2.2.8 Angabe von Tatsachen und Beweismitteln – Substantiierung der Einspruchsgründe
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Die dritte Voraussetzung nach R. 76 (2) c) EPÜ für die Zulässigkeit eines Einspruchs betrifft die Substantiierung des angeführten Grunds, d. h. die zu seiner Stützung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel. Der Einspruch ist insgesamt zulässig, sobald dieses letzte Erfordernis für mindestens einen Einspruchsgrund erfüllt ist. Für die teilweise Zulässigkeit eines Einspruchs findet sich im EPÜ keine Grundlage. Das Konzept der "Unzulässigkeit" kann nur auf die Einspruchsschrift als Ganzes angewendet werden (so T 653/99; s. auch T 212/97 und T 65/00).
Beantragt ein Einsprechender den vollständigen Widerruf eines Patents, so genügt es gemäß T 114/95, wenn der oder die Einspruchsgründe hinsichtlich mindestens eines Patentanspruchs substantiiert sind, damit die Erfordernisse der R. 76 (2) c) EPÜ (R. 55 c) EPÜ 1973) erfüllt sind (T 926/93, ABl. 1997, 447; T 1180/97, T 1900/07; s. auch dieses Kapitel IV.C.3.2.).
Darüber, ob das Erfordernis der R. 76 (2) c) EPÜ erfüllt ist, ist im Zeitpunkt des Ablaufs der neunmonatigen Einspruchsfrist zu befinden (R. 77 (1) EPÜ). Eine Einspruchsschrift, die das oben genannte Erfordernis zum maßgeblichen Zeitpunkt objektiv erfüllt hat, kann allerdings nicht dadurch unzulässig werden, dass sich ein Einsprechender zur Untermauerung seiner Argumentation später auf Unterlagen zum Stand der Technik beruft, die in der Einspruchsschrift nicht erwähnt waren (T 1019/92; vgl. auch T 104/06).
In T 222/85 (ABl. 1988, 128) vertrat die Kammer die Auffassung, dass das dritte Erfordernis nur dann erfüllt ist, wenn die Einspruchsschrift vom Inhalt her geeignet ist, das Vorbringen des Einsprechenden aus der Sicht des Durchschnittsfachmanns auf dem Gebiet, auf das sich das angefochtene Patent bezieht, objektiv verständlich zu machen. Nach Ansicht der Kammer soll mit dem dritten Erfordernis der R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) (in Verbindung mit den ersten zwei Erfordernissen) sichergestellt werden, dass der Standpunkt des Einsprechenden in der Einspruchsschrift so deutlich dargelegt wird, dass sowohl der Patentinhaber als auch die Einspruchsabteilung wissen, worum es bei dem Einspruch geht. Während die von R. 55 a) und b) EPÜ 1973 (R. 76 (2) a) und b) EPÜ) vorgesehenen Erfordernisse und die Erfordernisse 2 und 3 der R. 55 c) EPÜ 1973 eher formeller Natur sind, ist das Erfordernis 3 der R. 55 c) EPÜ 1973 i. V. m. Art. 99 (1) EPÜ sachlicher Natur und verlangt eine Begründung, die auf den Kern des Einspruchs eingeht. Eine gut formulierte Einspruchsschrift sollte eine kurze, aber vollständige Begründung enthalten. Im Allgemeinen wird eine Einspruchsschrift um so eher als unzulässig verworfen, je weniger Gründe sie enthält (ähnlich T 925/91, ABl. 1995, 469; vgl. auch T 2/89, ABl. 1991, 51; T 448/89, ABl. 1992, 361; T 545/91, T 204/91). Nach Auffassung der Kammer lässt sich die Frage, ob eine Einspruchsschrift die sachlichen Mindestanforderungen des Art. 99 (1) EPÜ 1973 und der R. 55 c) EPÜ 1973 erfüllt, nur aus dem Gesamtzusammenhang des betreffenden Falles heraus entscheiden (da einige relevante Faktoren, wie z. B. der Schwierigkeitsgrad der zu entscheidenden Fragen, von Fall zu Fall verschieden sind) – s. auch z. B. T 534/98, T 1097/98, T 934/99, T 426/08. In T 623/18 (s. auch die Zusammenfassung in diesem Kapitel IV.C.2.2.8 b)) grenzte die Kammer die in T 222/85 aufgestellten Grundsätze näher ein und betonte unter anderem, dass die Zulässigkeit des Einspruchs nicht von Sachfragen abhängig gemacht werden kann, also beispielsweise der Frage, ob der Einspruch lediglich mangelnde Klarheit betrifft.
In T 204/91 wurde insbesondere ausgeführt, dass mit dem Wort "Angabe" in R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) mehr gemeint sei als ein bloßer Hinweis auf eine Reihe möglicher Angriffe gegen das Patent samt der voraussichtlichen Begründung zu jedem dieser möglichen Angriffe, wobei die Angabe bzw. der Hinweis später – vielleicht sogar in der Beschwerdephase – womöglich noch durch weitere nachgereichte Beweismittel, Argumente oder andere Unterlagen bis hin zu neuen Einwänden ausgebaut werden könne. Vielmehr müsse die "Angabe" so fundiert sein, dass der Patentinhaber und die Einspruchsabteilung klar erkennen könnten, in welcher Weise und mit welchen Beweismitteln das Patent genau angegriffen werde. Der Patentinhaber und die Einspruchsabteilung müssten also mit anderen Worten die Art der Beanstandung und die dazugehörige Beweisführung und Argumentation eindeutig nachvollziehen können. Hierzu müsse soweit auf die relevanten Umstände des Falls eingegangen werden, dass sich der Patentinhaber und die Einspruchsabteilung ohne weitere Ermittlungen eine abschließende Meinung zu mindestens einem vorgebrachten Einspruchsgrund bilden könnten (vgl. T 453/87, T 279/88; s. ferner z. B. T 1069/96 und T 426/08).
Dass für einen Patentinhaber ohne unzumutbaren Aufwand nachvollziehbar sein muss, was in der Einspruchsschrift gegen sein Patent vorgebracht wird, schließt allerdings nicht aus, dass dem Patentinhaber ein gewisser Interpretationsaufwand abverlangt werden kann (T 199/92; s. auch T 1553/07, T 265/16; s. aber auch T 1082/00, die unter Verweis auf T 204/91 die Grenzen dieses Grundsatzes aufzeigt).
In T 934/99 befand die Kammer, R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) impliziere nicht das Erfordernis einer logischen Argumentation in dem Sinn, dass die in der Einspruchsschrift vorgebrachten Argumente stichhaltig oder überzeugend sein müssten. Das Kriterium sei vielmehr, dass die Argumente relevant und, erforderlichenfalls als Ergebnis eines angemessenen Interpretationsaufwands, so spezifisch sind, dass ein Fachmann sich eine fundierte Meinung darüber bilden kann, ob die Argumentation, auf die sich der Einsprechende offensichtlich stützt, (logisch) korrekt ("überzeugend") ist oder nicht (also falsch).
Die Frage, ob die Einspruchsschrift dieses Kriterium erfüllt, sollte von der Frage der Stichhaltigkeit des Vorbringens des Einsprechenden zu unterscheiden sein. So kann ein nicht überzeugender Einspruchsgrund klar und eingehend dargelegt worden sein; andererseits kann ein mangelhaftes Vorbringen als unzulässig verworfen werden, das bei richtiger Formulierung zum Erfolg geführt hätte (T 222/85, ABl. 1988, 128; T 621/91, T 3/95, T 1069/96, T 1856/11). Die Beweiswürdigung ist Teil der Prüfung der sachlichen Begründetheit des Einspruchs (T 234/86, ABl. 1989, 79). In T 353/06 z. B. betrafen die von den Beschwerdeführern für die Unzulässigkeit des Einspruchs vorgebrachten Argumente nach Auffassung der Kammer den Beweiswert der Tatsachen und Beweismittel und nicht die fehlende Angabe von Tatsachen und Beweismitteln zur Stützung der Einspruchsgründe.
Im selben Sinne hielt die Kammer in T 65/00 fest, dass es für die Zulässigkeit unerheblich ist, ob das Vorbringen ausreichend relevant oder richtig ist, um einen Widerruf des Patents zu begründen. Im vorliegenden Fall war es daher unwichtig, ob die vom Einsprechenden vorgebrachten Argumente auf Art. 84 oder 83 EPÜ 1973 verwiesen. Für die Zulässigkeit des Einspruchs reicht es aus, dass durch die Argumente ein diskutierfähiger Fall etabliert wird. S. auch T 623/18.
In T 1194/07 verwies die Kammer auf die ständige Rechtsprechung, wonach die Angabe von Tatsachen, Beweismitteln und Argumenten nicht schlüssig oder korrekt sein muss. Dies ist eine Frage der Begründetheit. Trotzdem hob die Kammer hervor, dass nur bei einem vollständigen Sachvortrag mit ausreichenden Angaben zu den relevanten Tatsachen, Beweismitteln und Argumenten sinnvoll geprüft werden kann, ob der Einspruch begründet ist. Wichtige Elemente, die einen Bezug zwischen den Entgegenhaltungen und dem Anspruch hergestellt oder die Beweiskraft der Entgegenhaltungen verdeutlicht hätten, sowie wesentliche Argumente, warum der Fachmann in Erwägung ziehen würde, die Merkmale der Entgegenhaltungen mit denen der begleitenden Beweismittel zu kombinieren, sollten in der von den Entgegenhaltungen zur Erfindung führenden Argumentationskette nicht fehlen. Das Fehlen wichtiger Fakten und Elemente in der Begründung kann zu der Feststellung führen, dass die Einspruchsschrift kaum mehr als eine Spekulation darstellte bzw. darin allenfalls ein mögliches Vorbringen gegen das Patent skizziert wurde (s. auch T 1856/11).
In T 344/88 hatte der Einsprechende zur Bezeichnung einer Patentschrift, die er dem streitigen Patent entgegenhielt, eine unzutreffende Nummer angegeben. Die Kammer untersuchte, ob es ein Verstoß gegen R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) ist, wenn der Fehler erst nach Ablauf der Einspruchsfrist berichtigt wird. Das angegebene Patent hatte keinerlei Bezug zur betreffenden Erfindung, doch enthielt die Einspruchsschrift genügend Angaben, um das tatsächlich gemeinte Patent ermitteln zu können. Die Kammer ließ daher eine Berichtigung der Nummer zu und meinte, es wäre überspitzter Formalismus, würde man angesichts eines derart ins Einzelne gehenden Tatsachenvortrags die Zulässigkeit des Einspruchs ausschließlich an der unzutreffend angegebenen Nummer der entgegengehaltenen Patentschrift scheitern lassen.
In T 426/08 war die Kammer der Ansicht, dass der Inhalt von Beweismitteln, die innerhalb der Einspruchsfrist bezeichnet, aber erst nach Ablauf der Einspruchsfrist zur Akte gegeben werden, im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung weder zur Angabe von Tatsachen oder Beweismitteln noch als Nachweis von Tatsachen berücksichtigt werden kann. Denn das wäre mit dem Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen des EPÜ betreffend das Einspruchsverfahren nicht vereinbar.
In T 1022/09 hatte die Einspruchsabteilung die Kriterien für die Zulässigkeit verspätet eingereichter Unterlagen mit den Kriterien für Dokumente verwechselt, die mit einer zulässigen Einspruchsschrift eingereicht werden und auf die in der Einspruchsschrift verwiesen wird. Nach Auffassung der Kammer waren der Inhalt und das Veröffentlichungsdatum der zusammen mit der Einspruchsschrift eingereichten Dokumente für die Frage der Zulässigkeit ohne Belang. Diese befanden sich automatisch im Einspruchsverfahren, weil ihre Einreichung begründet war.