2.3. Überraschende Gründe
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Unter "Gründe" sind nach Art. 113 (1) EPÜ diejenigen wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe zu verstehen, auf die sich die Entscheidung stützt (T 532/91, T 105/93, T 187/95, T 1154/04, T 305/14). In T 951/92 (ABl. 1996, 53) hat die Kammer entschieden, dass mit „Gründe" nicht der Begriff im engeren Sinne zu verstehen ist. Die Kammer war der Ansicht, dass der Begriff "Gründe" nicht einfach im engen Sinne einer zu erfüllenden Voraussetzung nach dem EPÜ zu verstehen ist, sondern dass er Bezug nimmt auf die sich auf die Tatsachen und die rechtlichen Gründe stützenden Überlegungen, die zur Ablehnung des Antrags geführt haben (s. auch T 1423/15).
In T 556/15 wurde die angefochtene Entscheidung der Prüfungsabteilung ausschließlich mit einem Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ begründet. Der von der Beschwerdekammer durchgeführte Vergleich zwischen den nach Art. 123 (2) EPÜ in den beiden Mitteilungen der Prüfungsabteilung erhobenen Einwänden und der Entscheidungsbegründung ergab, dass die in der angefochtenen Entscheidung geltend gemachten Einwände eine Überraschung für den Beschwerdeführer darstellten, der keine Möglichkeit hatte, zu den Entscheidungsgründen Stellung zu nehmen, weil er von den neuen Einwänden nach Art. 123 (2) EPÜ erst mit Erhalt der Entscheidung erfuhr. Der Kammer zufolge sollte der Begriff "Gründe" in Art. 113 (1) EPÜ nicht eng ausgelegt werden, sondern im Sinne von T 951/92. Der vorliegende Fall unterschied sich jedoch von der Sache T 951/92 insofern, als die Mitteilungen der Prüfungsabteilung an den Beschwerdeführer hier zwar detaillierte Einwände enthielten, diese Einwände aber keines der Elemente betrafen, auf die sich die Entscheidung abschließend stützte. Der Beschwerdeführer erfuhr somit erst mit Erhalt der Entscheidung von den Merkmalen der strittigen Ansprüche, die gegen Art. 123 (2) EPÜ verstießen. Dass der Beschwerdeführer vor der Entscheidung mehrmals die Gelegenheit hatte, seine Ansprüche zu ändern, war im vorliegenden Fall nicht entscheidend; vielmehr war entscheidend, dass er zu den Gründen, auf die sich die Entscheidung stützte, nicht Stellung nehmen konnte.
In T 375/00 war der Beschwerdeführer (Einsprechende) der Auffassung, die von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung genannte technische Aufgabe weiche von der in der vorangegangenen Verhandlung erörterten ab. Die Kammer stellte fest, dass der Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nicht verletzt worden sei, da die Definition der objektiven Aufgabe zu den Argumenten und nicht zu den Gründen im Sinne von Art. 113 (1) EPÜ 1973 gehöre.
In T 33/93 stellte die Kammer fest, dass die erstmalige Bezugnahme auf eine Kammerentscheidung in der angefochtenen Entscheidung kein neuer Grund und kein neues Beweismittel im Sinne von Art. 113 (1) EPÜ 1973, sondern lediglich eine Wiederholung von Argumenten sei, da damit nur die dem Beschwerdeführer ordnungsgemäß zur Kenntnis gebrachte Auffassung bestätigt werde.
In T 1634/10 hatte die Prüfungsabteilung eine mit Gründen versehene Mitteilung erlassen, in der sie ihre Einwände angesichts von zwei Dokumenten aus dem Stand der Technik darlegte. Die Kammer urteilte, dass die bloße Tatsache, dass die Prüfungsabteilung dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht gefolgt war, keine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstelle.
In T 2238/11 argumentierte der Beschwerdeführer, die Prüfungsabteilung habe in der angefochtenen Entscheidung unter "Sonstige Bemerkungen" den beanspruchten Gegenstand überraschenderweise für nicht neu befunden. Er brachte vor, dass er in dieser Frage nicht gehört worden sei. Die Anfechtung der Entscheidung war aber auf mangelnde erfinderische Tätigkeit gestützt, nicht auf mangelnde Neuheit. Die Kammer befand, dass der Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör nicht verletzt ist, wenn der Beteiligte keine Gelegenheit hatte, sich zu Bemerkungen in einem obiter dictum zu äußern (T 726/10 und T 725/05). Die Rubrik "Sonstige Bemerkungen" in der angefochtenen Entscheidung bildete keinen Teil der eigentlichen Entscheidung.