4. Technische Aufgabe
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Nach R. 42 (1) c) EPÜ (ehemals R. 27 (1) c) EPÜ 1973) ist in der Beschreibung einer Anmeldung "die Erfindung, wie sie in den Patentansprüchen gekennzeichnet ist, so darzustellen, dass danach die technische Aufgabe, auch wenn sie nicht ausdrücklich als solche genannt ist, und deren Lösung verstanden werden können; außerdem sind gegebenenfalls vorteilhafte Wirkungen der Erfindung unter Bezugnahme auf den bisherigen Stand der Technik anzugeben". R. 27 (1) c) EPÜ 1973 wurde bereits in T 26/81 (ABl. 1982, 211) als eindeutig verbindlich anerkannt. Aus der Rechtsprechung der Beschwerdekammern und bei korrekter Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes (s. T 1/80, ABl. 1981, 206; T 24/81, ABl. 1983, 133) geht hervor, dass bei der Ermittlung der technischen Aufgabe objektive Kriterien maßgebend sind, d. h., es ist die Aufgabe zu ermitteln, die vor dem Hintergrund des nächstliegenden Stands der Technik, der sich von dem Erfinder zugänglichen Stand der Technik unterscheiden kann, als tatsächlich gelöst gelten kann (T 576/95). Diese objektiven Kriterien können durch die Beurteilung eines vorhandenen technischen Fortschritts des Anmeldungsgegenstands gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik konkret definiert werden (T 20/81, ABl. 1982, 217; T 910/90). Beim Vergleich der Aufgabenstellung in der Anmeldung und in einer Entgegenhaltung sind zu weit gehende Abstraktionen zu vermeiden, die vom konkreten Denken des Fachmanns wegführen (T 5/81, ABl. 1982, 249).
Bei der Ermittlung der Aufgabe dürfen keine Kenntnisse berücksichtigt werden, die erst nach dem Prioritäts- bzw. Anmeldetag erlangt wurden. Nach T 268/89 (ABl. 1994, 50) kann eine erst nach dem Prioritäts- bzw. Anmeldetag erkannte oder behauptete Unwirksamkeit einer zum Stand der Technik gehörenden Vorrichtung oder eines solchen Verfahrens nicht zur Formulierung der Aufgabe herangezogen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Aufgabe im Sinne einer Aufgabenerfindung (s. T 2/83, ABl. 1984, 265) als Argument zur Stützung der erfinderischen Tätigkeit geltend gemacht wird. Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist das Wissen des Fachmanns vor dem Prioritäts- bzw. Anmeldetag maßgebend (s. auch T 365/89).
Für die Zwecke des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes muss es sich bei der Aufgabe um eine technische Aufgabe handeln, die einem Fachmann des betreffenden technischen Gebiets am relevanten Prioritätstag zur Lösung angetragen werden könnte. Die technische Aufgabe kann unter Verweis auf eine Zielsetzung auf einem nichttechnischen Gebiet formuliert werden, die folglich nicht Teil des technischen Beitrags ist, den die Erfindung zum Stand der Technik leistet (T 641/00, ABl. 2003, 352; T 154/04, ABl. 2008, 46), s. auch dieses Kapitel I.D.9.1. "Behandlung technischer und nichttechnischer Merkmale".
In T 1639/07 urteilte die Kammer, dass die objektive technische Aufgabe sich aus physikalischen, chemischen oder sonstigen Wirkungen ergeben muss, die unmittelbar und kausal mit den technischen Merkmalen der beanspruchten Erfindung zusammenhängen. Eine Wirkung kann nicht wirksam für die Formulierung der technischen Aufgabe verwendet werden, wenn hinsichtlich dieser Wirkung zusätzliche Informationen benötigt werden, die dem Fachmann selbst bei Berücksichtigung des Inhalts der betreffenden Anmeldung nicht zur Verfügung stehen. S. auch T 584/10.
In T 377/14 befand die Kammer unter Bezugnahme auf T 344/89, dass die Aufgabe in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung nicht ausdrücklich offenbart sein muss; es reicht aus, dass sie angedeutet wurde.
In T 1841/11 befand die Kammer, dass eine Aufgabe, die in der Anmeldung in Bezug auf das beanspruchte Merkmal nicht genannt ist und die sich weder für den gesamten beanspruchten Bereich noch für die in der Anmeldung im Einzelnen dargelegten Ausführungsformen stellen würde, nicht als geeignete Wahl betrachtet werden kann.
In T 632/10 stellte die Kammer fest, dass eine objektive, mit der Erfindung gelöste technische Aufgabe die Implementierung eines digitalen Unterschriftensystems sei, das sich, den Anforderungen des § 17 SigV (Signaturverordnung) genügender Authentizitätsnachweis eigne. Der Beschwerdeführer (Anmelder) argumentierte, die deutsche Signaturverordnung sei für eine europäische Patentanmeldung, in der andere Staaten als Deutschland benannt werden könnten, nicht unbedingt relevant. Die Kammer war von diesem Argument nicht überzeugt. Selbst wenn eine Erfindung nur für Fachleute mit deutscher Staatsange-hörigkeit oder deutschem Wohnsitz naheliegend ist, gilt sie bereits damit als nicht erfinderisch im Sinne von Art. 56 EPÜ 1973. Dass die deutsche Signaturverordnung nur in Deutschland gilt, ändert nichts an ihrem Status als Stand der Technik und an ihrer Relevanz für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit außerhalb Deutschlands.
In T 1422/12 war Anspruch 1 auf kristalline Formen von Tigecyclin gerichtet. Die Beschwerdekammer verwies auf die ständige Rechtsprechung, der zufolge die technische Aufgabe anhand objektiv festgestellter Sachverhalte zu bestimmen ist, weil für die Bestimmung der objektiven technischen Aufgabe ausschließlich die gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik tatsächlich erzielte Wirkung berücksichtigt werden sollte (T 13/84, ABl. 1986, 253 und T 39/93, ABl. 1997, 134). Dabei dürfen sämtliche Wirkungen berücksichtigt werden, solange sie denselben Anwendungsbereich betreffen und das Wesen der Erfindung nicht verändern (T 440/91). Die vom Anmelder gewählte Formulierung der zu lösenden technischen Aufgabe lag somit im Rahmen der in der streitigen Anmeldung offenbarten Erfindung. Dass die konkretere Aufgabe einer Verbesserung der Stabilität gegen Epimerisierung in der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht genannt war, war irrelevant (T 39/93), weil eine solche Verbesserung der Stabilität durch Verhinderung der Epimerisierung und damit eine verbesserte biologische Aktivität für einen Fachmann eindeutig als wünschenswerte Wirkung bei einem tetrazyklischen Antibiotikum erkennbar war.
In T 519/07 erklärte die Kammer, wenn Vergleichsversuche durchgeführt werden, um die erfinderische Tätigkeit mit einer im beanspruchten Bereich auftretenden Wirkung zu begründen, muss der Vergleich mit dem nächstliegenden Stand der Technik so angelegt sein, dass er überzeugend belegt, dass diese Wirkung auf das Unterscheidungsmerkmal der Erfindung zurückzuführen ist. Der Zweck eines Vergleichs mit dem Stand der Technik besteht darin, zu belegen, dass die technische Wirkung ausschließlich auf das Merkmal zurückzuführen ist, das den Ansprüchen zufolge die Erfindung charakterisiert (s. auch T 1682/15). Im vorliegenden Fall war dies nicht gegeben. Die Vergleichsversuche ließen nicht den Schluss zu, dass die beanspruchten Verfahren die technische Aufgabe, so wie sie vom Beschwerdegegner (Patentinhaber) definiert war, tatsächlich lösen könnten. Also musste die zu lösende technische Aufgabe neu formuliert werden (s. auch T 479/06, wo es um eine kosmetische bzw. dermatologische Formulierung ging; die Kammer entschied, dass die Vergleichsversuche zwischen den erfindungsgemäßen Emulsionen und einer der in D1 offenbarten Emulsionen nicht anhand desselben Versuchsprotokolls durchgeführt worden waren).
In T 2579/11 ging es auch um die Glaubwürdigkeit der vom Patentinhaber durchgeführten Vergleichsversuche (Dokument A13), die belegen sollten, dass die beanspruchte Erfindung die Aufgabe tatsächlich löste. Der Patentinhaber erklärte unter anderem, dass er aus kommerziellen Gründen keine Einzelheiten des Protokolls preisgegeben habe, das den in A13 beschriebenen Versuchen zugrunde lag. Schließlich entschied die Kammer, dass die in A13 beschriebenen Versuchsergebnisse weder glaubwürdig noch nachprüfbar waren und somit nicht als Beleg dafür ausreichten, dass die technische Aufgabe der Verbesserung der biologischen Abbaubarkeit erfolgreich gelöst wurde.
In T 943/13 gelangte die Kammer zu dem Ergebnis, dass der Kausalzusammenhang zwischen dem Stoff oder Stoffgemisch auf der einen Seite und der erzielten therapeutischen Wirkung auf der anderen entscheidend bei der Beurteilung ist, ob ein Anspruch auf eine weitere medizinische Indikation erfinderisch ist. Sie war der Auffassung, dass die objektive technische Aufgabe in der Bereitstellung der beanspruchten therapeutischen Wirkung durch andere/alternative Mittel zu sehen ist. Die Kammer räumte ein, dass die objektive technische Aufgabe tatsächlich in der Bereitstellung eines alternativen Stoffgemischs bestehen könnte, wenn es sich bei Anspruch 1 um einen "normalen" auf einen Stoff oder ein Stoffgemisch gerichteten Erzeugnisanspruch handeln würde.
In T 87/08 stellte die Kammer fest, dass die erfinderische Tätigkeit nach Art. 56 EPÜ anhand des Stands der Technik zu beurteilen ist ("ob sich die Erfindung … aus dem Stand der Technik ergibt"). Dementsprechend ist eine Entscheidung nicht hinreichend begründet im Sinne der R. 68 (2) EPÜ 1973 (R. 111 (2) EPÜ 2000), wenn im Rahmen der Argumentation, die zur Feststellung mangelnder erfinderischer Tätigkeit führt, einfach nur gesagt wird, eine behauptete Wirkung sei nicht erzielt worden, d. h., die betreffende technische Aufgabe sei nicht gelöst worden, ohne dass die Aufgabe weniger anspruchsvoll formuliert und sodann geprüft wird, ob die beanspruchte Lösung für diese neu formulierten Aufgabe angesichts des angeführten Stands der Technik naheliegend ist (T 1079/08, T 306/09, T 2375/10).
- T 161/18
1. Die vorliegende, auf maschinellem Lernen insbesondere im Zusammenhang mit einem künstlichen neuronalen Netz beruhende Erfindung ist nicht ausreichend offenbart, da das erfindungsgemäße Training des künstlichen neuronalen Netzes mangels Offenbarung nicht ausführbar ist.
2. Da sich im vorliegenden Fall das beanspruchte Verfahren vom Stand der Technik nur durch ein künstliches neuronales Netz unterscheidet, dessen Training nicht im Detail offenbart ist, führt die Verwendung des künstlichen neuronalen Netzes nicht zu einem speziellen technischen Effekt, der erfinderische Tätigkeit begründen könnte.
- T 1450/16
In the application of the problem-solution approach for the assessment of inventive step, the person skilled in the art within the meaning of Article 56 EPC enters the stage only when the objective technical problem has been formulated in view of the selected "closest prior art". Only then can the notional skilled person's relevant technical field and its extent be appropriately defined. Therefore, it cannot be the "skilled person " who selects the closest prior art in the first step of the problem-solution approach. Rather, this selection is to be made by the relevant deciding body, on the basis of the established criteria, in order to avoid any hindsight analysis (see point 2.1.4 of the Reasons).