T 1969/21 02-02-2023
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AUFNAHMEKORB FÜR EINE HEBEVORRICHTUNG SOWIE VERFAHREN ZUM BESCHICKEN EINER LEBENSMITTELVERARBEITENDEN MASCHINE
Zulässigkeit der Beschwerde - Beschwerdeschrift
Zulässigkeit der Beschwerde - Angabe der angefochtenen Entscheidung
Einspruchsgründe - unzulässige Erweiterung (nein)
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Zurückverweisung - (nein)
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (nein)
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Änderung nach Ladung - stichhaltige Gründe (nein)
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, wonach das Streitpatent in der geänderter Fassung des in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsantrags 8 den Erfordernissen des EPÜ genügt.
II. Die Einspruchsabteilung hat unter anderem wie folgt entschieden:
- der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 sei gegenüber E8 (Katalog MRG 400,900) und E10 (Katalog MRG 1500) nicht neu; und
- der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gehe über die ursprüngliche Offenbarung nicht hinaus.
In der angefochtenen Entscheidung wurden zudem die folgenden, für die vorliegende Entscheidung relevanten Dokumente genannt:
E1: DE 195 00 326 A1;
E2: US 2005/0269364 A1;
E6: Ersatzteilkatalog der MRG 400;
E7: Ersatzteilkatalog der MRG 900;
E9: Ersatzteilkatalog der MRG 1500;
E11: Anlagenkonvolut zur angeblichen offenkundigen Vorbenutzung der Maschine MGR 400 bestehend aus:
E11a: Technische Zeichnung Bauteil "Schütte";
E11b: Auszug der Website www.ruehle-hightech.de
vom 2. Juli 2013;
E11d: Lieferschein Hilcona Convenience AG;
E11e: Auszug der Website www.ruehle-hightech.de
zur MGR 400 vom 6. Juli 2013;
E11f: Kurzinstallationsanleitung zur MGR 400;
E11g: "Originalbetriebsanleitung" zur MGR 400;
E12: Anlagenkonvolut zur angeblichen offenkundigen Vorbenutzung der Maschine MGR 900 bestehend aus:
E12a: Technische Zeichnung Bauteil "Schütte";
E12b: Auszug der Website www.ruehle-hightech.de
vom 2. Juli 2013;
E12d: Lieferschein Birtat GmbH;
E12e: Auszug der Website www.ruehle-hightech.de
zur MGR 900 vom 6. Juli 2013;
E12f: Kurzinstallationsanleitung zur MGR 900;
E12g: "Originalbetriebsanleitung" zur MGR 900;
und,
E13: Anlagenkonvolut zur angeblichen offenkundigen Vorbenutzung der Maschine MGR 1500 bestehend aus:
E13a: Technische Zeichnung Bauteil "Schütte";
E13b: Auszug der Website www.ruehle-hightech.de
vom 2. Juli 2013;
E13d: Lieferschein Khumex Poultrey Products B.V.;
E13e: Auszug der Website www.ruehle-hightech.de
zur MGR 1500 vom 6. Juli 2013;
E13f: Kurzinstallationsanleitung zur MGR 1500;
E13g: "Originalbetriebsanleitung" zur MGR 1500.
III. Es fand am 2. Februar 2023 eine mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz statt.
Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1, 4, 5, 2, 3 und 6 wie eingereicht mit der Beschwerdebegründung.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Verwerfung der Beschwerde als unzulässig, hilfsweise die Zurückweisung der Beschwerde.
IV. Der Anspruch 1 gemäß Hauptantrag, d.h. der aufrechterhaltenen Fassung, lautet wie folgt (Merkmalsgliederung gemäß der angefochtenen Entscheidung):
M1.1 1. Aufnahmekorb (4) für eine Hebevorrichtung (2) einer
lebensmittelverarbeitenden Maschine (1), insbesondere einer Füllmaschine,
M1.2 zur Aufnahme eines Brätwagens (5), der als U-förmige
Tragstruktur ausgebildet ist,
dadurch gekennzeichnet, dass
M1.3 der Aufnahmekorb (4) ein daran befestigtes Dichtelement
(7) aufweist,
M1.4 das sich an zumindest eine Außenwand des Brätwagens (5)
anlegen kann,
M1.5 wobei das Dichtelement (7) sich zumindest entlang einer
der drei Seiten (S1, S2, S3) der Tragstruktur erstreckt, vorzugsweise zumindest entlang der Einkippseite S1.
Die erteilten Ansprüche 10, 11 und 14 lauten wie folgt:
10. Hebevorrichtung (2) zum Aufnehmen, Anheben und Entleeren eines Brätwagens (5) in eine lebensmittelverarbeitende Maschine (1) insbesondere Füllmaschine, mit einem Antrieb (12), einem Hubelement (3) und einem mit dem Hubelement (3) verbundenen Aufnahmekorb (4) zur Aufnahme eines Brätwagens (5) nach mindestens einem der Ansprüche 1 bis 9.
11. Füllmaschine (1) zum Abfüllen pastöser Masse mit einem Trichter (6) zum Einfüllen der pastösen Masse, einem Förderwerk zum Fördern der pastösen Masse in ein Füllorgan, insbesondere Füllrohr und mit einer Hebevorrichtung (12) nach Anspruch 10.
14. Verfahren zum Beschicken einer lebensmittelverarbeitenden Maschine, insbesondere einer Füllmaschine (1), mit einer Hebevorrichtung nach Anspruch 10 mit folgenden Schritten:
- Einschieben und Befestigen eines mit pastöser Masse gefüllten Brätwagens (5) in einen Aufnahmekorb (4) der Hebevorrichtung (2), der als U-förmige Tragstruktur ausgebildet ist, wodurch sich zumindest zwischen einer Außenwand des Brätwagens (5) und einer entsprechend gegenüberliegenden Seite des Aufnahmekorbs (4) eine längliche Dichtstelle bildet,
- Anheben und Entleeren des Brätwagens (5) in die lebensmittelverarbeitende Maschine (1), insbesondere Füllmaschine, und
- Absenken und Entnehmen des Brätwagens (5).
1. Zulässigkeit der Beschwerde
1.1 Die Beschwerde ist zulässig (Regel 99 und 101 EPÜ).
1.2 Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, da die Beschwerdeführerin versäumt habe, in der Beschwerdebegründung die tatsächlichen und rechtlichen Gründen anzugeben , weshalb die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden solle. Insbesondere wiederhole die Beschwerdeführerin lediglich die im Einspruchsverfahren vorgebrachten Argumente so vage und unsubstanziiert, dass weder die Beschwerdekammer noch die Beschwerdegegnerin ohne eigene Ermittlungen unmittelbar ersehen könnten, warum die Entscheidung falsch sein solle und auf welche Tatsachen die Beschwerdeführerin ihre Argumente stützte.
1.3 Das von der Beschwerdegegnerin vorgetragene Kriterium für eine begründete Beschwerdebegründung gemäß Regel 99(2) EPÜ ist korrekt. Jedoch ist vorliegend ersichtlich der Fall, dass die Argumente der Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung in Bezug zur Entscheidung der Einspruchsabteilung gesetzt sind. Ab Seite 7 der Beschwerdebegründung handelt diese die Einschätzung der Einspruchsabteilung ab, der Gegenstand des Hauptantrags sei nicht neu, und legt dabei zunächst auf zwei Seiten dar, warum E8 dessen Merkmale nicht vorwegnehme, um dann auf zwei weiteren Seiten sich mit Argumenten der Einspruchsabteilung im Einzelnen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus gibt die Beschwerdeführerin unter Punkt III.2 zusätzlich die Gründe an, weshalb der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Der Vortrag der Beschwerdegegnerin ignoriert diesen Teil der Beschwerdebegründung.
2. Auslegung des erteilten Anspruchs 1
2.1 Strittig zwischen den Parteien ist die Auslegung des Merkmals M1.2, insbesondere des Wortlauts "der als U-förmige Tragstruktur ausgebildet ist" zusammen mit den Merkmalen M1.3 und M1.5.
2.2 Der Beschwerdegegnerin nach sei die im Anspruch 1 enthaltene Tragstruktur eine Struktur, welche den Brätwagen trage, d.h. eine Struktur mit einer tragenden Funktion. Diese Tragstruktur bilde gemäß Merkmal M1.2 den Aufnahmekorb aus, aber der Korb sei nicht darauf beschränkt, die Tragstruktur lediglich zu umfassen. Vielmehr bestehe der Aufnahmekorb nicht ausschließlich aus tragenden Teilen, da der Anspruch offen lasse, wie die Struktur aussehe. Das Streitpatent bestätige diese Auslegung, denn die Tragstruktur weise neben tragenden Teile auch solche Teile auf, die keine Tragfunktion erfüllten: ein Dichtelement (Merkmal M1.3), eine Arretiervorrichtung (siehe Absatz [0024] und [0029] sowie Anspruch 17) und Sensoren (siehe Absatz [0025]). Somit schließe der erteilte Anspruch 1 nicht aus, dass das Dichtelement an einem nicht tragenden Teil der den Aufnahmekorb ausbildenden U-förmigen Tragstruktur befestigt sei.
2.3 Dies überzeugt die Kammer nicht, die der Ansicht der Patentinhaberin folgt. Der Oberbegriff des Anspruchs 1 definiert den Aufnahmekorb als U-förmige Tragstruktur. Gemäß Merkmal M1.3 ist an dem Aufnahmekorb ein Dichtelement befestigt, und gemäß Merkmal M1.5 erstreckt sich das Dichtelement zumindest entlang einer der drei Seiten der Tragstruktur. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass der Aufnahmenkorb aus der U-förmigen Tragstruktur besteht, an welcher das Dichtelement befestigt ist und dieses Dichtelement örtlich sich entlang einer der drei Seiten der U-förmigen Tragstruktur erstreckt. Dabei ist die U-förmige Tragstruktur eine Struktur, die eine tragende Funktion ausübt und die den Brätwagen trägt. Ausdrücklich an dieser tragenden Struktur selbst ist gemäß Merkmal 1.5 das Dichtelement befestigt und erstreckt sich entlang einer ihrer drei Seiten.
Dies steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass der Aufnahmekorb zusätzlich weitere Komponenten mit anderen Funktionen und ohne tragende Funktion - wie die Arretiervorrichtung, die Dichtung und Sensoren - aufweisen kann.
3. Neuheit - Artikel 100(a) i.V.m. Artikel 54 EPÜ
3.1 Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 ist neu gegenüber E8 (bzw. E10), den angeblichen offenkundigen Vorbenutzungen MGR 400, MGR 900 und MGR 1500, sowie gegenüber E6, E7 und E9. Insbesondere offenbart keines der Dokumente das Merkmal M1.5.
3.2 Die Beschwerdegegnerin trug im wesentlichen vor, dass der Aufnahmenkorb der in E8, E10, E6, E7 und E9 offenbarten Vorrichtungen sowie der angeblichen offenkundig vorbenutzten Maschinen die darin gezeigte Schütte umfasse. Der Aufnahmekorb, der in E8 (E10) als Normwagenführung bezeichnet sei (siehe Seite 3 unter "Beschicken und Entleeren"), bestehe zusätzlich aus einem waagerechten Hauptarm, an dem zwei Führungen befestigt seien (siehe auch Seite 4 und 18 von E6, Seite 3 und 45 von E7, und Seite 4, 34 und 47 von E9). Unter Berücksichtigung ihre oben genannten Auslegung des Anspruchs 1 erklärte sie, dass die den Aufnahmekorb ausbildende U-förmige Tragstruktur die Schütte zusammen mit dem Hauptarm und die zwei senkrecht dazu verlaufenden Führungen umfasse. An dieser Schütte sei ein Dichtelement befestigt (in E8, E10 implizit aus der Passage "Beschicken und Entleeren" zu entnehmen und in E6, E7 und E9 sowie in den angeblichen offenkundigen Vorbenutzungen als U-förmiges und weißes Dichtelement aus einem flexiblen Gummi-Material - Teil Nr. 110642 - zu erkennen).
Nach einer weiteren Argumentationslinie machte die Beschwerdegegnerin geltend, dass aus E7 hervorgehe, dass die darin offenbarte Schütte mit der daran befestigten Gummidichtung Teil der Tragstruktur des Aufnahmekorbes im Sinne des Anspruchs 1 sei. Der auf Seiten 45 und 49 gezeigte Bügel der Schütte komme in Kontakt mit dem vom Aufnahmekorb aufgenommenen Brätwagen (siehe Seite 3 von E7), so dass sie eine Lasttragefunktion aufweise.
3.3 Unter Berücksichtigung der oben unter Punkt 2.3 genannten Auslegung des Anspruchs 1 fungiert die in E6, E7, E8, E9, E10 und in den angeblichen offenkundigen Vorbenutzungen offenbarte Schütte nicht als Tragstruktur, da sie nicht unmittelbar und eindeutig erkennbar eine tragende Funktion des Brätwagens aufweist.
Die U-förmige Tragstruktur, die den Aufnahmekorb ausbildet und den Brätwagen trägt, besteht aus einem waagerechten Hauptarm (und gegebenenfalls zwei zusätzlichen waagerechten Wellen bei den Maschinen MGR 900 und MGR 1500) und den zwei Führungen, die jeweils einen Aufnahmeschlitz für die Hebepratzen des Brätwagens aufweisen (siehe Seiten 1 und 2 von E8, Seiten 1 und 2 von E10, Seiten 4 und 18 von E6, Seiten 3 und 45 von E7, Seiten 4, 34 und 47 von E9 und Seite 1 von E11f, E12f und E13f). Die Schütte ist an dieser Struktur befestigt. Jedoch kann man aus ihrer Konstruktion nicht unmittelbar und eindeutig ableiten, dass sie tragend für den Brätwagen inklusiv seinem Inhalt ist. Im Gegenteil dient die Schütte dieser Maschinen der Ausschüttung des Inhalts des Brätwagens und zwar nahezu ohne Tropfverluste durch eine Dichtung zwischen der Normwagenführung und dem Wagen(siehe E8 und E10 "Beschicken und Entleeren"; und die oben genannte Gummileisten in E6, E7 und E9).
Der in E7 gezeigte Bügel der Schütte kann die Existenz einer tragenden Funktion der Schütte auch nicht belegen, da aus den Bildern in E7 der von der Beschwerdegegnerin behauptete Kontakt dieses Bügels mit dem aufgenommenen Brätwagen nicht unmittelbar und eindeutig hervorgeht.
3.4 Die Einspruchsabteilung bewertete die Schütte in E8 als Teil der Tragstruktur im Sinne des Anspruchs 1, weil beim Anlegen der Brätwagen an der Schütte Kräfte zwangsläufig übertragen würden, um die darin beschriebene Dichtwirkung entfalten zu können (siehe Seite 10, 2 Absatz der angefochtenen Entscheidung).
Jedoch, wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, entsprechen diese Dichtkräfte keinen Tragkräften zum Heben bzw. Tragen des Brätwagens. Die Schütte ist letztendlich als zusätzliche optionale Komponente mit anderen Funktionen und keiner tragenden Funktion - wie die im Streitpatent offenbarten Arretiervorrichtung, Dichtung und Sensoren - anzusehen.
3.5 Der Anspruch 10 enthält alle Merkmale des erteilten Anspruchs 1 und somit hängt er von dem erteilten Anspruch 1 ab. Aus denselben Gründen wie beim erteilten Anspruch 1 ist daher der Gegenstand des erteilten Anspruchs 10 neu.
3.6 Die Beschwerdeführerin monierte ebenfalls, dass der Gegenstand des erteilten Verfahrensanspruchs 14 nicht neu gegenüber E8 (E10), den angeblichen offenkundigen Vorbenutzungen MGR 400, MGR 900 und MGR 1500, sowie gegenüber E6, E7 und E9 sei.
Da das Verfahren gemäß dem erteilten Anspruch 14 eine Hebevorrichtung nach dem erteilten Anspruch 10 anwendet, die einen Aufnahmekorb nach dem erteilten Anspruch 1 aufweist, ist der Gegenstand des erteilten Anspruchs 14 aus denselben Gründen wie beim erteilten Anspruchs 1 neu.
3.7 Da die Neuheitseinwände der Beschwerdegegnerin schon in der Sache nicht überzeugend sind, kann die Frage, ob E6, E7, E9 und die angeblichen offenkundigen Vorbenutzungen MGR 400, MGR 900 und MGR 1500 zum Prioritätszeitpunkt tatsächlich der Öffentlichkeit zugänglich waren, dahin gestellt bleiben.
4. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung
4.1 Die Kammer verweist in Ausübung ihrer Ermessensbefugnis die Angelegenheit nicht an die Einspruchsabteilung zu weiteren Entscheidung zurück.
4.2 Die Beschwerdegegnerin beantragte während der mündlichen Verhandlung den Fall an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, um die Frage der Neuheit des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1 gegenüber den angeblichen offenkundigen Vorbenutzungen weiterzuprüfen. Der Antrag sei begründet, da die Einspruchsabteilung über diese inhaltlich nicht entschieden habe, da sie die Offenkundigkeit der Vorbenutzungen als nicht bewiesen erachtete. Somit müssten der Beschwerdegegnerin noch zwei Instanzen zur Verfügung stehen. Es sei zudem nicht sachgerecht, diesen Punkt vor der Beschwerdekammer zu diskutieren, da es sich nicht pauschal bewerten lasse, ob die offenkundige Vorbenutzungen relevanter als die andere für die Neuheit berücksichtigte Entgegenhaltungen seien. Dies sollten vielmehr individuell gründlich und sorgfältig überprüft werden.
4.3 Gemäß Artikel 111(1) EPÜ entscheidet die Beschwerdekammer über die Beschwerde. Die Beschwerdekammer wird dabei entweder im Rahmen der Zuständigkeit des Organs tätig, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, oder verweist die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an dieses Organ zurück.
Weiterhin verweist die Kammer gemäß Artikel 11 VOBK 2020 (Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, Amtsblatt EPA 2019, A63) die Angelegenheit nur dann zurück, wenn besondere Gründe dafür sprechen.
4.4 Vorliegend sprechen keine besondere Gründe dafür. Die Beschwerdegegnerin konnte nicht darlegen, weshalb die offenkundige Vorbenutzungen hinsichtlich Merkmal M1.5 relevanter als E7, E8 oder E10 sind. Zudem waren beide Parteien in der Lage, die Neuheit angesichts dieser offenkundigen Vorbenutzungen zu diskutieren, da es sich um vergleichbar konstruierte Maschinen handelt und die Diskussion sich jeweils um im wesentlichen gleichartige Strukturen drehte (siehe oben Punkt 3).
Letztlich besteht nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern kein grundsätzliches Recht der Parteien auf die Prüfung eines Sachverhalts in zwei Instanzen. Danach hat ein Verfahrensbeteiligter keinen absoluten Anspruch darauf, dass jede einzelne Frage von zwei Instanzen geprüft wird. Dies liegt im Bereich de Ermessensausübung der Kammer (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 10. Auflage 2022, V.A.9.2.1).
5. Erfinderische Tätigkeit - Artikel 100(a) i.V.m. Artikel 56 EPÜ
5.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist nicht durch die Kombination von E8 bzw. E10 mit dem Fachwissen oder die Kombination von E1 mit einer der E6 bis E10 oder E2 nahegelegt (Artikel 56 EPÜ).
5.2 Die Beschwerdegegnerin argumentierte ausgehend von E8 bzw. E10 wie folgt.
Gemäß einer ersten Argumentationslinie bilde die in E8 bzw. E10 offenbarte Schütte auch die beanspruchte U-förmige Tragstruktur aus, so dass der Unterschied des Gegenstands von Anspruchs 1 zu dem Aufnahmekorb von E8 bzw. E10 lediglich auf der Lage und Erstreckung der Dichtung liege.
Wie oben unter Punkt 3 festgestellt, ist die Schütte nicht als Teil der Tragstruktur anzusehen. Diese Argumentationslinie ist infolgedessen erfolglos.
Gemäß einer zweiten, neu im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Argumentationslinie sieht die Beschwerdegegnerin die Schütte in E8 bzw. E10 als optionales Zusatzteil an, das nicht der Tragstruktur zugehört. Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheide sich daher von den beiden Entgegenhaltungen durch Merkmal M1.5. Es wäre für den Fachmann naheliegend, die in E8 bzw. E10 offenbarte Dichtung an einem anderen Ort zu befestigen, wie z.B. an der Tragstruktur selbst, da die Schütte ein separates und optionales Teil sei. Es sei für den Fachmann banal und liege für ihn auf der Hand eine längliche Dichtung an dem Querrohr der U-förmige Tragstruktur von E8 bzw. E10 zu befestigen.
Unabhängig davon, ob die zweite Argumentationslinie zuzulassen wäre, überzeugt diese in der Sache nicht, da sie auf einer rückschauende Betrachtungsweise beruht. Der Ansicht der Beschwerdeführerin ist zu folgen, wonach dem Fachmann jeglicher Anlass und Hinweis fehlt, die in Form, Lage und Erstreckung unspezifizierte Dichtung der E8 bzw. E10 an der U-förmigen Tragstruktur zu befestigen und zwar entlang einer ihrer drei Seiten. Beide Parteien waren sich diesbezüglich einig, dass der Fachmann die Dichtung entlang der Seite oder den Seiten der Schütte befestigen würde, um den mit Flüssigkeit gefüllte Brätwagen nahezu ohne Tropfverluste in den Behälter zu entleeren (siehe "Beschicken und Entleeren" in E8 bzw. E10). Das Anbringen einer Dichtleiste am tragenden Querrohr und damit im unteren Bereich des aufgenommenen Wagens würde diesen Zweck nicht erfüllen können und würde daher vom Fachmann auch nicht in Betracht gezogen. Ein Hinweis auf die Verhinderung der Einleitung von Schmutzwasser vom Boden findet sich in E8 oder E10 nicht und ergibt sich nur rückschauend aus dem Patent.
5.3 Der Angriff der Beschwerdegegnerin ausgehend von E1 in Kombination mit einer der Entgegenhaltungen E6 bis E10 basiert wieder auf der Annahme, dass die in E6 bis E10 offenbarte Schütte Teil der Tragstruktur sei. Aus den selben Gründen wie oben für die erste Argumentationslinie der Kombination von E8 bzw. E10 mit dem Fachwissen ist der Angriff erfolglos, da in keiner dieser Offenbarungen die Schütte zur Tragstruktur gehört.
5.4 In der Beschwerdeerwiderung verwies die Beschwerdegegnerin hinsichtlich des Naheliegens des Gegenstands von Anspruch 1 ausgehend von E1 und im Lichte von E2 auf Kapitel 7.2 des Einspruchsschriftsatzes. Darin argumentierte sie, dass sich der Gegenstand des Anspruchs 1 von dem Aufnahmekorb gemäß E1 durch die Merkmale M1.3 bis M1.5 unterscheide. Daraus formulierte sie die zu lösende objektive technische Aufgabe wie folgt: eine Verunreinigung des Lebensmittels, welches aus dem Bratwagen in die lebensmittelverarbeitende Maschine gekippt wurde, durch Spritzwasser an dem Bratwagen zu verhindern. D2 offenbare in Absatz [0004] bereits eine Dichtung, die an einer Außenwand des Brätwagens positioniert sei. Vor die oben formulierte Aufgabe gestellt, werde der Fachmann ohne Weiteres eine solche Dichtung in E1 aufnehmen, da es sich um eine naheliegende Maßnahme handele, wie in E2 gezeigt.
Dies überzeugt nicht. Wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, gibt E2 dem Fachmann keinerlei Anregung , an der in E1 offenbarten U-förmigen Tragstruktur des Aufnahmekorbs für eine Hebevorrichtung einer lebensmittelverarbeitenden Maschine ein Dichtelement gemäß den Merkmalen M1.3 bis M1.5 zu befestigen. E2 gehört zu einem anderen Gebiet, nämlich eine Vorrichtung zum Entleeren eines Müllcontainers, bei der eine Öffnung 34 im unteren Bereich (siehe z.B. Fig. 1, Absatz [0024], 8. Zeile) gegen eine Öffnung in einem Trichter 18 abgedichtet werden soll (siehe zitierte Absatz [0004]). E2 offenbart keine Tragstruktur eines Aufnahmekorbes für eine Hebevorrichtung einer lebensmittelverarbeitenden Maschine, an der eine Dichtung befestigt ist.
Der Angriff beruht ebenfalls auf einer rückschauenden Betrachtungsweise.
5.5 Letztlich beruhen aus denselben Gründen wie beim erteilten Anspruch 1 der Gegenstand des erteilten Vorrichtungsanspruchs 11 und der Gegenstand des erteilten Verfahrensanspruch 14 ausgehend von E8 (bzw. E10) oder E1 auf einer erfinderischen Tätigkeit. Anspruch 11 hängt mittelbar über Anspruch 10 von dem erteilten Anspruch 1 ab und das Verfahren gemäß dem erteilten Anspruch 14 wendet eine Hebevorrichtung nach dem erteilten Anspruch 10 an (siehe auch oben Punkte 3.5 und 3.6).
6. Änderung des Beschwerdevorbringens
6.1 Die neuen während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgebrachten Angriffslinien werden nicht berücksichtigt. Es handelt sich dabei um Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit betreffend den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 ausgehend von den geltend gemachten offenkundigen Vorbenutzungen, E6 oder E7.
6.2 Gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
6.3 Die Beschwerdegegnerin ging im schriftlichen Verfahren für die Frage der erfinderischen Tätigkeit von E8 bzw. E10 oder E1 aus (siehe Beschwerdeerwiderung Punkt 4).
Erstmals in der mündlichen Verhandlung argumentierte die Beschwerdeführerin ausgehend von den geltend gemachten offenkundigen Vorbenutzungen, E6 oder E7.
6.4 Die Kammer stellt fest, dass es sich hierbei um eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdegegnerin handelt, da derartige Angriffslinien nicht Bestandteil des Beschwerdeerwiderung sind, selbst unter Berücksichtigung des Verweis auf die im Einspruchsverfahren vorgebrachten Argumenten in Bezug auf die offenkundige Vorbenutzungen, E6 und E7.
6.5 Die Beschwerdegegnerin führte aus, die Änderung ihres Beschwerdevorbringens sei zu berücksichtigen, da sie eine ordnungsgemäße Reaktion auf die überraschende Änderung der in der Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020 angegebenen vorläufige Einschätzung der Kammer hinsichtlich des erteilten Patents darstelle, und insbesondere aufgrund der Änderung der Kammer Auslegung des erteilten Anspruchs 1.
6.6 Allerdings ist es ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, dass die Einschätzung der Kammer in Ihrer Mitteilung der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung und der Konzentration auf die Punkte, die für die zu treffende Entscheidung voraussichtlich von besonderer Bedeutung sein werden, dient. Diese Einschätzung ist für die zu treffende Entscheidung nicht bindend und ihre etwaige spätere Änderung daher kein außergewöhnlicher Umstand im Sinne von Artikel 13(2) VOBK. Darüber hinaus basiert die Entscheidung der Kammer im vorliegenden Fall vor allem auf dem Vortrag der Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung, sodass die Beschwerdegegnerin schon Gelegenheit gehabt hätte, diese Angriffe einzureichen, für den Fall, dass die Kammer der Ansicht der Beschwerdeführerin folgen würde.
Infolgedessen erweist sich der angegebene Grund der Beschwerdegegnerin nicht als stichhaltig, da sie nicht aufzeigen konnte, dass außergewöhnliche Umstände vorlagen.
7. Unzulässige Erweiterung - Artikel 100(c) EPÜ
7.1 Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 geht nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus.
7.2 Die Beschwerdegegnerin verfolgte ihren im Einspruchsverfahren erhobenen unzulässigen Erweiterungseinwand hinsichtlich des in Anspruch 1 enthaltenen folgenden Wortlauts weiter:
"der Aufnahmekorb ein daran befestigtes Dichtelement".
Im Wesentlichen argumentierte sie, dass durch die Änderung die folgenden, ursprünglich im Zusammenhang offenbarten, Merkmale weggelassen würden:
- das Dichtelement sei an mindestens einer Außenseite des Aufnahmekorbs angeordnet; und
- das Dichtelement sei am Aufnahmekorb im unteren Drittel befestigt.
7.3 Der erteilte Anspruch 1 ist eine Kombination der ursprünglich eingereichten Ansprüche 1 und 5, in der der Wortlaut:
"der Aufnahmekorb (4) ein Dichtelement (7) aufweist";
durch den folgenden Wortlaut ersetzt wird:
"der Aufnahmekorb (4) ein daran befestigtes Dichtelement (7) aufweist".
Gemäß dem ursprünglich eingereichten Anspruch 1 wird ein Aufnahmekorb beansprucht. Der Korb weist ein Dichtelement auf. Dieses Dichtelement muss zwangsläufig in irgendeiner Art und Weise an dem Aufnahmekorb befestigt sein, da der Fachmann (vor allem in der auf Anspruch 1 rückbezogenen tragenden Variante gemäß Anspruch 5) nicht davon ausgehen wird, dass das Dichtelement einstückig mit der Tragstruktur ausgebildet ist, an der es sich ja "entlang erstrecken" muss. Durch die Wortlautsänderung dieses Merkmals ist daher keine zusätzliche technische Information zum Gegenstand des Anspruchs hinzugefügt worden. Der Gegenstand des erteilten Anspruch 1 geht somit unmittelbar und eindeutig aus der Kombination der ursprünglich eingereichten Ansprüche 1 und 5 hervor.
8. Daraus ergibt sich, dass die Beschwerde der Patentinhaberin begründet ist.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtenen Entscheidung wird aufgehoben.
2. Der Einspruch wird zurückgewiesen.