T 1712/20 13-10-2022
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Schloss
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Änderung des Beschwerdevorbringens - rechtfertigende Gründe des Beteiligten (nein)
I. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, den Einspruch gegen das Streitpatent zurückzuweisen.
Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass der Gegenstand der Ansprüche in der erteilten Fassung neu und erfinderisch sei, und das Patent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen könne.
II. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, das heißt die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung.
III. Anspruch 1 des Patents wie erteilt lautet (Merkmalsbezeichnungen von der Kammer hinzugefügt):
M1.1 |"Schloss, insbesondere Einsteckschloss, |
M1.2 |mit einer von einer hervorstehenden Stellung in eine zurückgezogene Stellung bewegbaren Falle (2), |
M1.3 |mit einem Fallenrückzugselement (12, 28), |
M1.4 |mit zwei Nusshälften (4, 5) und |
M1.5a |mit einer von einer Verstelleinheit (18, 27) umstellbaren Kupplung (24) |
M1.5b |zur Erzeugung eines Formschlusses des Fallenrückzugselements (12, 28), |
M1.5c |wahlweise mit der einen Nusshälfte (4, 5) oder der anderen Nusshälfte (5, 4), |
M1.6 |wobei die Kupplung (24) ein formschlüssig mit dem Fallenrückzugselement (12, 28) verbundenes Stellteil (17, 25) hat |
M1.7a |und das Stellteil (17, 25) zur Erzeugung eines Formschlusses |
M1.7b |wahlweise in den Bewegungsbereich der einen oder der anderen Nusshälfte (4, 5) hineinragt, |
|dadurch gekennzeichnet, |
M1.8 |dass das Stellteil (17, 25) zwei räumlich voneinander getrennte Anschläge (16, 19, 32, 33) aufweist und |
M1.9 |zwischen zwei Schwenkstellungen schwenkbar ist und |
M1.10a|dass in der einen Schwenkstellung einer der Anschläge (16, 32) in den Bewegungsbereich der einen Nusshälfte (4) und |
M1.10b|in der anderen Schwenkstellung der andere der Anschläge (19, 33) in den Bewegungsbereich der anderen Nusshälfte (5) hineinragt."|
IV. Die folgenden Entgegenhaltungen sind für die vorliegende Entscheidung relevant:
E1 |EP 0 712 987 A2 |
E9 |EP 1 291 478 B1 |
E10|DE 196 51 609 B4|
E11|DE 692 07 320 T2|
E12|DE 697 21 229 T2|
V. Die Beschwerdeführerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
Zulassung des Einwands der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von E9
Erst im Lichte der Antwort der Beschwerdegegnerin sei die Anspruchsauslegung wonach das Fallenrückzugselement in Merkmal M1.3 die Falle aktiv zurückzieht relevant geworden. Bei dieser Auslegung sei E9 nicht mehr für Neuheit, sondern für erfinderische Tätigkeit relevant. Der erst mit Schreiben vom 27. Juli 2021 erhobene Einwand mangelnder erfinderischen Tätigkeit sei ferner prima facie relevant und sollte daher in das Verfahren zugelassen werden.
Neuheit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht neu gegenüber den in E1, E10 und E9 offenbarten Schlössern.
Die Merkmale M1.8 und M1.9 verlangten, dass das Steilteil schwenkbar sei, nicht jedoch, dass die Anschläge auf dem Stellteil schwenkbar seien. Ferner verlangten diese Merkmale weder, dass das Stellteil einteilig sei noch dass es als Ganzes schwenke.
Somit seien die Spindel zusammen mit der Spindelmutter in den Schlössern der E1 und E10 als ein Stellteil gemäß den Merkmalen M1.8 und M1.9 anzusehen.
Das Schloss der E9 habe eine Falle, welche von dem Schließblech in einer zurückgezogenen Position verschoben werden könne. Die Mittennuss ermöglichte mittelbar über das Wegdrücken des Blockierelements eine Bewegung der Falle in der zurückgezogenen Position. Diese Mechanismus stelle eine Falle und ein Fallenrückzugselement gemäß den Merkmalen M1.2 und M1.3 dar.
Erfinderische Tätigkeit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Er unterscheide sich von den in E1 und E10 offenbarten Schlösser durch die Merkmale des kennzeichnenden Teils.
Diese Unterscheidungsmerkmale lösten die technische Aufgabe, eine gut funktionierende Seiteneinstellung mit einfacher Handhabung und Zugänglichkeit dieser Schlösser zu ermöglichen.
Für den Fachmann sei eine anspruchsgemäße Änderung des Stellteils der Kupplung dieser Schlösser allein aus seinem Fachwissen naheliegend.
Ferner zeigten sowohl E11 sowie E12 schwenkbare Stellteile, die eine einfache und gut funktionierende Seiteneinstellung eines Schlosses ermöglichten. Es sei für den Fachmann naheliegend, ein solches schwenkbares Stellteil in den Schlössern der E1 oder E10 einzusetzen, um die gestellte Aufgabe zu lösen.
VI. Die Beschwerdegegnerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
Zulassung des Einwands der mangelnden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von E9
Schon in der angefochtenen Entscheidung habe die Einspruchsabteilung das Merkmal M1.3 als ein Element, welches die Falle aktiv zurückzieht, ausgelegt. Dass sich die Beschwerdegegnerin dieser Auslegung in ihrer Antwort auf die Beschwerdebegründung angeschlossen habe, rechtfertige nicht, den mit dem Schreiben vom 27. Juli 2021 erstmalig erhobenen Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit ausgehend von E9 in das Verfahren zuzulassen.
Neuheit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei neu.
Die Merkmale M1.7a und M1.7b, sowie M1.8 und M1.9 verlangten ein zwischen zwei Schwenkstellungen schwenkbares Stellteil mit zwei räumlich getrennten Anschlägen. Eine mehrteilige Baugruppe falle entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht unter dem Begriff Stellteil. Das einzige drehbare Teil der Kupplung der Schlösser der E1 und E10 sei die jeweilige Spindelmutter. Diese befänden sich jedoch in keinem Fall in dem Bewegungsbereich der einen oder anderen Nusshälfte. Dies aber verlangten die Merkmalen M1.7a und M1.7b. Die Spindelmutter dieser Schlösser, deren Anschläge sich in dem Bewegungsbereich der Nusshälften befinden, seien nicht schwenkbar, sondern linear beweglich. Somit offenbarten weder E1 noch E10 ein Stellteil gemäß den Merkmalen M1.8 und M1.9.
Die Merkmale M1.2 und M1.3 verlangten, dass das Schloss eine Falle sowie ein Fallenrückzugselement aufweise, welches die Falle aktiv von einer hervorstehenden in eine zurückgezogene Stellung bewegen könne. Das Schloss der E9 weise diese Merkmale nicht auf.
Erfinderische Tätigkeit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe ausgehend von den Schlössern der E1 und E10 auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Weder das Fachwissen noch E11 oder E12 veranlassten den Fachmann zu einer Änderung der Kupplung der Schlösser gemäß E1 oder E10. Die schwenkbaren Stellteile der Schlösser der E11 und E12 seien Bestandteile von Mechanismen, die einen ganz anderen Zweck erfüllten als das Stellteil des beanspruchten Schlosses. Der Fachmann habe keinen Anlass, diese Stellteile isoliert herauszugreifen und in die Schlössern der E1 oder E10 einzubauen. Ferner würde ein solcher Einbau wesentliche Änderungen der Schlösser der E1 und E10 erfordern.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei daher für den Fachmann ausgehend von den Schlössern der E1 und E10 nicht naheliegend.
1. Zulassung des Einwands der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von E9
Die Beschwerdeführerin hat mit ihrem Schreiben vom 27. Juli 2021 erstmalig den Einwand fehlender erfinderischer Tätigkeit ausgehend von E9 erhoben. Dies stellt eine Änderung des Beschwerdevorbringens dar. Die Zulassung diesen Einwands unterliegt Artikel 13(1) VOBK 2020.
1.1 Nach Auffassung der Beschwerdeführerin sei die Auslegung, wonach das Fallenrückzugselement gemäß Merkmal M1.3 die Falle aktiv zurückzieht, erst mit der Beschwerdeerwiderung der Beschwerdegegnerin betont worden. Somit müsste der Einwand basierend auf E9 nicht unter Neuheit, sondern unter erfinderische Tätigkeit erhoben werden. Dieser Einwand sei prima facie relevant und daher im Verfahren zuzulassen.
1.2 Diese Begründung rechtfertigt die Zulassung des Einwands jedoch nicht. Schon in der angefochtenen Entscheidung, Punkt 7.1, hat die Einspruchsabteilung Merkmal M1.3 so ausgelegt, dass das Fallenrückzugselement die Falle aktiv zurückzieht. Diese Auslegung war die Beschwerdeführerin also schon vor Anfang des Beschwerdeverfahrens bekannt. Eine Bestätigung der Anspruchsauslegung gemäß der angefochtenen Entscheidung seitens der Beschwerdegegnerin rechtfertigt nicht die späte Erhebung dieses Einwands.
Die Kammer hat aus diesem Grund entschieden, den Einwand der fehlenden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von E9 nicht ins Verfahren zuzulassen (Artikel 13(1) VOBK 2020).
2. Neuheit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist neu (Artikel 54(1) und (2) EPÜ).
2.1 E1
2.1.1 Die Merkmale M1.8 und M1.9 verlangen, dass "das Stellteil zwei räumlich voneinander getrennte Anschläge aufweist und zwischen zwei Schwenkstellungen schwenkbar ist". Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin verlangt dieser Wortlaut, dass das ganze Stellteil zwischen zwei Schwenkstellungen schwenkbar ist.
2.1.2 Das Schloss der E1, siehe Figuren 8 und 10, weist eine Kupplung zum Erzeugen eines Formschlusses des Fallenrückzugselements (102) wahlweise mit der einen oder der anderen Nusshälfte (105 und 106) auf. Diese Kupplung hat eine Spindelmutter ("Kupplungsglied" 47), welche linear geführt ist und mit einem Anschlag ("Endbereich" 47') versehen ist. Durch Drehung der Spindel ("Schraube" 48) kann die Spindelmutter linear verschoben werden, damit der Anschlag wahlweise in den Bewegungsbereich der einen oder der anderen Nusshälfte hineinragt.
Selbst wenn man der Beschwerdeführerin darin folgt, dass die Spindel (47) zusammen mit der Spindelmutter (48) als "das Stellteil" angesehen werden können, schwenkt die Spindelmutter dieses zusammengesetzten Stellteils nicht zwischen zwei Schwenkstellungen, sondern verschiebt sich linear. Spindel und Spindelmutter sind damit nicht als schwenkbares Stellteil im Sinne der Merkmale M1.8 und M1.9 anzusehen.
2.1.3 Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist somit neu gegenüber dem in der E1 gezeigten Schloss.
2.2 E10
Das Schloss der E10, siehe Figuren 8 und 9, weist eine Kupplung auf, welche auf dem gleichen Verstellprinzip wie die des Schlosses der E1 basiert. Die linear bewegliche Spindelmutter ("Mitnehmer") hat das Referenzzeichen 22 und die Spindel ("Stellschraube") hat das Referenzzeichen 23.
Wie oben in Bezug auf E1 dargelegt, stellt eine solche Kupplung mit einer linear beweglichen Spindelmutter kein Stellteil gemäß den Merkmalen M1.8 und M1.9 dar.
2.2.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist somit auch gegenüber dem in der E10 gezeigten Schloss neu.
2.3 E9
2.3.1 Gemäß den Merkmalen M1.2 und M1.3 hat das beanspruchte Schloss "eine von einer hervorstehenden Stellung in eine zurückgezogenen Stellung bewegbaren Falle" sowie "einem Fallenrückzugselement". Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin kann der Begriff "Fallenrückzugselement" nur als ein Element verstanden werden, welches die Falle aktiv zurückziehen kann. Folglich würde der Fachmann unter den Merkmalen M1.2 und M1.3 eine Falle verstehen, welche durch das Fallenrückzugselement in die zurückgezogene Stellung aktiv zurückgezogen werden kann.
2.3.2 Das Schloss der E9, siehe Figuren 1 und 2, hat eine Falle ("pêne" 200) welche bei Kontakt mit einem Schließblech im Türrahmen um die Achse ("axe" 630) schwenken kann. Die Mittennuss ("levier de manoeuvre rotatif" 512) kann das Blockierelement ("élément de blocage" 400) in eine Position verschieben, in der das Schwenken der Falle möglich ist. Dieses Schloss hat jedoch kein Teil, das ein aktives Zurückziehen der Falle ermöglicht.
Das Schloss der E9 weißt daher weder eine Falle noch einem Fallenrückzugselement gemäß den Merkmalen M1.2 und M1.3 auf.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist somit neu gegenüber dem in der E9 gezeigten Schloss.
3. Erfinderische Tätigkeit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).
3.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich von den Schlössern der E1 und E10 - wie oben in Bezug auf Neuheit ausgeführt - zumindest in den Merkmalen M1.8 und M1.9. Folglich sind auch die Merkmale M1.10a und M1.10b, die sich auf die Merkmale M1.8 und M1.9 beziehen, nicht in E1 und E10 offenbart.
Die durch die Unterscheidungsmerkmale gelöste technische Aufgabe sieht die Beschwerdeführerin darin, eine gut funktionierende Seiteneinstellung mit einfacher Handhabung und Zugänglichkeit dieser Schlösser zu ermöglichen.
3.2 Die Beschwerdeführerin hat vorgetragen, der Fachmann werde die Schlösser der E1 oder E10 allein auf Grund seines Fachwissens mit einem anspruchsgemäßen Stellteil versehen.
Ferner zeigten sowohl E11, Figuren 2 und 5, Zylinder 46, sowie E12, Figuren 2 bis 2d, das Eingriffselement 126, Schlösser mit einem schwenkbaren Stellteil für die Seiteneinstellung. Es wäre für den Fachmann naheliegend die Lehre eines schwenkbaren Stellteils aus diesen Dokumenten auf die Schlösser der E1 oder E10 zu übertragen.
Somit würde der Fachmann ohne erfinderisches Zutun zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangen.
3.2.1 Die Beschwerdeführerin hat jedoch nicht überzeugend dargelegt, warum der Fachmann allein auf Grund seines Fachwissens eine Veranlassung haben würde, die bereits vorhandenen linear verschiebbaren Stellteile der Schlösser der E1 oder E10 mit einem schwenkbaren Stellteil zu ersetzen. Zumal dies nicht ohne weitere Anpassung der Schlossmechanik möglich ist.
Das Fachwissen legt den Gegenstand des Anspruchs 1 daher nicht nahe.
3.2.2 Die Betrachtung der Dokumente E11 und E12 legt den Gegenstand des Anspruchs 1 auch nicht nahe.
Das Stellteil in Form eines drehbaren Zylinders (46) des Schlosses der E11 ist durch eine Feder (45) beaufschlagt und Bestandteil eines Mechanismus, der dazu dient, eine zusätzliche Rückstellkraft bereitzustellen, die auf die eine oder die andere Nusshälfte (22, 23) des Schlosses wirkt. Siehe Seite 8, Letzter Absatz bis Seite 9, Absatz 3.
Das schwenkbare Stellteil, oder Eingriffselement (126) des Schlosses der E12 ist Teil eines linear bewegbaren Mechanismus, welches je nach Stellung des Eingriffselements die Bewegung der einen, der anderen oder beider Nusshälften (80, 82) sperren kann, siehe Absatz [0037].
Keines dieser Dokumente gibt den Fachmann Anlass, das schwenkbare Stellteil aus diesen Mechanismen isoliert herauszugreifen und anstelle der linear verschiebbaren Spindelmutter in den Schlössern der E1 oder E10 einzusetzen.
Dies ist umso mehr der Fall, da das Einsetzen eines der in der E11 oder E12 gezeigten schwenkbaren Stellteile anstelle der in den Schlössern der E1 oder E10 schon vorhandenen linear verschiebbaren Spindelmutter erhebliche Änderungen im Mechanismus dieser Schlösser erfordern würde. Allein um die Schwenkung eines solchen Stellteils zu ermöglichen, wären Änderungen am Fallenrückzugselement erforderlich. Solche Änderungen würden jedoch auch das Zusammenwirken der benachbarten Teile der Schlossmechanik beeinflussen und damit weitere Anpassungen erforderlich machen.
3.3 Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist aus diesen Gründen ausgehend von den Schlössern der E1 oder E10 weder im Hinblick auf das Fachwissen noch im Hinblick auf E11 oder E12 naheliegend.
Daraus folgt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.