T 0095/21 21-07-2021
Download und weitere Informationen:
Hüllkurvenberechnung mittels Phasendrehung
Ausreichende Offenbarung - (ja)
Zurückverweisung - (ja)
I. Die Anmelderin hat gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung über die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung Nr. 12152457.3 Beschwerde eingelegt. Die Prüfungsabteilung war zur Auffassung gelangt, dass die Erfindung in der europäischen Patentanmeldung gemäß Hauptantrag, sowie gemäß den beiden Hilfsanträgen 1 und 2, nicht so deutlich und vollständig offenbart sei, dass ein Fachmann sie ausführen könne (Artikel 83 EPÜ).
II. Die Anmelderin beantragt, die Entscheidung der Prüfungsabteilung aufzuheben und, als Hauptantrag, ein Patent auf Grundlage des erstmalig mit Schreiben vom 4. Juni 2020 als Hilfsantrag 1 und nochmalig mit der Beschwerdeschrift eingereichten Anspruchsatzes oder hilfsweise auf Grundlage der erstmalig am 6. August 2020 als Hilfsantrag 2 und 3 und nochmalig mit der Beschwerdeschrift eingereichten Anspruchsätze gemäß einem der Hilfsanträge 1 oder 2 zu erteilen. Mit der Beschwerdebegründung beantragt die Anmelderin hilfsweise, das Verfahren zur weiteren Prüfung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen, sowie weiter hilfsweise, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, falls nicht beabsichtigt werde, das Patent gemäß dem Hauptantrag zu erteilen oder das Verfahren zurückzuverweisen.
III. Der Wortlaut des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag lautet:
"Verfahren zur Berechnung einer Hüllkurvenamplitude bei einer Füllstandmessung durch einen Füllstandsensor, wobei das Verfahren die folgenden Schritte aufweist:
Bilden eines bandpassgefilterten Zwischenfrequenzsignals aus einem Empfangssignal des Füllstandsensors;
Abtasten zumindest eines Bereichs des Zwischenfrequenzsignals zu diskreten Zeitpunkten;
Wandeln der Abtastwerte des abgetasteten Zwischenfrequenzsignals in digitale Abtastwerte;
Berechnen eines neuen Wertes für einen ersten digitalen Abtastwert der digitalen Abtastwerte durch Drehung der Phase des Abtastwertes des abgetasteten Bereichs des Zwischenfrequenzsignals um einen vorgegebenen Winkel;
Berechnen der Hüllkurvenamplitude aus dem ersten digitalen Abtastwert und dem durch die Drehung der Phase berechneten neuen Wert."
1. Hauptantrag - Offenbarung der Erfindung
Die Erfindung in der europäischen Patentanmeldung ist so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann (Artikel 83 EPÜ).
1.1 Angefochtene Entscheidung
Gemäß der angefochtenen Entscheidung ist die Erfindung aus den zwei folgenden Gründen nicht ausreichend offenbart, damit der Fachmann sie ausführen kann:
1.1.1 Berechnung neuer Werte bei Unterabtastung
Gemäß Anspruch 1 sollen neue Werte ZF2i für einen gemessenen bzw. digitalen Abtastwert ZF1i berechnet werden, nämlich durch Drehung der Phase des Abtastwertes ZF1i. Die Prüfungsabteilung argumentierte, dass "[z]ur Berechnung neuer Werte durch Drehung der Phase (...) aber bei Unterabtastung (...) offensichtlich weitere Parameter erforderlich [sind]; deren Berücksichtigung ist völlig unklar" (siehe angefochtene Entscheidung, Seite 4, vierter Absatz; Hervorhebung durch die Kammer).
Die Möglichkeit der Phasendrehung anhand eines Hilbert-Filters wurde von der Prüfungsabteilung als technisch nicht machbar angesehen. Es handele sich hierbei um eine Filterung im Frequenzraum. Die Prüfungsabteilung führte aus: "Um diese Filterung im Frequenzraum durchzuführen, muss die Fouriertransformierte des abgetasteten Signals bekannt sein. Durch die o.g. Unterabtastung ist jedoch die Fouriertransformierte ohne weitere Informationen nicht ermittelbar. Somit kann auch kein Hilbert-Filter angewandt werden" (siehe angefochtene Entscheidung, Seite 4, fünfter Absatz; Hervorhebung durch die Kammer).
Weiterhin war die Prüfungsabteilung der Überzeugung, dass die digitalen Abtastwerte des Empfangssignals, entgegen den Ausführungen der Anmelderin während der mündlichen Verhandlung, tatsächlich unterabgetastet wurden. Die Unterabtastung eines Signals in Bandpasslage beziehe sich "auf das ins Basisband verschobene Hüllkurvensignal" und ermögliche nur eine "Rekonstruktion der Hüllkurve" und "diese Form der Unterabtastung [sei] gerade für die vorliegende Anmeldung nicht relevant". Des Weiteren erlaube "[d]ie Bezugnahme in der Erfindung auf den Stand der Technik gemäß DE 10 2006 006 572 A1 (...) aus Sicht der Prüfungsabteilung keine andere Interpretation, da, wie eingangs bereits erwähnt, gemäß S. 17, Z. 15-16 das erfindungsgemäße Verfahren es ermöglichen soll, die Hüllkurve mit weniger Abtastwerten als in vergleichbaren Verfahren zu berechnen. Als solches Verfahren muss das zitierte Dokument DE 10 2006 006 572 A1 angesehen werden" (siehe angefochtene Entscheidung, Seite 5, vierter Absatz; Hervorhebung durch die Kammer).
1.1.2 Phasendrehung
Die Prüfungsabteilung erklärte, dass gemäß Figur 8 der Patentanmeldung der Nullphasenwinkel phi0 zur Berechnung des neuen Wertes ZF2i = A * cos(omega0 * t1i + phi0 + phi) bekannt sein muss. "Weil bei der Abtastung aber gerade nur die Realwerte erfasst werden können, ist die Kenntnis der Phase zwingend erforderlich, da mit einem Abtastwert ZF1i = A * cos(omega0 * t1i + phi0) ohne weitere Annahme die Ermittlung nicht erfolgen kann" (siehe angefochtene Entscheidung, Seite 5, fünfter Absatz, bis Seite 6, erster Absatz).
1.1.3 Zusammenfassend war die Prüfungsabteilung der Auffassung, dass in der Patentanmeldung die Berechnung der Hüllkurvenamplitude aus dem ersten digitalen Abtastwert und dem durch die Drehung der Phase berechneten neuen Wert nicht ausreichend offenbart sei, weil bestimmte Parameter zur Berechnung des neuen Werts fehlten.
1.2 Beschwerdebegründung
1.2.1 Zur Unterabtastung
Die Anmelderin ist der Ansicht, dass "[i]n keinem einzigen der Ansprüche des Hauptantrags (...) eine Unterabtastung beansprucht" wird (siehe Beschwerdebegründung, Punkt 22).
Mit Verweis auf die Beschreibung der Patentanmeldung (Seite 9, Zeilen 20 bis 23; Seite 12, Zeilen 5 bis 9) trägt die Anmelderin vor, dass "[b]ei dem geschilderten Verfahren (...) nirgends eine 'echte' Unterabtastung verwendet (wird), dies wird nur so bezeichnet. Tatsächlich wird nur eine Abtastfrequenz verwendet, die unterhalb dem Doppelten der höchstfrequenten Komponente liegt. Der Fachmann weiß, dass für die Erfüllung des Abtasttheorems nicht irgendeine Frequenz einer höchstfrequenten Komponente des Systems relevant ist, sondern die Bandbreite eines Bandpasses des bandpassgefilterten Zwischenfrequenzsignals, so wie dies in Anspruch 1 beansprucht ist" (siehe Beschwerdebegründung, Punkt 31; Hervorhebung durch die Anmelderin). Daher sei es unklar, wie die Prüfungsabteilung zu den beiden folgenden Aussagen komme:
a) "Da diese Form der Unterabtastung sich aber auf das ins Basisband verschobene Hüllkurvensignal bezieht und somit nur eine Rekonstruktion der Hüllkurve ermöglicht, ist diese Form der Unterabtastung gerade für die vorliegende Anmeldung nicht relevant" (siehe Beschwerdebegründung, Punkte 26 bis 28; Hervorhebung durch die Anmelderin);
b) "Da die vollständige Rekonstruktion der abgetasteten Kurve immer eine Bandbreitenbegrenzung voraussetzt, ändert auch die in der Beschreibung (S. 9, vorletzter Absatz) genannte Bandpassfilterung (dort explizit auf das Zwischenfrequenzsignal bezogen) den Sachverhalt nicht" (siehe Beschwerdebegründung, Punkt 32; Hervorhebung durch die Anmelderin).
1.2.2 Zur Drehung der Phase des Abtastwertes
Die Anmelderin ist der Auffassung, dass entgegen der Meinung der Prüfungsabteilung keine weitere Information, insbesondere auch nicht der Nullphasenwinkel phi0, explizit bekannt sein muss, um die gewünschte Phasendrehung zu berechnen. "Als ein Weg zur Ausführung der Erfindung wird in der Anmeldung die Verwendung von digitalen Filtern genannt. Als Beispiele werden FIR-Filter (Finite Impulse Response) oder IIR-Filter (Infinite Impulse Response) genannt, z.B. konkret ein sog. Hilbert Filter" (siehe Beschwerdebegründung, Punkt 36). Anhand numerischer Softwarepakete wie MATLAB oder Octave würde der Fachmann die Phasendrehung berechnen können. Insbesondere würden auch die Imaginärteile der Filterkoeffizienten der digitalen Filter, beispielsweise anhand der MATLAB-Funktion 'hilbert(xr)', berücksichtigt (siehe Beschwerdebegründung, Punkte 36 bis 39).
1.2.3 Zu den Ausführungen in der Beschreibung
Die Anmelderin erklärt, dass die in Figur 3 der Patentanmeldung dargestellte Abtastung eines Empfangssignals nicht als ein Ausführungsbeispiel der Erfindung bezeichnet wird. Die Figur 3 "könnte z.B. als ein konkretes Beispiel für eine Abtastung eines Zeitverlaufs (x-Achse: t) eines bandpassbegrenzten oder bandpassgefilterten Zwischenfrequenzsignals angesehen werden" (siehe Beschwerdebegründung, Punkte 40 bis 44).
1.3 Entscheidung der Kammer
Die Kammer teilt die Ansichten der Anmelderin. Insbesondere ist Folgendes auszuführen:
1.3.1 Zur Unterabtastung
Die Kammer ist der Ansicht, dass im Anspruch 1, wie von der Anmelderin vorgetragen, keine "echte" Unterabtastung des Zwischenfrequenzsignals, welche das Nyquist-Shannon-Abtasttheorem verletzen würde, beansprucht wird. Da die Erfindung im Sinne des Artikels 83 EPÜ sich auf die im Anspruch 1 definierte Erfindung bezieht, sind die Argumente der Prüfungsabteilung unzureichender Offenbarung im Zusammenhang mit einer Unterabtastung des Signals nicht relevant unter Artikel 83 EPÜ.
Es ist jedoch anzumerken, dass der Aspekt der Unterabtastung eine gewisse Rolle bei der Bestimmung des technischen Effekts der Unterscheidungsmerkmale des Anspruchs 1 gegenüber dem Stand der Technik zukommen könnte. Die Überprüfung, inwiefern der mit einer Unterabtastung zusammenhängende technische Effekt, nämlich die Berechnung einer Hüllkurve mit weniger Abtastwerten als in vergleichbaren Verfahren, tatsächlich über den gesamten Schutzbereich des vorliegenden Anspruchs 1 realisiert ist, ist bei der Bewertung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Verfahrens durchzuführen.
1.3.2 Zur Drehung der Phase des Abtastwertes
Anspruch 1 beinhaltet den Verfahrensschritt, wonach ein neuer Wert für einen Abtastwert durch Drehung der Phase des Abtastwertes berechnet wird. Die Bewerkstelligung der Drehung der Phase einer Signalschwingung, auch als Phasenverschiebung bezeichnet, ist dem Fachmann grundsätzlich geläufig. Daher sieht die Kammer keinen Grund, die Ausführbarkeit dieses Verfahrensschritts des Anspruchs 1 in Frage zu stellen.
Darüber hinaus wird in der Anmeldung (Seite 14, Zeile 9 bis Seite 15, Zeile 17) beschrieben, dass der Phasendreher durch ein geeignetes digitales Filter realisiert werden kann, beispielsweise anhand eines Hilbert-Filters (Seite 4, Zeilen 1 und 2). Figur 5A bzw. 5B zeigen den Amplitudengang und den Phasengang eines solchen Phasendrehers. Wie von der Anmelderin vorgetragen, gehört die Erstellung eines Hilbert-Filters anhand des numerischen Softwarepakets MATLAB zum Fachwissen, und ist die Phasendrehung des Abtastwertes durch die Anwendung eines derart erstellten Hilbert-Filters auf die Abtastwerte realisierbar.
Die Bedenken der Prüfungsabteilung, wonach einerseits der Nullphasenwinkel phi0 zur Berechnung des phasengedrehten Wertes ZF2i bekannt sein müsste (mit Verweis auf Figur 8) und andererseits bei der Abtastung nur die Realwerte erfasst werden könnten, sind nicht nachvollziehbar. Wie von der Anmelderin vorgetragen, erfolgt "die Berechnung des neuen [phasengedrehten] Wertes (...) unter Verwendung mehrerer der digitalen Abtastwerte" (siehe Patentanmeldung, Seite 2, Zeilen 23 und 24; Hervorhebung durch die Kammer). Aufgrund einer angemessenen Anzahl an digitalen Abtastwerten kann für jeden einzelnen dieser digitalen Abtastwerte ein neuer, phasengedrehter Wert ohne ausdrückliche Kenntnis des Nullphasenwinkels phi0, sondern unter Verwendung mehrerer digitaler Abtastwerten berechnet werden. Die konkreten Schritte zur Realisierung der Phasendrehung, wie beispielsweise die Bestimmung der notwendigen Mindestanzahl an digitalen Abtastwerten ZF1i, das Design des digitalen Filters und dessen Anwendung auf die digitalen Abtastwerte zur Berechnung eines neuen phasengedrehten Wertes ZF2i, gehören zum Fachwissen und inhärentem Können des Fachmanns.
2. Zurückverweisung
2.1 Artikel 111 (1) EPÜ bestimmt:
Nach der Prüfung, ob die Beschwerde begründet ist, entscheidet die Beschwerdekammer über die Beschwerde. Die Beschwerdekammer wird entweder im Rahmen der Zuständigkeit des Organs tätig, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, oder verweist die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an dieses Organ zurück.
Der einzige Zurückweisungsgrund gemäß der angefochtenen Entscheidung, nämlich unzureichende Offenbarung der Erfindung, überzeugt die Kammer nicht. Somit hat die angefochtene Entscheidung keinen Bestand mehr und muss aufgehoben werden.
2.2 Die Kammer übt ihr Ermessen nach Artikel 111 (1) EPÜ, 11 VOBK 2020 dahingehend aus, die Angelegenheit an die erste Instanz zurückzuverweisen. Verfahren vor dem EPA sind grundsätzlich so ausgelegt, dass über Streitfragen in zwei Instanzen entschieden wird, d. h. durch eine erstinstanzliche Verwaltungsinstanz und, bei gerichtlicher Überprüfung, durch die Beschwerdekammern. Die Kammer hält es vorliegend für sachgerecht, diesen Grundsatz anzuwenden, da die erste Instanz ihre Entscheidung auf der Basis eines vermeintlich nicht erfüllten spezifischen Erfordernisses des EPÜ (hier fehlende Offenbarung der Erfindung) getroffen, jedoch über die Einhaltung der anderen Erfordernisse des EPÜ (wie z. B. Klarheit, Neuheit und erfinderische Tätigkeit) nicht entschieden hat.
2.3 Die Kammer trifft vorliegend eine Entscheidung lediglich dahingehend, dass das beanspruchte Verfahren zur Berechnung einer Hüllkurvenamplitude nach den obigen Ausführungen das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung erfüllt. Weitere Aspekte, wie die Frage der Klarheit, Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit, sind in der angefochtenen Entscheidung ungeprüft geblieben. Unterschiedliche Einwände nach Artikel 84 EPÜ wurden von der Prüfungsabteilung während des Prüfungsverfahrens erhoben und kurz erläutert, jedoch ohne dass diesbezüglich ein ausführlicher Austausch zwischen der Prüfungsabteilung und der Anmelderin stattgefunden hätte, der zu für die Kammer erkennbar abschließenden Stellungnahmen der Prüfungsabteilung und der Anmelderin geführt hätte. Hinsichtlich des europäischen Rechercheberichts erging bis jetzt lediglich eine Erklärung nach Regel 63 EPÜ, wonach die Rechercheabteilung der Auffassung war, dass die vorliegende Patentanmeldung den Vorschriften des EPÜ so wenig entspreche, dass sinnvolle Ermittlungen über den Stand der Technik auf der Grundlage aller Patentansprüche nicht möglich gewesen seien. Somit konnte die Neuheit bzw. erfinderische Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands bis jetzt nicht geprüft werden.
2.4 Angesichts des bedeutenden Ausmaßes der ausstehenden Überprüfung liegen "besondere Gründe" im Sinne des Artikels 11 VOBK 2020 vor, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen.
2.5 Da die Anmelderin eine mündliche Verhandlung nur für den Fall beantragt hat, dass die Kammer nicht beabsichtige, das Verfahren zurückzuverweisen, konnte eine mündliche Verhandlung vorliegend unterbleiben und eine Entscheidung ohne eine solche ergehen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.