1. Artikel 123 (2) EPÜ – Erweiterung des Gegenstands
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Gemäß Art. 123 (2) EPÜ dürfen die europäische Patentanmeldung und das europäische Patent nicht in der Weise geändert werden, dass ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Im Zuge der Revision des EPÜ wurde der Wortlaut des Art. 123 (2) EPÜ lediglich redaktionell an Art. 123 (1) EPÜ angepasst.
Das Konzept des "Inhalts der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung" bezieht sich auf die Teile der Patentanmeldung, die für die Offenbarung der Erfindung maßgebend sind, nämlich die Beschreibung, die Ansprüche und die Zeichnungen (G 3/89, ABl. 1993, 117, und G 11/91, ABl. 1993, 125). S. unten in diesem Kapitel II.E.1.2. "Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung: Teile der Anmeldung, die für die Offenbarung der Erfindung maßgebend sind".
Art. 123 (2) EPÜ liegt der Gedanke zugrunde, dass es einem Anmelder nicht gestattet ist, seine Position durch Hinzufügung von in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Gegenständen zu verbessern, weil ihm dies zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhülfe und der Rechtssicherheit für Dritte, die sich auf den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung verlassen, abträglich sein könnte (s. G 1/93, ABl. 1994, 541). Die Öffentlichkeit darf nicht mit einem Schutzbereich konfrontiert sein, den sich ein Fachmann nach Durchsicht der gesamten technischen Offenbarung der ursprünglich eingereichten Patentanmeldung nicht hätte erschließen können (T 157/90, s. auch T 187/91).
Als "Goldstandard" (G 2/10, ABl. 2012, 376) für die Beurteilung, ob eine Änderung mit Art. 123 (2) EPÜ in Einklang steht, gilt: Jede Änderung an den die Offenbarung betreffenden Teilen einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents (der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen) unterliegt dem in Art. 123 (2) EPÜ statuierten zwingenden Erweiterungsverbot und darf daher unabhängig vom Kontext der vorgenommenen Änderung nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (G 3/89, ABl. 1993,117; G 11/91, ABl. 1993, 125). Die Änderung darf nicht dazu führen, dass der Fachmann neue technische Informationen erhält (G 2/10; s. aber G 1/16 zu nicht offenbarten Disclaimern). S. dazu ausführlich unten in diesem Kapitel II.E.1.3. "Maßstab für die Beurteilung der Einhaltung von Artikel 123 (2) EPÜ"; zu Einzelheiten zu G 1/16, ABl. 2018, A70, s. unten Abschnitt II.E.1.7. "Disclaimer".
Art. 123 (2) EPÜ findet Anwendung auf alle Änderungen der Patentanmeldung oder des Patents. Dazu gehören auch Berichtigungen der Beschreibung, der Ansprüche oder der Zeichnungen gemäß R. 139 Satz 2 EPÜ (s. dazu ausführlich in diesem Kapitel II.E.4. "Berichtigung von Fehlern in der Beschreibung, den Ansprüchen oder den Zeichnungen").
Die Große Beschwerdekammer betonte die Wichtigkeit eines einheitlichen Offenbarungskonzepts (unter Verweis auf Art. 54, 87 und 123 EPÜ; s. G 2/10, ABl. 2012, 376, Nr. 4.6 der Gründe mit Hinweis auf G 1/03, ABl. 2012, 436; s. auch G 1/15, ABl. 2017, A82, unter Verweis auf G 2/98, ABl. 2001, 413). S. auch z. B. T 330/14.
Bei Teilanmeldungen sind in Bezug auf die Frage, ob der Gegenstand über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, dieselben Grundsätze anzuwenden (G 1/05 date: 2007-06-28, ABl. 2008, 271, Nr. 5.1 der Gründe). Entscheidungen zu solchen Fällen werden daher ebenfalls in diesem Kapitel behandelt.
Dieselben Grundsätze gelten auch für den Einspruchsgrund nach Art. 100 c) EPÜ.
Der Einspruchsgrund nach Art. 100 c) EPÜ und das entsprechende Erfordernis von Art. 123 (2) EPÜ im Hinblick auf Änderungen, die im Einspruchs- und im Einspruchsbeschwerdeverfahren am Patent vorgenommen werden, sind für die Entscheidung, ob ein Patent aufrechterhalten werden kann, von derselben grundlegenden Bedeutung wie andere Erfordernisse, z. B. Neuheit, erfinderische Tätigkeit und ausreichende Offenbarung. Im Übrigen ist eine Erweiterung im Sinne des Art. 123 (2) EPÜ nicht eine Frage der "Form" des Patents, die unter die Rubrik "Formerfordernisse" fallen würde, sondern eine Sachfrage (T 2171/14).
- T 2327/18
Die Streichung eines in einer Anmeldung wie ursprünglich eingereicht ausdrücklich als "Nicht-Teil" der Erfindung offenbarten Disclaimers ist nicht zulässig, wenn die Streichung dazu führt, dass der "Nicht-Teil" teilweise doch beansprucht wird. Die Tatsache, dass es sich bei der Anmeldung um eine Teilanmeldung handelt und dass der Disclaimer patentrechtliche Gründe hatte, ist dabei unerheblich.