4.3.4 "Chirurgische Behandlung" in der Rechtsprechung im Anschluss an G 1/07
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In einer Reihe von Entscheidungen haben die Kammern sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob bestimmte chirurgische Schritte Teil eines beanspruchten Verfahrens sind, oder ob sie lediglich vorbereitende Schritte sind, die nicht als Teil des jeweils beanspruchten Verfahrens angesehen werden können. Dabei sind die Kammern zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt.
In T 992/03 vom 4. November 2010 date: 2010-11-04 wurden Verfahren zur MRT-Abbildung von Lungen und/oder Herzgefäßen eines Patienten unter Verwendung von sich in gelöster Phase befindlichem polarisiertem 129Xe-Gas beansprucht. Die Kammer stellte fest, dass dem Fachmann zwar bekannt wäre, dass Magnetresonanztomographie ein ziemlich komplexes Verfahren ist, das unter anderem Vorbereitungsschritte wie die Positionierung des Betreffenden im MR-System, die Verabreichung von polarisiertem 129Xe-Gas und die Initialisierung des MR-Systems erfordert; diese Vorbereitungsschritte zählten jedoch nicht zum Beitrag der Erfindung zum Stand der Technik. Die Verfahrensansprüche umfassten somit keinen "invasiven Schritt [...], der einen erheblichen physischen Eingriff am Körper darstellt, dessen Durchführung medizinische Fachkenntnisse erfordert und der, selbst wenn er mit der erforderlichen professionellen Sorgfalt unerheblichen Gesundheitsrisiko verbunden ist" (G 1/07).
In T 836/08 war Anspruch 1 auf ein Verfahren zum Ermitteln der Position des distalen Endes eines Knochenführungsdrahtes mit einem medizinischen, optischen Tracking- und Navigationssystems gerichtet. Die Kammer führte aus, dass dies zwar erfordere, dass die Referenzvorrichtung am Knochen befestigt und der Draht in den Knochen eingeführt ist, jedoch seien diese Schritte nicht Teil des beanspruchten Verfahrens. Die Tatsache, dass das Verfahren durchgeführt wird, nachdem oder sogar während ein chirurgischer Eingriff am Körper erfolgt ist bzw. erfolgt, bedeute nicht, dass das beanspruchte Positionsermittlungsverfahren als solches ein chirurgisches Behandlungsverfahren sei.
Der Entscheidung T 923/08 lag ein ähnlicher Sachverhalt wie der in T 836/08 zugrunde. Die Kammer kam allerdings zu einem anderen Ergebnis: Setzt ein Verfahren, das zum Erfassen von Messwerten am menschlichen oder tierischen Körper vorgesehen ist, zwingend einen chirurgischen Schritt zur Befestigung eines für die Verfahrensdurchführung unverzichtbaren Messelements am menschlichen oder tierischen Körper voraus, so ist dieser Schritt als wesentliches Merkmal des Verfahrens anzusehen, das von einem solchen Verfahren umfasst wird, selbst wenn im Anspruch kein Verfahrensmerkmal ausdrücklich auf diesen Schritt gerichtet ist. Ein solches Verfahren ist gemäß Art. 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen. Auch konnte solch ein chirurgischer Schritt nicht durch eine Formulierung, wonach das Messelement bereits vor dem Beginn am Körper angebracht war oder durch einen Disclaimer ausgeklammert werden, da dies Art. 84 EPÜ 1973 (1973) verletze (s. auch T 2102/12).
In T 2438/11 war der Anspruchauf ein Instrumentenausrichtungsverfahren gerichtet und beinhaltete die Schritte, dass ein chirurgischer Bohrer oder Fräser zu einem Zielpunkt hin ausgerichtet wird. Diese Ausrichtung sollte innerhalb des Patientenkörpers in direktem physischen Kontakt mit dem Knochen stattfinden. Die Kammer urteilte, dass schon die reine Ausrichtung, d. h. aktive Bewegung, eines solchen Instruments innerhalb des Patientenkörpers einen erheblichen physischen Eingriff am Körper und somit einen Verfahrensschritt zur chirurgischen Behandlung des menschlichen Körpers darstellt. Ein Verfahrensanspruch, der auch nur ein Merkmal aufweist oder umfasst, das eine physische Tätigkeit oder Maßnahme definiert, die einen Verfahrensschritt zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers darstellt, fällt gemäß G 1/07 unter das Patentierungsverbot.