1.7.3 Entscheidungen zur Anwendung der in G 1/03 und G 1/16 von der Großen Beschwerdekammer aufgestellten Kriterien
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Zur Formulierung von Disclaimern führte die Große Beschwerdekammer in G 1/03 und G 2/03 (ABl. 2004, 413 und 448) aus und bestätigte in G 1/16 (ABl. 2018, A70), dass der Disclaimer nicht mehr ausklammern sollte als nötig ist, um die Neuheit wiederherzustellen oder den aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgenommenen Gegenstand auszuschließen. Die Tatsache, dass ein Disclaimer erforderlich ist, heißt nicht, dass der Anmelder seine Ansprüche willkürlich ändern darf. In G 2/10 (ABl. 2012, 396) stellte die Kammer fest, dass das Erfordernis, dass der Disclaimer nicht mehr ausklammern sollte, als notwendig ist, um die Neuheit wiederherzustellen, nicht auf das Ausklammern offenbarter Gegenstände anwendbar ist, da in diesem Fall der Wortlaut des Disclaimers mit der Offenbarung des ausgeklammerten Gegenstands in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung übereinstimmen muss.
Bezüglich des Verhältnisses zwischen der Voraussetzung, dass "ein Disclaimer nicht mehr ausschließen sollte, als nötig" und der Voraussetzung der Deutlichkeit und Knappheit, s. T 2130/11 (unten zusammengefasst im Kapitel II.E.1.7.3 e) "Formulierung von Disclaimern – Klarheit").
Da durch den Disclaimer ohne Not Gegenstände ausgeschlossen wurden, ohne dass eine neuheitsschädliche Offenbarung in Dokument 5 vorlag, schloss der Disclaimer nach Ansicht der Kammer in T 747/00 unzulässigerweise mehr aus, als nötig war, um die Neuheit wiederherzustellen (s. auch T 201/99). In T 1050/99 kam die Kammer zu dem Schluss, dass der Disclaimer mehr abdeckte, als im Stand der Technik offenbart war, und damit mehr aus dem Anspruch ausschloss, als zur Wiederherstellung der Neuheit notwendig war. S. auch T 285/00 über einen Disclaimer, für den sich zum großen Teil keine Grundlage in der Offenbarung eines nach Art. 54 (3) EPÜ 1973 zitierten Dokuments des Stands der Technik fand und mit dem ein größerer Abstand des verbleibenden beanspruchten Gegenstands zu dem nach Art. 54 (2) EPÜ 1973 zitierten relevanten Dokument des Stands der Technik gewonnen wurde.
In T 8/07 merkte die Kammer an, dass ein Disclaimer der Entscheidung G 1/03 zufolge nur zu dem jeweils beabsichtigten Zweck und zu nichts anderem eingesetzt werden darf. Hat ein Disclaimer Wirkungen, die über den hier genannten Zweck hinausgehen, so ist oder wird er unzulässig. Die Tatsache, dass ein Disclaimer erforderlich ist, heißt außerdem nicht, dass der Anmelder seine Ansprüche willkürlich ändern darf (G 1/03, Nr. 3 der Gründe). Der Disclaimer sollte daher nicht mehr ausklammern, als notwendig ist, um die Neuheit wiederherzustellen oder den aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgenommenen Gegenstand auszuschließen. Die Kammer stellte fest, dass aus der Begründung von G 1/03 nicht geschlossen werden könne, dass dem Patentinhaber bezüglich der "Grenzen" für die Abfassung des Disclaimers im Hinblick auf den auszuklammernden Gegenstand ein gewisses Ermessen oder ein gewisser Spielraum zugestanden werde. Ganz im Gegenteil würde jedes Ermessen bezüglich des Umfangs des Disclaimers gegenüber dem auszuklammernden Gegenstand unweigerlich dazu führen, dass die Formulierung des Disclaimers bis zu einem gewissen Grad willkürlich würde. Dies würde den in G 1/03 ausdrücklich getroffenen Feststellungen widersprechen. Um die sich aus G 1/03 ergebenden Vorgaben zur Formulierung von Disclaimern zu erfüllen, müssten diese daher so abgefasst werden, dass nur der Gegenstand ausgeklammert werde, der nicht beansprucht werden könne. Ferner sei das Argument des Patentinhabers, dass ihm kein Vorteil entstehe, nicht unbedingt richtig, denn ein breiter Disclaimer führe nicht nur zur Wiederherstellung der Neuheit, sondern mache den beanspruchten Gegenstand außerdem gegen einen potenziellen Angriff wegen mangelnder Neuheit "immun".
In T 10/01 war der Disclaimer weiter gefasst, als zur Wiederherstellung der Neuheit nötig war. Die Kammer führte jedoch unter Hinweis auf Nr. 3 der Gründe in G 1/03 aus, dass diese Entscheidung auch besage, dass ein Disclaimer, der weiter gefasst sei, als zur Wiederherstellung der Neuheit absolut notwendig sei, je nach den Umständen des Einzelfalls zugelassen werden könne, wenn sich dies als notwendig erweise, um eine sich ansonsten ergebende Unklarheit des Anspruchs zu beheben. Im vorliegenden Fall gab es jedoch keinen offensichtlichen Grund dafür, dass der Disclaimer breiter war als die Offenbarung in Dokument (1).
In der Entscheidung T 477/09 war Anspruch 1 durch Aufnahme eines Disclaimers geändert worden, um die Neuheit gegenüber Dokument 1 wiederherzustellen. Dass es für den Disclaimer keine Grundlage in der eingereichten Anmeldung gab, war unbestritten. Die Kammer erinnerte daran, dass in der Entscheidung G 1/03 zwei Bedingungen für die Abfassung von Disclaimern aufgestellt würden. Diese beiden in G 1/03 in den Gründen 2.2 (ein Disclaimer sollte nicht mehr ausschließen, als nötig ist) und 2.4 (Klarheit und Knappheit) genannten Bedingungen seien gleichwertig. Es könne somit nicht davon ausgegangen werden, dass der Patentinhaber bei der Abfassung des Disclaimers und damit bei der Festlegung des Umfangs des Disclaimers über einen Spielraum verfüge. Um den in der Entscheidung G 1/03 festgesetzten Bedingungen zu genügen, dürfe ein Disclaimer nicht mehr ausklammern, als zur Wiederherstellung der Neuheit notwendig sei. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass der Umfang des Disclaimers viel weiter war als die Offenbarung des in der Tat neuheitsschädlichen Dokuments D1.
In T 1843/09 (ABl. 2013, 502) behauptete der Einsprechende, der Disclaimer verstoße gegen Art. 123 (2) EPÜ, weil sein Wortlaut, wonach der beanspruchte Film "anders ist als der Film im Vergleichsbeispiel 4 von EP-A 0546184" kein technisches Merkmal darstelle. Die Kammer folgte diesem Argument nicht. Zwar sei es richtig, dass dem Wortlaut des Disclaimers als solchem technische Informationen nicht direkt entnommen werden könnten, doch werde im Disclaimer nicht einfach nur ein veröffentlichtes Patentdokument genannt, sondern eindeutig auf eine bestimmte Offenbarung in D15 Bezug genommen, nämlich auf den im Vergleichsbeispiel 4 beschriebenen konkreten Film. Die Tabelle 4 in D15 kennzeichne diesen Film eindeutig durch eine Reihe technischer Merkmale. Der Fachmann sei somit in der Lage, einfach durch Lesen des Vergleichsbeispiels in D15 zu bestimmen, welche technische Ausführungsform aus dem Schutzbereich des Anspruchs ausgenommen werden sollte.
In T 1836/10 stützte die Prüfungsabteilung sich bei der Zurückweisung der Anmeldung auf Art. 53 a) EPÜ in Verbindung mit R. 28 c) EPÜ. Der Anmelder versuchte, den fraglichen Gegenstand mit einem Disclaimer auszuklammern. Die Kammer war der Auffassung, dass ein Anmelder seine Ansprüche nicht willkürlich ändern dürfe, und dass ein eventuell erforderlicher Disclaimer nicht mehr ausschließen sollte, als nötig sei, um den Gegenstand auszuklammern, der aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen sei. Dies gelte entsprechend für einen Disclaimer, der einen Gegenstand auszuklammern versucht, der überhaupt nicht vom Anspruch umfasst wird.
In T 1224/14 befand die Kammer, dass der Disclaimer nicht mehr notwendig war, um die Neuheit gegenüber dem Beispiel 5A aus D1 wiederherzustellen. Dieses war für die Frage der Neuheit nicht mehr relevant, weil der Gegenstand des anhängigen Anspruchs 1 beschränkt worden war. Der Disclaimer klammerte mehr aus, als zur Wiederherstellung der Neuheit notwendig war und stand somit im Widerspruch zur Entscheidung G 1/03.
In T 1354/15 hatte der Beschwerdeführer argumentiert, dass der betreffende Disclaimer nicht nur die in D7 offenbarte konkrete L-dsRNA-Sequenz spezifizierte, sondern auch die C18-Linkergruppe zwischen den beiden Strängen, und somit mehr ausklammerte, als notwendig war, um die Neuheit wiederherzustellen. Nach Auffassung der Kammer war jedoch die in D7 beschriebene RNA auch durch den C18-Linker gekennzeichnet. Die Tatsache, dass die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung solche Linker nicht berücksichtigte, hatte nicht zur Folge, dass der Fachmann neue technische Informationen erhielt. Der Ausschluss der konkreten RNA mit C18-Linker leistete keinen technischen Beitrag zu dem in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbarten Gegenstand.