4.4.1 Begriff der "therapeutischen Behandlung"
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 81/84 (ABl. 1988, 207) stellte sich die Frage, ob die Behandlung von Menstruationsbeschwerden, die sich zum Beispiel in starken Kopfschmerzen oder anderen Schmerzsymptomen äußern, unter den Begriff der "therapeutischen Behandlung" fällt. Die Kammer vertrat die Ansicht, dass der Begriff "Therapie" nicht zu eng ausgelegt werden dürfe. Es sei nicht möglich und auch nicht zweckmäßig, zwischen einer ursächlichen und einer symptomatischen Therapie zu unterscheiden, d. h. zwischen Heilung und bloßer Linderung. Die Kammer bestätigte, dass die Linderung von Schmerzen und die Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch Verabreichung eines geeigneten Mittels – unabhängig von den Ursachen der Befindlichkeitsstörung – einer therapeutischen Behandlung oder therapeutischen Anwendung im Sinne des Art. 52 (4) EPÜ 1973 gleichkommt.
In T 24/91 (ABl. 1995, 512) stellte die Kammer fest, dass der Begriff "therapeutische Behandlung" von seiner Bedeutung her nicht auf die Heilung von Krankheiten und die Beseitigung ihrer Ursachen beschränkt ist. Er umfasst vielmehr jede Behandlung, die dazu dient, die Symptome einer Funktionsstörung oder Funktionsschwäche des menschlichen oder tierischen Körpers zu heilen, zu lindern, zu beseitigen oder abzuschwächen, oder die dazu geeignet ist, dem Risiko ihres Erwerbs vorzubeugen oder dieses zu verringern. Das beanspruchte Verfahren, so die Kammer, beseitigt durch eine Behandlung am Auge des Patienten die Symptome von Myopie, Hyperopie und Astigmatismus; folglich handelt es sich um eine therapeutische Behandlung.
Im Fall T 469/94 galt es die Frage zu klären, ob eine Erhöhung des Acetylcholinspiegels in Gehirn und Gewebe und damit eine Verminderung der Wahrnehmung der Ermüdung im Fall von Personen, die sich einer großen körperlichen Anstrengung unterziehen oder eine solche vollbracht haben, als therapeutische Behandlung des menschlichen Körpers anzusehen ist. Die Kammer verneinte dies und wies darauf hin, dass ein Ermüdungszustand nach körperlicher Anstrengung ein vorübergehender physiologischer Zustand sei, der natürliche Ursachen hat und durch bloßes Ausruhen wieder beseitigt werden kann. Die Wahrnehmung der Ermüdung könne bekanntlich durch einfaches Training hinausgezögert werden. Schmerzen und schweres Leiden hingegen seien wohl kaum als Ermüdungserscheinungen anzusehen und daher nicht vergleichbar mit dem für eine Krankheit oder Verletzung typischen pathologischen Zustand. Die Kammer hielt fest, dass eine Behandlung zur Verminderung der Wahrnehmung von Ermüdung auch nicht mit der Linderung von Schmerzen oder Beschwerden und der Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit verglichen werden könne (vgl. T 81/84, ABl. 1988, 207, s. oben).
In T 74/93 (ABl. 1995, 712) bezog sich die beanspruchte Erfindung auf alicyclische Verbindungen und ihre Verwendung zur Empfängnisverhütung. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass ein Verfahren zur Empfängnisverhütung nicht schon an sich aufgrund der Art. 57 EPÜ 1973 und Art. 52 (4) Satz 1 EPÜ 1973 (jetzt Art. 53 c) EPÜ), wegen mangelnder gewerblicher Anwendbarkeit von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sei. Schwangerschaft sei keine Krankheit und ihre Verhütung daher nicht generell eine Behandlung im Sinne von Art. 53 c) EPÜ (s. auch T 820/92, ABl. 1995, 113; T 1635/09 (ABl. 2011, 542). Dennoch war das Verfahren nicht patentierbar. Die Kammer entschied, dass ein Verfahren zur Empfängnisverhütung, das im privaten, persönlichen Bereich eines Menschen anzuwenden ist, nicht als gewerblich anwendbar gilt (s. Kapitel I.E.1.2.1).
In T 241/95 (ABl. 2001, 103) vertrat die Kammer die Ansicht, dass die selektive Besetzung eines Hormonrezeptors nicht als therapeutische Anwendung gelten könne; die Entdeckung, dass eine Substanz sich selektiv an den Serotoninrezeptor bindet, auch wenn dies einen wichtigen Schritt für das Wissen in der Medizin bedeute, erfordere immer noch eine praktische Anwendung als definierte, reale Behandlung einer pathologischen Erkrankung, um einen realen Beitrag zum Stand der Technik darzustellen und um als dem Patentschutz würdige Erfindung gelten zu können.
In T 1075/06 stellte die Kammer fest, dass ein Verfahrensanspruch, der den Schritt der Rückgabe des aufbereiteten Bluts an einen Spender nach Entfernung einiger seiner Bestandteile und Anreicherung mit einem Gerinnungshemmer beinhaltet, ein Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers sei, das nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sei.
In T 611/09 betraf das Streitpatent eine Lock-Lösung für eine Infusion in das Lumen eines intravaskulären Dauerkatheters, also eines Katheters, der normalerweise in eine Vene oder Arterie eingeführt wird und somit in engem Kontakt mit dem menschlichen oder tierischen Körper steht. Der Kammer zufolge bedeutete dies nicht zwangsläufig, dass auch die Lock-Lösung in direktem Kontakt mit dem menschlichen oder tierischen Körper stand oder gar in ihm aktiv war. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die antibakterielle Aktivität nur im Lumen stattfand, das ein Bestandteil des Katheters war und sich außerhalb des menschlichen oder tierischen Körpers befand, d. h. es lag keine therapeutische Behandlung vor.
In T 1819/13 wurde die Verwendung eines Antibiotikums zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung oder Prävention einer bakteriellen Infektion bei einem Tier durch subkutane Injektion des Medikaments an der Verbindungsstelle einer Ohrmuschel mit dem Schädel des Tieres beansprucht. Die Injektionsstelle wurde als fester technischer Bestandteil der Medikamentenverabreichung und damit der therapeutischen Anwendung betrachtet. Dieses Merkmal einer speziellen Injektionsstelle bewirkte jedoch keinen Verstoß des Anspruchs gegen Art. 53 c) EPÜ.