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In den Entwicklungsländern könnten Millionen von selbst anpassbaren Brillengläsern profitieren

Nahezu 160 Millionen Menschen leiden allein in den am wenigsten entwickelten Ländern der Erde unter Sehbehinderungen, die durch so genannte "Brechungsfehler" verursacht sind, so eine von der WHO Anfang 2009 veröffentlichte Studie. Rund 9 Millionen davon gelten durch die Folgen ihrer Fehlsichtigkeit inzwischen sogar als blind - und das, obwohl die ursächlichen Sehschwächen eigentlich ganz einfach mit einer Brille korrigiert werden können, denn im Wesentlichen machen Kurz- und Weitsichtigkeit diesen Menschen zu schaffen.

Der Produktivitätsverlust durch unkorrigierte Brechungsfehler liegt, allein in diesen Ländern,  bei jährlich insgesamt 269 Milliarden Euro, lautet ein weiteres Ergebnis der Studie. Für die am härtesten betroffenen Regionen in den West-Pazifik-Staaten bedeutet  das einen Verlust von fast der Hälfte ihrer möglichen Produktivität.

Denn verantwortlich sind dafür vor allem Einschränkungen bei bestimmten Tätigkeiten: Arbeiten im Nahbereich werden etwa ab dem vierzigsten Lebensjahr bei allen Menschen schwieriger, obwohl die produktivsten Jahre des Arbeitslebens da eigentlich erst beginnen. Ebenso sind filigrane Arbeiten mit feinen Instrumenten bei Sehbehinderungen  kaum durchführbar. Fachleute gehen überdies davon aus, dass angesichts der zunehmenden Verstädterung die Probleme durch die fortschreitende Fehlsichtigkeit sogar noch weiter zunehmen.

Diesen Problemen hat Joshua Silver, ein emeritierter Atom-Physiker und Erfinder, seit Mitte der 90er Jahre mit der Entwicklung regulierbarer Brillengläser den Kampf angesagt.

Geringe Ursache, weitereichende Folgen, einfache Lösung

Neben den Einbußen bei der Produktivität und den allgemeinen Einschränkungen der Lebensqualität können die Folgen korrigierbarer Fehlsichtigkeit sogar lebensbedrohlich werden: Schlechtes Sehvermögen verursacht häufige Unfälle bei der Arbeit, im Haushalt und im Verkehr. Auch bleiben viele Bildungschancen aufgrund von Refraktionsfehlern ungenutzt. So gibt es deutliche Hinweise, dass Menschen mit Sehschwäche selbst dann das Lesen nicht lernen, wenn es entsprechende Bildungsangebote gibt.

Neben Armut und mangelnder Aufklärung spielen in diesem Problemfeld die Optiker eine überraschend zentrale Rolle: Während es in europäischen Staaten nur ein paar Tausend Einwohner pro Augenoptiker (GB: 8 000, GER: 7 000) sind, kommen in Ghana rund 1 000 000 Bürger auf einen Optiker - dort müsste man rein statistisch also etwa 200 Jahre auf den ersten Termin warten -, in Mali sind es sogar 8 000 000 Menschen pro Optiker.

Auch diesen Missständen könnte Joshua Silvers Erfindung Abhilfe schaffen. Seine "selbst einstellbaren Brillengläser" sind deshalb für den European Inventor Award 2011, in der Kategorie "Forschung" nominiert, der am 19. Mai in Budapest verliehen wird.

Plastik und ein bisschen Flüssigkeit

Das Besondere an Silvers Erfindung ist, dass die Stärke jedes Brillenglases auf der Basis eines einfachen Tests durch den Träger selbst eingestellt werden kann, also kein Optiker zur Anpassung notwendig ist. Dafür macht sich der Erfinder, der inzwischen Direktor des "Centre for Vision in the Developing World" ist, ein einfaches Verfahren zunutze, das dem Vorbild der menschlichen Linse folgt. "Im Wesentlichen haben wir hier eine Kammer mit ein bisschen Flüssigkeit zwischen zwei Plastik-Membranen," erklärt er das Prinzip. "Wenn Sie nun dieses Rädchen nach vorne drehen, drücken Sie mehr Flüssigkeit in die Kammer, die Oberfläche wölbt sich nach außen und Sie bekommen Plusgläser, wie Weitsichtige sie benötigen. Wenn Sie in der anderen Richtung drehen, geschieht das Gegenteil, und Sie bekommen Minusgläser, die Kurzsichtige benötigen."

Durch diese einfache Bauweise sind die Kosten für eine Sehhilfe auf derzeit nur 19 Dollar pro Stück gesunken. Silvers Ziel ist es, die Stückkosten durch Mengeneffekte auf etwa 1 Dollar zu senken. Zum Vergleich: Die Kosten für einen Sehtest und Brille mit entsprechenden Gläsern lagen in den USA im Jahr 2000 bei geschätzten 139 Dollar.

"Meine Erfindung sollte jedem zugute kommen," erklärt Silver seine Intension, "ganz speziell den Menschen in den Entwicklungsländer, die Sehhilfen benötigen, aber keine haben." Inzwischen tragen in 24 Ländern bereits rund 40 000 Menschen eine von Silvers Brillen.

Die immer ähnliche Reaktion auf die unmittelbar verbesserte Sehkraft der neuen Brillenbesitzer in den Entwicklungsländern beschreibt Kevin White, der im Rahmen eines humanitären Programms der USA die Verteilung Tausender Paare organisiert hat: "Die Menschen setzen sie auf und fangen plötzlich an zu lächeln. Und dann sagen sie 'Das ist ja toll, ich kann plötzlich all diese winzigen Buchstaben lesen!'"

Die Patente auf seine Erfindungen spielen für Silver nicht nur eine große Rolle bei der Qualitätssicherung seiner Produkte, sondern auch in der Gewährleistung seiner humanitären Mission. "Ein Risikokapitalgeber rief mich in meinem Büro an," erzählt er, "und meinte, ich dürfe meine Erfindung nicht in Afrika verwenden, sie müsse in Palo Alto, Kalifornien oder an ähnlichen Orten eingesetzt werden. Als ich mich seiner Meinung nicht anschloss, fing er sogar an, mich wütend anzuschreien." Patente verhinderten, dass seine Entwicklungen nicht in seinem Sinne eingesetzt würden.

Verbesserungen seit fast 3 000 Jahren

Die Brille gilt als eine der fünf wichtigsten Schlüsselerfindungen der Menschheit. Ihre Entwicklung begründete bereits im Mittelalter die spätere weltweite Überlegenheit Europas, meint unter anderem der US-amerikanische Wirtschaftshistoriker David S. Landes: "Europa erfreute sich eines Monopols an Korrektionslinsen für 300 bis 400 Jahre. Dadurch verdoppelte es das ausgebildete Fachkräftepotenzial, ja mehr als verdoppelte es, rechnet man den Wert der Erfahrung mit ein."

Dabei findet sich eine der ersten Erwähnungen von Vergrößerungsgläsern in ägyptischen Hieroglyphen aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Erst rund 2 000 Jahre später, am Ende des 13. Jahrhunderts, wurde in der Toskana mit der Lesebrille, die man auf die Nase setzte, die Sehhilfe für beide Augen erfunden. Und noch im frühen 17. Jahrhundert betonte Rene Descartes den Wert des Sehsinns und der ihn unterstützender Erfindungen: „Unsere gesamte Lebensführung hängt ab von unseren Sinnen, und die Tatsache, dass das Sehen der umfassendste und prächtigste von ihnen ist, lässt keinen Zweifel daran, dass alle Erfindungen, die der Erweiterung seiner Kraft dienen, zu den nützlichsten gehören, die es gibt."