Erfindung: Künstliche Spinnenseide
Aus mehr als 300 Millionen Jahren Evolution ist eines der widerstandsfähigsten Materialien hervorgegangen, die es auf der Erde gibt: die Seidenfasern eines Spinnennetzes. Dem deutschen Chemiker Thomas Scheibel ist es zu verdanken, dass Spinnenseide nun endlich in Massenfertigung hergestellt und damit zu einer industriellen Faser der Zukunft avancieren kann. Die Entwicklung eines Verfahrens zur Fertigung biotechnologisch hergestellter Spinnenseide in industriellem Maßstab, das von dem deutschen Start-up-Unternehmen AMSilk eingesetzt wird, eröffnet neue Möglichkeiten für die Textilbranche, für Kosmetika und Medizin.
Spinnennetze
zählen zu den robustesten Strukturen, die die Natur hervorgebracht hat. Leicht
sind sie und fast unsichtbar, und dank der unglaublichen Widerstandskraft der
Spinnenseide können sie auf bis zu 140 Prozent ihrer Länge gedehnt werden,
ohne zu reißen. Spinnenseide ist tatsächlich fünfmal fester als Stahl und
dreimal so fest wie die in schusssicheren Westen verwendete Faser Kevlar®.
Weder in der Wissenschaft noch in der chemischen Industrie war es bislang gelungen, Spinnenseide in einem für die großmaßstäbliche Produktion tauglichen Verfahren herzustellen. Im Gegensatz zur traditionellen Seide, die von Seidenraupen in großen Mengen produziert wird, stellen Spinnen nur kleine Mengen ihrer robusten Fäden her. Außerdem eignen sich Spinnen aufgrund ihrer kannibalischen Verhaltensweisen und ihres Territorialverhaltens nicht für die Haltung auf Seidenfarmen.
Um dieses Problem zu überwinden, entschloss sich der deutsche Biochemiker Thomas Scheibel dazu, die Spinnen aus der Gleichung herauszunehmen: Sein patentiertes Verfahren beruht auf dem Einsatz gentechnisch veränderter E.coli-Bakterien. Diese werden genetisch so umprogrammiert, dass sie Spinnenseidenproteine produzieren. In einem komplexen mechanischen Verfahren, an dessen Perfektionierung über Jahre hinweg gefeilt wurde, werden diese Eiweiße dann zu ultrafester Spinnenseide "versponnen".
Scheibels Spinnenseide wurde 2014 von dem Münchner Start-up-Unternehmen AMSilk auf den Markt gebracht und steht nun in ausreichenden Mengen für industrielle Anwendungen auf verschiedenen Gebieten zur Verfügung, angefangen von bioverträglichen medizinischen Implantaten über besonders leichte Sportschuhe bis hin zu atmungsaktivem Nagellack.
Gesellschaftlicher Nutzen
Die Erfindung macht es möglich, die Märkte mit großen Mengen eines neuen "Supermaterials" zu versorgen. Das Vermögen der Spinnenseide, Kräften von 4,5 Gigapascal (GPa) standzuhalten, übertrifft bei Weitem die Widerstandskraft von Bambus (1 GPa), menschlichem Zahnschmelz (0,5 GPa) oder Holz (0,3 GPa). Ein Faden Spinnenseide, der lang genug ist, um die ganze Erde damit zu umwickeln, würde mittlerweile weniger wiegen als ein Stück Seife. Das Material wird auch zur Beschichtung medizinischer Implantate eingesetzt, da es biokompatibel ist und daher nur ein geringes Risiko birgt, körperliche Abwehrmechanismen auszulösen.
Scheibels Verfahren kommt völlig ohne Tiere aus. Konventionelle Seide wird aus den Kokons der Seidenraupe gewonnen. Dabei müssen zur Herstellung eines einzigen Seidenkleids unter Umständen über 50 000 Seidenraupen ihr Leben lassen. Bei anderen Ansätzen zur Gewinnung von Spinnenseide kommen noch immer Tiere zum Einsatz: So spinnen "transgene" Seidenraupen Kokons, die Spinnenseide enthalten, und es gibt genmanipulierte Ziegen, die Seidenproteine produzieren, die in ihrer Milch enthalten sind.
Economic benefit
Um seine patentierte Erfindung im industriellen Maßstab zur Anwendung bringen zu können, gründete Scheibel 2008 das Unternehmen AMSilk mit. Es handelt sich um eine Ausgründung der Technischen Universität München (TUM) mit Sitz in Planegg-Martinsried in unmittelbarer Nähe von München. Mehrheitsgesellschafterin ist die AT Newtec GmbH, die TMU ist Minderheitsgesellschafterin; bislang stellten die Investoren Wagniskapital in Millionenhöhe zur Verfügung, und das Unternehmen beschäftigt etwa 30 Mitarbeiter .
AMSilk verkauft Stoffe aus hochreinen Seidenproteinen, die es in drei Produktlinien herstellt: erstens Inhaltsstoffe für kosmetische Produkte, einschließlich atmungsaktiver "Seidengels" und Kapseln mit "Seidenperlen" mit kontrollierter Wirkstoffabgabe für Gels oder Cremes etc., zweitens Stoffe für medizinische Produkte wie beispielsweise Beschichtungen für medizinische Implantate, und drittens eine biologisch abbaubare Hochleistungsfaser, die unter der Bezeichnung "Biosteel" vermarktet wird und etwa 15 % leichter ist als herkömmliche synthetische Fasern.
Im Frühjahr 2017 brachte AMSilk einen atmungsaktiven Nagellack auf Wasserbasis heraus. Dieser wird in Lizenz von Ocean Pharma vermarktet. Bereits ein Jahr zuvor hatte Adidas den Prototyp eines Sportschuhs mit der Faser entwickelt, und für medizinische Implantate, die mit Spinnenseide beschichtet sind, laufen in Europa gerade klinische Prüfungen beim Implantathersteller Polytech.
Scheibels synthetische Fasern machen sich auf dem globalen Markt für Biopolymere bereits deutlich bemerkbar. Dieser Markt generierte im Jahr 2015 mehr als 5,6 Mrd. Einnahmen. 39 % des Umsatzes entfielen auf Europa, und zwar überwiegend auf Verpackungen aus Biokunststoffen. Aber auch auf den Weltmarkt für traditionelle Seide, dem bis 2021 ein Wachstum auf knapp 14 Mrd. EUR prognostiziert wird, könnte die Erfindung sich spürbar auswirken.