4.13.4 Verfahrensmissbrauch
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In einigen Fällen berücksichtigten die Beschwerdekammern das verspätete Vorbringen wegen Verfahrensmissbrauchs nicht.
In T 951/91 (ABl. 1995, 202) lehnte die Kammer die Berücksichtigung der verspätet vorgebrachten Beweismittel noch vor ihrer tatsächlichen Vorlage ab und wies darauf hin, der Ermessensspielraum der Organe des EPA nach Art. 114 (2) EPÜ 1973 solle gewährleisten, dass Verfahren im Interesse der Beteiligten, der breiten Öffentlichkeit wie auch des EPA rasch zum Abschluss gebracht werden können, und taktische Missbräuche verhindern. Die Beteiligten müssten die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass verspätet eingereichte Unterlagen unberücksichtigt blieben, und müssten ihr Bestes tun, um die für die Sache relevanten Tatsachen, Beweismittel und Argumente so frühzeitig und vollständig wie möglich vorzulegen. In der vorliegenden Sache sah die Kammer die vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) rund zwanzig Monate nach Einreichung der Beschwerdebegründung angekündigte Vorlage weiterer neuer Versuchsdaten als Missbrauch des Verfahrens an.
In T 496/89 stellte die Kammer fest, dass die verspätete Einreichung von Schriftstücken und anderen Unterlagen im Beschwerdeverfahren nicht nur den Interessen der Öffentlichkeit schadet und zuwiderläuft, sondern ganz abgesehen davon auch dem anderen Beteiligten gegenüber unfair ist. Wenn eine Partei Unterlagen absichtlich verspätet einreiche und die andere Partei dadurch zu überrumpeln versuche, verstoße dies ebenso gegen den Geist und die Zwecke des Übereinkommens, wie wenn sie es versehentlich versäume, Argumente und die zu ihrer Stützung erforderlichen Beweismittel einzureichen (s. auch T 430/89, T 270/90, T 741/91, T 135/98).
In T 718/98 entschied die Kammer, dass in einem sehr späten Verfahrensstadium vorgebrachte Beweismittel, die wesentlich früher hätten vorgelegt werden können und als strategisches Mittel dienten, um die eigene Verfahrensposition gegenüber der Gegenpartei zu stärken, einem Verfahrensmissbrauch gleichkämen und daher unabhängig von ihrer Relevanz für den Fall nicht zu berücksichtigen seien (s. dazu T 169/04).
Im Fall T 446/00 charakterisierte die Kammer verschiedene Verhaltensweisen als Verfahrensmissbrauch. Sie bezeichnete es als Verfahrensmissbrauch, wenn ein Beteiligter einer Verfahrensanweisung der Kammer, einen bestimmten oder mehrere bestimmte Schritte zu unternehmen, nicht folgt. Ein Verfahrensmissbrauch liegt auch vor, wenn ein Beteiligter zunächst eine eindeutige Haltung in einer Sache vertritt und dann ohne Erklärung von dieser Position abrückt. Dies gilt insbesondere für streitige mehrseitige Verfahren, bei denen ein anderer Beteiligter berechtigt ist, sich auf eine solche Position als Bestandteil der Sache zu verlassen, der er zu begegnen hat (s. auch T 762/07).
In T 215/03 wollte der Beschwerdeführer (Einsprechende) sich auf ein Dokument (D24) stützen, das er etwa ein Jahr nach Beginn des Beschwerdeverfahrens zusammen mit 25 anderen Dokumenten (insgesamt ca. 450 Seiten Fachliteratur) eingereicht hatte. Die Kammer stellte fest, dass das verspätete Vorbringen der Beweise unter den vorliegenden Umständen nicht gerechtfertigt sei. Die Gegenpartei und die Kammer in einem so späten Verfahrensstadium regelrecht mit einer Papierflut zu überschwemmen, stelle einen Verfahrensmissbrauch dar. Die Kammer beschloss, diese Beweise ganz unabhängig von ihrer möglichen technischen Relevanz nicht zum Verfahren zuzulassen.