T 0264/21 (Wesentliche Verfahrensmängel/SIEMENS) 19-01-2023
Download und weitere Informationen:
Verfahren und System zur gemeinsamen Auswertung eines medizinischen Bilddatensatzes
Angefochtene Entscheidung - ausreichend begründet (nein)
Angefochtene Entscheidung - wesentlicher Verfahrensmangel (ja)
Rechtliches Gehör - Gelegenheit zur Stellungnahme (nein)
Rechtliches Gehör - Verletzung (ja)
Rechtliches Gehör - wesentlicher Verfahrensmangel (ja)
Grundlage der Entscheidung - vom Anmelder vorgelegte oder gebilligte Fassung der Anmeldung (nein)
Grundlage der Entscheidung - wesentlicher Verfahrensmangel (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - entspricht der Billigkeit wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die Anmeldung zurückzuweisen. Die angefochtene Entscheidung kam zu dem Ergebnis, dass der Hauptantrag und die Hilfsanträge 1 bis 4 die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ nicht erfüllen.
II. In der angefochtenen Entscheidung wurde auf folgende Dokumente Bezug genommen:
D1: US 2011/126127 A1
D2: US 5 187 790
D3: US 2011/107270 A1
D4: EP 2 735 982 A1
III. Mit der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Anträge wieder eingereicht. Sie beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf Grundlage eines dieser Anträge zu erteilen, hilfsweise wurde eine mündliche Verhandlung beantragt. Die Beschwerdeführerin machte ferner wesentliche Verfahrensmängel im Prüfungsverfahren geltend und beantragte die Rückzahlung der Beschwerdegebühr in voller Höhe nach Regel 103(1)(a) EPÜ.
IV. Die Kammer hat die Beschwerdeführerin zu einer mündlichen Verhandlung geladen. In ihrer vorläufigen Meinung kündigte die Kammer ihre Absicht an, die Sache wegen wesentlicher Verfahrensmängel an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.
V. Als Antwort hierauf teilte die Beschwerdeführerin mit, dass durch die Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung und durch die vollständige Rückerstattung der Beschwerdegebühr ihrem Hauptantrag vollständig entsprochen werde und ihr Antrag auf mündliche Verhandlung nachrangig sei. Die anberaumte mündliche Verhandlung wurde somit annulliert.
VI. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Verfahren zur gemeinsamen Auswertung eines medizinischen Bilddatensatzes (B) an einer ersten Datenverarbeitungseinrichtung (2) und mindestens einer damit über ein Datenübertragungsnetz (3) verbundenen zweiten Datenverarbeitungseinrichtung (2),
- wobei in der ersten Datenverarbeitungseinrichtung (2) eine erste Applikation (15a) und in der zweiten Datenverarbeitungseinrichtung (1) eine zweite Applikation (15b) ausgeführt werden,
- wobei jede dieser Applikationen (15a,15b) jeweils eine graphische Benutzeroberfläche (20) mit mindestens einem Segment (21) zur Anzeige einer Ansicht (V) des Bilddatensatzes (B) aufweist,
- wobei diese Ansicht (V) mittels einer dem jeweiligen Segment (21) zugeordneten Bildbearbeitungs-Pipeline (24) in einem mehrstufigen Bearbeitungsprozess aus dem Bilddatensatz (B) abgeleitet wird,
dadurch gekennzeichnet,
- dass das Segment (21) der ersten Applikation (15a) als Präsentatorsegment (31) betrieben wird, indem teilbearbeitete Daten (T3) des Bilddatensatzes (B) aus der Bildbearbeitungs-Pipeline (24,30) dieses Präsentatorsegments (31) ausgekoppelt und an die zweite Applikation (15b) übermittelt werden, und
- dass das Segment (21) der zweiten Applikation (15b) als Betrachtersegment (33) betrieben wird, indem die übermittelten, teilbearbeiteten Daten (T3) des Bilddatensatzes (B) zur Fertigstellung der Ansicht (V) in die Bildbearbeitungs-Pipeline (24,32) dieses Betrachtersegments (33) eingekoppelt werden."
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags wie folgt (Unterstreichung hinzugefügt):
"[...]
- dass das Segment (21) der ersten Applikation (15a) als Präsentatorsegment (31) betrieben wird, indem von einem Farbfilter teilbearbeitete Daten (T3) des Bilddatensatzes (B) aus der Bildbearbeitungs-Pipeline (24,30) dieses Präsentatorsegments (31) ausgekoppelt und an die zweite Applikation (15b) übermittelt werden, und
[...]"
Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags wie folgt (Unterstreichung hinzugefügt):
"[...]
- dass das Segment (21) der ersten Applikation (15a) als Präsentatorsegment (31) betrieben wird, indem teilbearbeitete Daten (T3) des Bilddatensatzes (B) vor Durchführung einer Formfaktoranpassung aus der Bildbearbeitungs-Pipeline (24,30) dieses Präsentatorsegments (31) ausgekoppelt und an die zweite Applikation (15b) übermittelt werden, und
- dass das Segment (21) der zweiten Applikation (15b) als Betrachtersegment (33) betrieben wird, indem die übermittelten, teilbearbeiteten Daten (T3) des Bilddatensatzes (B) zur Fertigstellung der Ansicht (V) vor einer Formfaktoranpassung in die Bildbearbeitungs-Pipeline (24,32) dieses Betrachtersegments (33) eingekoppelt werden."
Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags wie folgt (Unterstreichung hinzugefügt):
"[...], und
- dass die Ansicht (V) durch Kombination von Bilddaten des Bilddatensatzes (B) mit Daten mindestens einer weiteren Datenart, umfassend Metadaten und/oder Befunde (F), erzeugt wird, und wobei die Bilddaten und die Daten der mindestens einen weiteren Datenart separat voneinander aus der Bildbearbeitungs-Pipeline (24,30) des Präsentatorsegments (31) ausgekoppelt und in die Bildbearbeitungs-Pipeline (24,32) des Betrachtersegments (33) eingekoppelt werden, und dort zu der Ansicht (V) kombiniert zu werden."
Anspruch 1 des Hilfsantrags 4 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 wie folgt (Unterstreichung hinzugefügt):
"[...],
- wobei die Kopplung der Bildbearbeitungs-Pipelines (24,30,32) dadurch erzielt wird, dass in die Bildbearbeitungs-Pipeline (24,30) des Präsentatorsegments (31) und in die Bildbearbeitungs-Pipeline (24,32) des Betrachtersegments (33) jeweils ein Koppelfilter (34,35) geschaltet wird."
1. Begründungsmangel (Regel 111(2) EPÜ)
1.1 Gemäß Regel 111(2) EPÜ sind Entscheidungen des Europäischen Patentamts, die mit der Beschwerde angefochten werden können, zu begründen. Die Begründung muss die logische Kette enthalten, die zur Bildung des Urteils geführt hat und es der Beschwerdeführerin und der Kammer ermöglicht, zu verstehen, ob die Entscheidung gerechtfertigt ist oder nicht (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, Zehnte Auflage, Juli 2022, III.K.3.4.3).
1.2 Im vorliegenden Fall stellte die Prüfungsabteilung fest, dass die Unterscheidungsmerkmale des Anspruchs 1 des Hauptantrags technische sowie nicht-technische Merkmale enthalten. Ein Merkmal wurde im letzten Absatz der Seite 6 als nicht-technisch eingestuft. Für die übrigen Unterscheidungsmerkmale lautet die Begründung wie folgt:
"Der verbleibende Teil der Unterschiedsmerkmale, die in Punkt 2 identifiziert wurden, trägt zum technischen Charakter der Erfindung bei.
Diese Merkmale sind sowieso eine naheliegend Lösung der technischen Aufgabe, Bandbreite zu sparen.
Da die Kombination der unterscheidenden Merkmale keinen unerwarteten technischen Effekt hervorbringt, ist Anspruch 1. nicht erfinderisch (Artikel 56 EPÜ)."
Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin zu, dass man aus dieser Begründung die möglichen Gründe für die Zurückweisung erst rekonstruieren bzw. darüber spekulieren muss. Der Bezug auf Punkt 2 ist irreführend, denn es gibt vorher keinen Punkt 2 in der angefochtenen Entscheidung. Auch wenn man von den durchgestrichenen Merkmalen auf Seite 6 und von der Liste der technischen Merkmale im letzten Absatz der Seite 6 rekonstruieren könnte, welche Merkmale mit dem "verbleibende(n) Teil der Unterschiedsmerkmale" gemeint werden, muss man darüber spekulieren, welchen technischen Effekt die zum technischen Charakter der Erfindung beitragenden Merkmale hervorrufen, wie die Prüfungsabteilung auf die Formulierung der objektiven technischen Aufgabe "Bandbreite zu sparen" gekommen ist und warum die vom Anspruch 1 des Hauptantrags vorgeschlagene Lösung eine naheliegende Lösung ist (z.B. ob sie zum allgemeinen Fachwissen gehört oder aus welchem Stand der Technik bekannt ist). Bloß die Aussage, dass die Lösung sowieso eine naheliegende Lösung sei, ist eine unsubstanziierte Behauptung. Eine solche Begründung ist keine ordnungsgemäße Begründung im Sinne der Regel 111(2) EPÜ.
1.3 Die Begründung für die mangelnde erfinderische Tätigkeit im Anspruch 1 der Hilfsanträge folgt im Großteil demselben Muster und ist daher auch mangelhaft.
2. Verletzung des rechtlichen Gehörs (Artikel 113(1) EPÜ)
2.1 Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Artikel 113 (1) EPÜ beinhaltet nicht nur das Recht, sich zu äußern, sondern auch das Recht darauf, dass diese Äußerungen gebührend berücksichtigt werden. Es muss aus den Entscheidungsgründen hervorgehen, dass bei der Entscheidungsfindung eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kernargumenten der Anmelderin stattgefunden hat (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, Zehnte Auflage, Juli 2022, III.K.3.4.2). Im vorliegenden Fall, geht aus der knappen Zusammenfassung der Argumente der Beschwerdeführerin unter Punkten 1.2 (Seite 8), 2.2, 3.2, 4.2 und 1.2 (Seite 23) der angefochtenen Entscheidung und insbesondere aus der pauschalen Aussage, dass die Argumente der Anmelderin aufgrund der obigen Analyse nicht angenommen wurden, nicht hervor, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Argumenten der Beschwerdeführerin stattgefunden hat.
In der Niederschrift der mündlichen Verhandlung wird zum Beispiel auch erwähnt (siehe Seite 1, vorletzter Absatz), dass die Anmelderin unter anderem ausgeführt hatte, dass Anspruch 1 des Hauptantrags nicht das Ziel habe, Bandbreite zu sparen, sondern rechenintensive Operationen in einer gemeinsamen Pipeline und gerätespezifische Bearbeitungsschritte in verschiedenen Pipelines auszuführen. Weder wurde dieses Argument irgendwo in der angefochtenen Entscheidung erwähnt, noch geht aus dem Satz "Diese Merkmale sind sowieso eine naheliegend Lösung der technischen Aufgabe, Bandbreite zu sparen" hervor, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem Argument stattgefunden hat.
2.2 Darüber hinaus wurde in der angefochtenen Entscheidung der Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit gegenüber Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 mit der Kombination der Dokumente D1 und D4 begründet (siehe Seite 11 der angefochtenen Entscheidung, letzter Absatz). Die Beschwerdeführerin führte aus, dass die Offenbarung von D4 im Zusammenhang mit dem Hilfsantrag 1 weder in der Abschrift des Ergebnisses der telefonischen Rücksprache datiert vom 18. September 2020 erwähnt noch in der mündlichen Verhandlung diskutiert wurde. Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung erwähnt auch keine Diskussion über D4 im Zusammenhang mit dem Hilfsantrag 1. Damit wurde die Entscheidung auf Gründe gestützt, zu denen die Anmelderin sich nicht äußern konnte (Artikel 113(1) EPÜ).
3. Falsche Entscheidungsgrundlage (Artikel 113(2) EPÜ)
3.1 Die Beschwerdeführerin führte zutreffend aus, dass der der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegende Hilfsantrag 4 nicht der von der Anmelderin vorgelegten Fassung des Hilfsantrags 4 entspricht. Denn der der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Fassung des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 4 fehlen die Merkmale "vor Durchführung einer Formfaktorenanpassung" und "vor einer Formfaktorenanpassung". Wie von der Beschwerdeführerin ausgeführt, waren beide Merkmale schon im Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 und wurden von der Prüfungsabteilung als Unterscheidungsmerkmale identifiziert (siehe Seiten 13-14 der angefochtenen Entscheidung). Jedoch wurden dieselben Merkmale bei der Prüfung des Hilfsantrags 4 auf Seiten 21-22 der angefochtenen Entscheidung ignoriert. Damit hat sich die Prüfungsabteilung bei der Prüfung des Hilfsantrags 4 und bei der angefochtenen Entscheidung nicht an die von der Anmelderin vorgelegte Fassung des Hilfsantrags 4 gehalten (Artikel 113(2) EPÜ).
4. Die oben ausgeführten Mängel sind gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern wesentliche Verfahrensmängel. Wesentliche Verfahrensmängel stellen besondere Gründe im Sinne von Artikel 11 VOBK 2020 für die Zurückverweisung der Sache an die Prüfungsabteilung dar.
5. Da es sich bei dem vorliegenden Fall um wesentliche Verfahrensmängel handelt, entspricht die vollständige Rückerstattung der Beschwerdegebühr der Billigkeit (Regel 103(1)(a) EPÜ).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
Die Sache wird zur weiteren Prüfung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.
Die Beschwerdegebühr wird in voller Höhe zurückgezahlt.