4.11.3 Zweiseitiges Beschwerdeverfahren
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Nach Art. 12 (4) VOBK 2007 liegt es im Ermessen der Kammer, Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können. Dies gilt nach Auffassung der Beschwerdekammern umso mehr für Anträge, die im erstinstanzlichen Verfahren eingereicht und anschließend wieder zurückgenommen wurden, weil ein solches Vorgehen eindeutig zeigt, dass der betreffende Antrag im erstinstanzlichen Verfahren hätte gestellt werden können. Der Zweck der Beschwerde besteht darin, zu überprüfen, was die erste Instanz entschieden hat und, als logische Folgerung, nicht zu überprüfen, was nicht entschieden worden ist (T 528/93, T 1186/06, T 390/07, T 1587/07, T 361/08, T 340/10, T 1525/10, T 140/12, T 1689/12).
Anders als nach Rücknahme eines Antrags, der grundsätzlich – bei Zulassung durch die zuständige Abteilung oder Kammer – wieder ins Verfahren eingeführt werden kann, kann jedoch bei einem Verzicht auf einen Antrag dieser nicht neu gestellt werden (T 926/12).
In T 998/12 wies die Kammer unter anderem darauf hin, dass die Rücknahme eines Antrags als Prozesserklärung bindend und grundsätzlich unwiderruflich ist sowie die Anhängigkeit des betreffenden Antrags unmittelbar entfallen lässt. Auch wenn diese Wirkung zuvörderst für das Verfahren vor der jeweiligen Instanz gilt, so wäre es mit dem Sinn und Zweck dieses Verfahrensrechtsinstituts unvereinbar, wenn die vorgenannte Rechtswirkung im Ergebnis dadurch unterlaufen werden könnte, dass der nämliche Antrag in dem nachfolgenden Beschwerdeverfahren erneut gestellt wird. Damit wäre faktisch mittelbar eine "Rücknahme" der Rücknahme ermöglicht (s. auch T 793/13).
(i) Antrag wurde nicht zugelassen
Ein Kriterium bei der Ermessensausübung ist, ob das erstinstanzliche Organ durch die Rücknahme eines Antrags daran gehindert wurde, eine begründete Entscheidung zu kritischen Punkten zu treffen, und die Beschwerdekammer dadurch gezwungen wird, entweder erstmalig über diese Punkte zu entscheiden oder den Fall an die erste Instanz zurückzuverweisen. In T 679/09 hatte die Rücknahme der Hilfsanträge I bis IV im Einspruchsverfahren genau diesen Effekt. Zwar war es nicht unbedingt die Absicht des Beschwerdeführers, eine Entscheidung der Einspruchsabteilung zur Zulässigkeit unter anderem von Hilfsantrag III zu vermeiden, doch hatte die Rücknahme dies unweigerlich zur Folge (T 495/10, s. auch T 933/04, T 1067/08, T 935/12, T 1697/12).
In T 1525/10 stellte die Kammer fest: Um ihr Recht auf eine Überprüfung ihrer Hilfsanträge I bis III durch eine Beschwerdekammer zu wahren, hätten die Beschwerdeführer diese im Einspruchsverfahren aufrechterhalten müssen. Sowohl das EPA als auch die Benutzer des europäischen Patentsystems, die an Verfahren vor dem EPA beteiligt sind, sind zu redlichem Verhalten verpflichtet. Ein Patentinhaber, der Hilfsanträge einreicht, mit denen er den Rahmen des Einspruchsverfahrens absteckt, und diese anschließend bewusst zurückzieht, um eine für ihn ungünstige Entscheidung zu vermeiden, verstößt mit dem Versuch, diese Anträge in das Beschwerdeverfahren einzuführen, gegen diesen allgemeinen Grundsatz.
Der im Beschwerdeverfahren gestellte Antrag, der im Einspruchsverfahren durch einen anderen Antrag ersetzt worden war, weil er sonst offensichtlich gescheitert wäre und der Anmelder so eine entsprechende formelle Entscheidung verhindern wollte, wurde von der Kammer für unzulässig befunden T 390/07.
In T 691/09 wurde die verspätete Einführung eines Antrags, der während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilunge zurückgezogen worden war, als Verfahrensmissbrauch bewertet.
(ii) Antrag wurde zugelassen
In T 2599/11 ließ die Kammer den einzigen Antrag in das Beschwerdeverfahren zu, der im Einspruchsverfahren zurückgenommen worden war. Ihrer Auffassung nach lief es dem in G 9/91 und G 10/91 (ABl. 1993, 408, 420) definierten Zweck des Beschwerdeverfahrens nicht zuwider, wenn der Beschwerdeführer nach dem Widerruf seines Patents durch die Einspruchsabteilung Vorbringen und Anträge im Beschwerdeverfahren einreicht, die zu einem breiteren Wortlaut führen als die im Einspruchsverfahren verteidigten Ansprüche, sofern diese breiteren Ansprüche kein völlig neues Vorbringen darstellen. Die Kammer hatte im Hinblick auf Art. 12 (4) VOBK 2007 zu beurteilen, ob der Beschwerdeführer durch die unterlassene Einreichung des einzigen Antrags oder durch die Zurücknahme des ähnlichen Antrags A im Einspruchsverfahren die Einspruchsabteilung an einer begründeten Entscheidung zu den kritischen Fragen gehindert hat. Die Kammer verwies auf T 361/08, wonach es nicht das Recht des Patentinhabers ist, im Beschwerdeverfahren auf erteilte Ansprüche zurückzugreifen, wenn diese nicht der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen, weil der entsprechende Antrag im Verfahren vor der ersten Instanz zurückgenommen wurde. In der vorliegenden Sache kam die Kammer zu dem Schluss, dass die kritischen Fragen im Einspruchs- und im Beschwerdeverfahren insofern identisch waren, als zu klären war, ob der beanspruchte Gegenstand erfinderisch ist. Der einzige Antrag des Beschwerdeführers stellte daher kein völlig neues Vorbringen dar und wurde in das Verfahren zugelassen (s. auch T 467/13).
In T 937/11 war der Hauptantrag identisch mit dem im Einspruchsverfahren zurückgenommenen Hilfsantrag 1. Die Kammer erklärte, dass die Umstände des vorliegenden Falls von der Situation zu unterscheiden seien, die den Entscheidungen T 1525/10 und T 390/07 zugrunde lag (s. oben). Die Begründung der Einspruchsabteilung für die Zurückweisung des Hauptantrags habe analog auch für die Ansprüche des Hilfsantrags 1 gegolten, sodass der Beschwerdeführer mit der Zurücknahme des Hilfsantrags 1 eine Entscheidung über den Einspruchsgrund nicht umgangen habe. Außerdem habe er die Gegenparteien im Beschwerdeverfahren weder überrascht noch benachteiligt, als er den zurückgenommenen Hilfsantrag 1 zum Hauptantrag vor der Kammer gemacht habe.
In T 883/12 war der Antrag dem zurückgenommenen Antrag sehr ähnlich. Der Patentinhaber hatte überzeugend argumentiert, warum es durchaus sinnvoll gewesen sei, einige der Hilfsanträge vor der Einspruchsabteilung zurückzunehmen, ohne dass über sie entschieden worden sei: die Einspruchsabteilung habe in Bezug auf einen höherrangigen Antrag befunden, dass zur Bejahung der erfinderischen Tätigkeit ein bestimmtes Merkmal erforderlich sei; dieses sei jedoch in den Ansprüchen der zurückgenommenen Hilfsanträge nicht enthalten gewesen. Die Kammer befand, dass es sich bei dem vorliegenden Antrag nicht um einen Antrag handelte, der vernünftigerweise im erstinstanzlichen Verfahren hätte eingereicht werden können (der also sowohl hätte eingereicht als auch aufrechterhalten werden können, sodass die erstinstanzliche Abteilung darüber hätte entscheiden können).
- T 1695/14
- Die Rücknahme eines Antrags kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen. Eine konkludente Antragsrücknahme liegt vor, wenn sich aus den Umständen zweifelsfrei ergibt, dass bestimmte Anträge nicht weiterverfolgt werden sollen.
- Werden Anträge, die im Beschwerdeverfahren zunächst gestellt und nachfolgend ausdrücklich oder konkludent zurückgenommen worden waren, später erneut eingereicht (wieder aufgegriffen), richtet sich ihre Zulassung nach den verfahrensrechtlichen Normen der VOBK, die für die Zulassung eines gänzlich neuen Antrags maßgeblich sind.
- T 52/15
Filing of a series of main requests resulting in each new main request being considered as replacing the previously filed main request. Procedural steps preventing the department of first instance from deciding on relevant issues. (See points 1.1-2.11 of the reasoning)
- Rechtsprechung 2019
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In T 52/15 reichte der Patentinhaber (Beschwerdeführer) immer dann einen neuen "Hauptantrag" ein, wenn die Einspruchsabteilung mitteilte, dass der vorherige Hauptantrag nicht den Erfordernissen des EPÜ entspreche. Weil die Einspruchsabteilung der Auffassung war, dass der letzte Hauptantrag nicht den Erfordernissen von Art. 56 EPÜ entsprach, widerrief sie das Patent. In der angefochtenen Entscheidung ging es nur um diesen zuletzt eingereichten Hauptantrag. Der Patentinhaber beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung oder auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 bis 4, die sich erheblich von dem Antrag unterschieden, über den in der angefochtenen Entscheidung entschieden worden war. Der Patentinhaber argumentierte, dass die zuvor eingereichten Hauptanträge nicht zurückgenommen worden seien. Jeder neue Antrag sollte nur für Diskussionszwecke an die Stelle des vorherigen treten, diesen aber nicht ersetzen. Die Kammer stellte fest, dass die Einspruchsabteilung zu Recht davon ausgegangen war, dass jeder neu eingereichte "Hauptantrag" eindeutig den bzw. die zuvor eingereichten ersetzen sollte. Die Kammer betonte, dass die Zurücknahme eines Antrags ein ernstzunehmender Verfahrensschritt ist, der von den Beteiligten normalerweise ausdrücklich erklärt wird und der im Protokoll erwähnt werden muss (s. T 361/08). Allerdings erübrigt sich eine ausdrückliche Zurücknahme, wenn das Verhalten eines Beteiligten oder die von ihm im Verfahren eingeleiteten Schritte unmissverständlich sind (s. T 388/12). Die Kammer unterstrich außerdem, dass Beteiligte, die mehr als einen Antrag einreichen, nach ständiger Praxis des EPA Hauptantrag und Hilfsanträge klar bezeichnen müssen und bei mehreren Hilfsanträgen deren Rangfolge anzugeben haben (s. z. B. R 14/10). Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die schriftliche Entscheidung der Einspruchsabteilung auf den Antrag gestützt war, der als einziger anhängig war, als die Widerrufsentscheidung mündlich verkündet wurde. Der Hauptantrag sowie die Hilfsanträge 1 und 2 wurden zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht und entsprachen dem ursprünglichen Antrag des Patentinhabers und zwei in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsanträgen. Diese Anträge unterschieden sich erheblich von dem Antrag, über den in der angefochtenen Entscheidung entschieden worden war. Die Kammer stellte fest, dass die Wiedereinführung zuvor zurückgenommener Anträge im Beschwerdeverfahren dem Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens zuwiderläuft, nämlich der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten. Es gibt zwar Entscheidungen, in denen die Kammern den Patentinhabern erlaubten, breitere, im Einspruchsverfahren zurückgenommene oder nicht aufrecht erhaltene Anträge wieder ins Verfahren einzuführen, doch sind auch zahlreiche Entscheidungen ergangen, in denen die Kammern ihr Ermessen streng ausgeübt und solche Anträge nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen haben (s. T 390/07, T 361/08, T 671/08, T 922/08, T 1525/10, T 140/12, T 1697/12, T 143/14). Anscheinend ist dies der derzeit vorherrschende Ansatz der Kammern. Die Anträge wurden nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen (Art. 12 (4) VOBK 2007).
In T 1695/14 entsprach der betreffende vom Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Hilfsantrag einem der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge. Diesen ursprünglichen Hilfsantrag hatte der Patentinhaber im Verlauf des schriftlichen Verfahrens jedoch nicht weiterverfolgt und mit einem Schriftsatz neue Hilfsanträge eingereicht. Aus diesem Schriftsatz ging hervor, dass der Patentinhaber seine bisherigen Anträge durch die neu eingereichten Anträge ersetzen wollte. Die Kammer legte diese Erklärung des Patentinhabers als konkludente Rücknahme des Hilfsantrags aus. Eine Rücknahme eines Antrags kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen. Eine konkludente Antragsrücknahme liegt dann vor, wenn sich aus den Umständen zweifelsfrei ergibt, dass bestimmte Anträge nicht weiterverfolgt werden sollen (vgl. T 388/12, T 52/15). Frühere Anträge, die nicht als Haupt- oder Hilfsantrag weiterverfolgt, sondern (konkludent) zurückgenommen wurden, verbleiben nicht im Verfahren, denn das Verfahrensrecht kennt geltende oder zurückgenommene Anträge, nicht aber ruhende Anträge. Die Kammer befasste sich dann mit den maßgeblichen Zulassungskriterien für einen wiederaufgegriffenen Antrag. Da ein zurückgenommener Antrag nicht mehr Gegenstand des Verfahrens ist (vgl. T 1732/10, T 143/14), ist seine Zulassung, wenn er in einem späteren Verfahrensstadium erneut gestellt wird, den gleichen verfahrensrechtlichen Normen unterworfen, wie ein gänzlich neuer Antrag (s. T 1732/10, T 122/10). Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern. Dementsprechend ist auch ein Antrag, der im Verlauf des Beschwerdeverfahrens zunächst gestellt, später aber explizit oder konkludent zurückgenommen wurde, als neuer Antrag einzuordnen, wenn er später erneut gestellt wird. Seine Zulassung richtet sich dann insbesondere nach den Regelungen in Art. 13 VOBK 2007 und den dazu von der Rechtsprechung entwickelten Ermessenskriterien.