungsweise. Im übrigen schließe man sich der Auffassung der Einspruchsabteilung an.
Was die alternative Argumentationslinie der Beschwerdeführerin, die Voute 47 und das Teil 70 könne einteilig gestaltet werden, betrifft, sei nicht erkennbar, warum der Fachmann dies tun solle. Auch dies sei eine rückschauende Betrachtungsweise.
Der Hilfsantrag, der in der Entscheidung der Einspruchsabteilung genannt ist, wurde mit Schreiben vom 26. September 2019 im Verfahren vor der Einspruchsabteilung eingereicht. Da mit Schreiben vom 19. November 2021 im Beschwerdeverfahren beantragt wurde, diesen zu berücksichtigen, müsse dieser nun im Beschwerdeverfahren berücksichtigt werden.
1. Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag beruht nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, Artikel 56 EPÜ.
1.1 Das Dokument E5 offenbart alle Merkmale des Oberbegriffs und das Merkmal 1.6 des Anspruchs 1, bis auf das Merkmal, dass der Spalt
unmittelbar an die Voute (4) und die Seitenwandbekleidung (3) grenzt,
vgl. auch T0837/15, Entscheidungsgründe 5.
Dieser Punkt ist unstrittig.
1.2 Mit diesem Merkmal wird die objektive Aufgabe gelöst, ein Innenbekleidungssystem für Fahrzeuge im Personenverkehr so zu gestalten, dass die Montage- und Demontage sowie die Wartung insgesamt deutlich vereinfacht und durch den geringeren Zeitaufwand erheblich Kosten gespart werden, siehe auch Streitpatent Paragraph [0007].
Insofern ist auch die dem Streitpatent zugrunde liegende Aufgabe unstrittig.
1.3 Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) widerspricht der Argumentation der Beschwerdeführerin (Einsprechende), dass es ausgehend von E5 nahegelegt sei, die Voute 47 nach unten in Richtung Seitenwand zu verlängern, vgl. E5, Fig. 3, so dass sich eine einteilige Gestaltung des oberen Verkleidungsteils ergebe; damit würde die Voute das Teil 70 (first wall) mitumfassen und somit eine leichtere und einfachere Montage im Sinne der objektiv gestellten Aufgabe erlauben und behauptet, dass der Fachmann keine Veranlassung habe, die vorliegende Konstruktion zu verändern.
In der Tat ist es aus Sicht der Kammer naheliegend, das Verkleidungsteil, welches oben im Deckenteil (lighting assembly 46) eingehängt ist und unten mit einer Schraube (mounting 71) an der Seitenwand befestigt ist (vgl. auch Spalte 8, Zeilen 20 bis 23) einteilig auszugestalten und damit die Voute als Formteil gemäß Merkmal 1.1.2 des strittigen Anspruchs 1 bis an das Lüftungsgitter zu führen und damit die im Streitpatent genannte Aufgabe - nämlich eine vereinfachte Montage - zu lösen. Das Lüftungsgitter (discharge vents 74) ist im erfindungsgemäßen Spalt angebracht. Damit wäre bei einer einteiligen Ausgestaltung der Voute mit dem Teil 70 das unterscheidende Merkmal, siehe oben 1.1, realisiert.
2. Der Hilfsantrag wird nicht in das Verfahren zugelassen, Artikel 13(2) VOBK 2020.
2.1 Gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens nach der Zustellung der Ladung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
2.2 Der Antrag der Beschwerdegegnerin, dass hilfsweise der Hilfsantrag ,,in der Fassung, wie sie in der angefochtenen Entscheidung wiedergegeben ist" berücksichtigt werden soll, ist mit Schreiben vom 19. November 2021, und damit etwa 3 Monate nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingegangen.
Diesem Schreiben sind weder Gründe für das verspätete Vorbringen angegeben, noch dargelegt auf welche Art und Weise der Hilfsantrag die gegen den Hauptantrag vorgebrachten Mängel zu beheben in der Lage ist.
Das in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Argument der Beschwerdegegnerin, dass der Hilfsantrag auch schon im Einspruchsverfahren vorgelegen habe, schriftlich beantragt wurde und daher im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen sei, reicht nach Ansicht der Kammer nicht aus. Im Beschwerdeverfahren ist nämlich dieser Antrag erst nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung gestellt worden. Weitere Argumente sind von der Beschwerdegegnerin nicht vorgebracht worden.
Insbesondere sieht die Kammer in dem Vortrag der Beschwerdegegnerin keinen Grund dafür dargelegt der außergewöhnliche Umstände für die verspätete Vorlage rechtfertigt.
Allerdings hat das die Beschwerdegegnerin auch nicht behauptet.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.