T 1691/21 (Energieabsorptionsbauteil/Otto Fuchs) 20-01-2023
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Energieabsorptionsbauteil
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Einspruchsgründe - Gegenstand geht über den Inhalt der früheren Anmeldung hinaus (nein)
Beschwerdeentscheidung - Zurückverweisung an die erste Instanz (ja)
I. Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, betreffend zwei Einsprüche, das europäische Patent EP 1 785 499 B1 zu widerrufen.
II. Das Streitpatent bezieht sich auf ein Energieabsorptionsbauteil.
III. Der erteilte Anspruch 1 lautet wie folgt:
"1. Energieabsorptionsbauteil zum Absorbieren kinetischer Energie durch Verformung unter Ausbildung einer zumindest abschnittsweise faltenbalgähnlichen Struktur, hergestellt aus einer Aluminiumlegierung des Typs Al-Mg-Si, wobei das Gefüge des Bauteils zumindest zu 80 Vol.-% nicht rekristallisiert ist und im nicht rekristallisierten Bereich die sich rechtwinklig zur Oberfläche des Bauteils erstreckende effektive Korngröße, gemessen in ST-Richtung im Bereich ihrer jeweiligen Enden, der Körner kleiner als 100 mym ist und dass die Körner in den L-ST-Richtungen ein Streckungsverhältnis (L:ST) von mehr als 10:1 aufweisen, wobei die Aluminiumlegierung folgende Zusammensetzung aufweist:
Si: 0,30-1,3 Gew.-%,
Fe: 0,08-0,35 Gew.-%,
Cu: max. 0,5 Gew.-%,
Mg: 0,35-1,0 Gew.-%,
Mn: 0,02-0,8 Gew.-%,
Zn: max. 0,2 Gew.-%,
Cr: max. 0,15 Gew.-%
Ti: max. 0,1 Gew.-%,
wobei die Summe der rekristallationshemmenden Begleitelemente Titan, Scandium, Hafnium, Strontium, Zirkon und/oder Vanadium maximal 1,0 Gew.-% beträgt, nebst unvermeidbaren Verunreinigungen, von denen jedes einzelne Element max. 0,05 Gew.-% aufweist und diese Elemente zusammen max. 0,15 Gew.-% aufweisen, und einem Rest Aluminium und dass das Verfahren zum Herstellen des Bauteils dergestalt durchgeführt worden ist, dass das Gefüge des Bauteils grundsätzlich nur eine einzige, fein dispers verteilt angeordnete, intrakristalline Ausscheidungsphase mit einem Anteil von mehr als 40 % an teil- und/oder inkohärenten Teilchen aufweist und dass der Anteil der an den Korngrenzen vorhandenen Fe-haltigen Phasen so gering ist, dass der Kornverbund bei der Absorption kinetischer Energie durch diese Teilchen nicht übermaßen geschwächt ist."
Die abhängigen Ansprüche 2-9 beziehen sich auf bevorzugte Ausführungsformen.
IV. Die Einspruchsabteilung entschied in Bezug auf die erteilte Fassung, dass der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 c) EPÜ in Verbindung mit Artikel 123(2) EPÜ der Aufrechterhaltung des Streitpatents entgegenstehe.
V. Gegen diese Entscheidung legte die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) Beschwerde ein. Sie verteidigte das Streitpatent in der erteilten Fassung (Hauptantrag). Zudem reichte sie einen neuen Hilfsantrag A sowie die bereits im Einspruchsverfahren behandelten Hilfsanträge 1-7 ein. Mit einer weiteren Eingabe (17. Mai 2022) wurde ein weiterer Hilfsantrag B eingereicht und den bisherigen Hilfsanträgen vorangestellt.
VI. Die Einsprechenden 1 und 2 (Beschwerdegegnerinnen 1 und 2) erhoben im Hinblick auf die erteilte Fassung Einwände unter Artikel 100 c) EPÜ in Verbindung mit Artikel 123(2) EPÜ.
VII. Die wesentlichen Argumente der Beschwerdegegnerinnen können wie folgt zusammengefasst werden:
Die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung verlange, dass die effektive Korngröße entlang der ST- Richtung kleiner als 100 mym sein müsse. Da im erteilten Anspruch die effektive Korngröße, gemessen in ST-Richtung im Bereich ihrer jeweiligen Enden, kleiner als 100 mym ist, könne die effektive Korngröße in anderen Bereichen, beispielsweise in der Mitte, der längsgestreckten Körner nun größer als 100 mym sein. Dies lasse sich der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht entnehmen. Die als Basis genannte Beschreibung der Figur 4b auf Seite 14, Zeilen 29-32 der Anmeldung beziehe sich auf ein auf eine bestimmte Weise hergestelltes Crashbauteil und bestimmte Legierungszusammensetzungen. Ferner könne es auch dieser Beschreibung nicht entnommen werden, dass die effektive Korngröße zwischen den jeweiligen Enden größer als 100 mym sein könne.
VIII. Alle Beteiligten waren der Auffassung, dass die Angelegenheit zur weiteren Behandlung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen werden sollte, sollten die Erfordernisse des Artikels 123 EPÜ als erfüllt angesehen werden.
IX. In ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020, mit Datum vom 25. Oktober 2022, teilte die Kammer den Parteien in Vorbereitung der bereits anberaumten mündlichen Verhandlung ihre vorläufige Meinung mit, dass die Einwände unter Artikel 100 c) EPÜ nicht überzeugend zu sein schienen und die Kammer beabsichtige, die Angelegenheit zur weiteren Behandlung des Hauptantrags an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, sollte sie bei dieser Meinung bleiben.
X. Daraufhin nahm die Beschwerdegegnerin 2 mit Eingabe vom 15. November 2022 ihren Antrag auf eine mündliche Verhandlung zurück. Sodann nahm die Beschwerdeführerin ihren Antrag auf eine mündliche Verhandlung unter der Bedingung zurück, dass i) neben der Beschwerdegegnerin 2 auch die Beschwerdegegnerin 1 ihren Antrag auf eine mündliche Verhandlung zurücknimmt und ii) die Kammer bei der in der Mitteilung geäußerten vorläufigen Meinung bleibt. Mit Eingabe vom 23. November 2022 nahm auch die Beschwerdegegnerin 1 ihren Antrag auf eine mündliche Verhandlung zurück.
XI. Die Kammer hob den Termin für die mündliche Verhandlung auf (Mitteilung vom 29. November 2022).
XII. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Einsprüche zurückzuweisen (Hauptantrag), oder hilfsweise das Streitpatent in geänderter Fassung auf Basis des Hilfsantrags B vom 17. Mai 2022 oder eines der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge A und 1-7 aufrechtzuerhalten.
XIII. Die Beschwerdegegnerinnen 1 und 2 beantragten, die Beschwerde zurückzuweisen.
1. Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung
1.1 Alle Beteiligten haben ihre Anträge auf eine mündliche Verhandlung zurückgenommen (s. Punkt X.). Dies gilt auch für die Beschwerdeführerin, da die von ihr genannten Bedingungen (Rücknahme der Anträge der anderen Beteiligten und Festhalten der Kammer an ihrer vorläufigen Meinung) erfüllt sind (s. Punkt X.) Daher bestand keine Notwendigkeit für eine mündliche Verhandlung.
Hauptantrag
2. Artikel 100 c) EPÜ
2.1 Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass das Merkmal, gemäß welchem die sich rechtwinklig zur Oberfläche des Bauteils erstreckende effektive Korngröße der Körner, gemessen in ST-Richtung im Bereich ihrer jeweiligen Enden, kleiner als 100 mym sein soll, Sachverhalte einbringe, die der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht entnehmbar seien, da die effektive Korngröße in der Mitte der längsgestreckten Körner nun größer als 100 mym sein könne.
2.2 Jedoch verlangt die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht ausdrücklich, dass die effektive Korngröße in ST-Richtung entlang der gesamten Längserstreckung des Kornes, d.h. an jedem beliebigen Messort, kleiner als 100 mym ist. Die allgemeine Angabe in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung lautet, dass "die sich rechtwinklig zur Oberfläche des Bauteils ersteckende effektive Korngröße kleiner als 100 mym ist" (Seite 3, Zeilen 27-31); Anspruch 1 in der ursprünglich eingereichten Fassung definiert, "dass die sich rechtwinklig zur Oberfläche des Bauteils ersteckende effektive Korngröße (gemessen in ST-Richtung) der Körner kleiner als 100 mym ist".
Auch die spezifischere Angabe (siehe den von Seite 3 auf Seite 4 übergreifenden Absatz), dass Sorge dafür getragen ist, "dass die sich rechtwinklig zur Oberfläche des Bauteils erstreckende Korngröße, die [...] als effektive Korngröße bezeichnet wird, eine bestimmte Größe, nämlich 100 mym nicht überschreitet", impliziert nicht unmittelbar und eindeutig, dass die Korngröße diesen Wert an keiner Stelle entlang der gesamten Längserstreckung eines Kornes überschreitet, auch wenn dies eine mögliche Interpretation ist. So wäre beispielsweise auch eine Interpretation denkbar, gemäß welcher die Korngröße entlang der Längserstreckung zu mitteln ist.
Die nachfolgenden Angaben auf Seite 4 (Zeilen 8-14) betreffen den Bereich des Querschnitts des Bauteils und den Anteil der Körner, für den das Erfordernis gilt, nicht jedoch den Bereich eines einzelnen Korns, in dem das Erfordernis erfüllt sein muss. Auch die Norm ASTM 112 wird lediglich in Bezug auf die grundsätzliche Vorgehensweise genannt, zumal es ja gerade die Lehre des Streitpatents ist, welche bestimmte Korngröße zu berücksichtigen ist (Seite 4, Zeilen 14-18 bzw. Absatz [0009] des Streitpatents).
2.3 Im Zusammenhang mit der schematischen Figur 4b, die ausdrücklich zur Erläuterung des Begriffs "effektive Korngröße" dient (Seite 14, Zeile 26), wird nun speziell auf die in ST-Richtung verlaufende Ausdehnung der Körner im Bereiche ihrer jeweiligen Enden verwiesen; es heißt konkret "Die in ST-Richtung verlaufende Ausdehnung der dargestellten Körner im Bereich ihrer jeweiligen Enden stellen - wie durch die an den Enden zum Teil angeordneten gegeneinander gerichteten Pfeile kenntlich gemacht - die jeweilige effektive Korngröße dar." (Seite 14, Zeilen 26-32).
Die Kammer teilt die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass hier nicht lediglich Beispiele für einzelne von zahlreichen möglichen Messorten entlang der Längserstreckung eines Kornes gegeben werden, sondern die effektive Korngröße als die Ausdehnung im Bereich der jeweiligen Enden der Körner definiert wird, zumal Figur 4b gleichzeitig illustriert, dass die Ausdehnung entlang der Längserstreckung variiert.
Dies Verständnis ist im Einklang mit der vorstehenden Angabe in der Beschreibung (Seite 14, Zeilen 21-24), die lautet "Die im Rahmen dieser Ausführungen verwendete effektive Korngröße ist die Größe der Körner in ST-Richtung, und zwar insbesondere die in L-Richtung weisenden Korngrenzen, mit denen die einzelnen Körner an die in Pressrichtung (L-Richtung) benachbarten Körner grenzen". So kann die Ausdehnung in ST-Richtung im Bereich der jeweiligen Enden als Maß für die Größe der in L-Richtung weisenden Korngrenzen angesehen werden.
Die genannten Ausführungen auf Seite 14 betreffen die beschriebene Erfindung.
Im Lichte dieser Ausführungen können die Angaben in Anspruch 1 in der ursprünglich eingereichten Fassung und auf den Seiten 3 und 4 der Beschreibung nicht so verstanden werden, dass die effektive Korngröße entlang der gesamten Längserstreckung des Kornes einzuhalten wäre. Vielmehr sind die genannten Ausführungen auf Seite 14 als Klarstellung aufzufassen, wo die effektive Korngröße zu bestimmen ist. Diese Klarstellung ("im Bereich ihrer jeweiligen Enden") betrifft weder nur eine bestimmte Ausführungsform, beispielsweise eine bestimmte Legierungszusammensetzung, noch ist sie untrennbar mit anderen, im vorliegenden Anspruch nicht enthaltenen Merkmalen verknüpft.
2.4 Aus diesen Gründen geht die Angabe "im Bereich ihrer jeweiligen Enden" als Teil des Merkmals, dass die sich rechtwinklig zur Oberfläche des Bauteils erstreckende effektive Korngröße der Körner, gemessen in ST-Richtung im Bereich ihrer jeweiligen Enden, kleiner als 100 mym sein soll, unmittelbar und eindeutig aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hervor.
2.5 Die Beschwerdegegnerin 1 gibt in ihrer Beschwerdeerwiderung an, dass sie ihre Einwände unter Artikel 100 c) EPÜ aus der Einspruchsschrift (Punkte 2.1-2.3) aufrechterhalte (Punkt 2.1.1 der Beschwerdeerwiderung).
Diese wurden unter den Punkten II.2.1 und 2.2 der angefochtenen Entscheidung behandelt. Aus dem abstrakten Verweis der Beschwerdeführerin 1 auf die Einspruchsschrift geht nicht hervor, wieso die detaillierten Ausführungen der Einspruchsabteilung zu diesen Einwänden (Punkte 2.1 und 2.2) nicht zutreffend sein sollten. Die Kammer sieht keinen Grund, von der Auffassung der Einspruchsabteilung abzuweichen.
2.6 Folglich sind die Einwände unter Artikel 100 c) EPÜ nicht überzeugend.
3. Zurückverweisung
3.1 Die anderen Einspruchsgründe wurden in der angefochtenen Entscheidung nicht behandelt.
Im Hinblick auf das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen (Artikel 12(2) VOBK 2020), werden die Umstände dieses Falles, in dem die Einspruchsabteilung noch nicht über die anderen Einspruchsgründe befunden hat, als besondere Gründe im Sinn des Artikels 11 VOBK 2020 angesehen.
Daher ist die Angelegenheit zur weiteren Behandlung des Hauptantrags an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen (Artikel 111(1) EPÜ).
4. Rückerstattung
4.1 Die Beschwerdegebühr ist gemäß Regel 103(4)(c) EPÜ zu 25% zu erstatten, da die Anträge für eine mündliche Verhandlung innerhalb eines Monats ab Zustellung der Mitteilung der Kammer (Artikel 15(1) VOBK 2020) zurückgenommen wurden.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Behandlung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.
3. Die Beschwerdegebühr ist in Höhe von 25% zu erstatten.